Niemand leidet mehr als die Kinder
Sie werden als menschliche Schutzschilde missbraucht, müssen ihr Zuhause verlassen, werden schwer traumatisiert: Die ersten Verlierer des Konflikts zwischen Israel und der Hamas sind die Kinder.
Es sind die Kinder im Gaza-Streifen, die dort in engen Grenzen leben. Ihre Existenz spielt sich in dem 40 Kilometer langen und etwa 10 Kilometer breiten Landstück am Mittelmeer ab. Die meisten von ihnen kennen kein anderes Land als dieses. Alltäglich laufen sie in Schuluniformen durch die Straßen. Doch auch dieses letzte Stück Freiheit ist im Krieg verloren. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als mit den Familien zu Hause auszuharren und zu hoffen, dass die Granaten der israelischen Luftwaffe oder Marine nicht bei ihnen einschlagen.
Der palästinensische Schriftsteller Rashid Shahin schreibt dieser Tage in seinem Artikel "Guten Morgen, Gaza", dass hier, in Gaza, kein Morgen mehr gut sein kann. In Gaza würden die Körper von Kindern in Stücke zerrissen und Mütter verlören ihre Babies. "Viva Gaza" könne man da am Morgen nur noch sagen, oder "Lang lebe Gaza". Der wahre Kern seiner Zeilen: Niemand leidet mehr unter diesem Krieg als die Kinder – ob sie nun von der Hamas als menschliche Schutzschilde missbraucht werden oder ob sie aus anderen Gründen betroffen sind.
Das Trauma der Angriffe gräbt sich die tief in die Seelen
Tausende Kinder mussten aus ihren Häusern im Norden des Landstreifens fliehen, nachdem die israelische Luftwaffe ihre Angriffe durch Flugblätter und Anrufe angekündigt hatte. Viele verloren ihr Zuhause, können vor Angst nachts nicht schlafen, und wenn sie doch einnicken, hinterlassen sie morgens Urin-nasse Laken. Das Trauma der Angriffe, tagsüber und in der Nacht, gräbt sich tief in ihre Seelen ein. Die psychischen Schäden bleiben ein Leben lang.
Auf der anderen Seite, in Israel, sind die Kinder ebenso die ersten Verlierer. In Jerusalem wurden Kinder auf dem Spielplatz von einem Raketenangriff überrascht. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Hamas wirklich ganz Israel angreifen würde – auch die ihr selbst so heilige Stadt. Die Kinder sahen, wie ein Geschoss des israelischen Abwehrsystems "Eiserne Kuppel" eine Rakete aus Gaza in der Luft zertrümmerte. Danach baten sie ihre Großeltern, in der nächsten Nacht nicht im Schlafzimmer im obersten Stockwerk, sondern im Wohnzimmer, im Erdgeschoss zu schlafen. Trotz des Raketenabwehrsystems bleibt ein Gefühl der Ohnmacht, auch weil kiloschwere Eisenteile der abgeschossenen Raketen vom Himmel fallen
Die Patienten im Krankenhaus schaffen es nicht rechtzeitig in den Keller
Wer schwach ist und auf Hilfe angewiesen, der leidet in diesen Tagen um so mehr. Schwangere Frauen suchen für die Geburt einen Ort der Sicherheit und Geborgenheit. Eine hoch Schwangere leidet unter dem Ton der Alarmsirenen. Ihr Vater, ein Deutscher, liest ihr aus den Verhaltensregeln vor, die die deutsche Botschaft verschickt hat. Man solle sich, wenn der Alarm im freien Feld komme, auf den Bauch legen und die Hände schützend auf den Kopf legen, so der Ratschlag. Die Schwangere fragt sich nur, wie sie sich auf den Bauch legen soll. Und sie vermisst ihren Arzt, der ihr Kind zur Welt bringen soll. Der wurde von der israelischen Armee eingezogen.
Besonders leiden auf beiden Seiten Menschen in existentiellen Situationen: In Gaza leidet die Braut, die ihren Mann heiratete und ihn eine Woche später bei einem Angriff der israelischen Luftwaffe verlor. Es leiden die Patienten im Krankenhaus, die es bei Luftalarm nicht in 90 Sekunden in den Keller schaffen oder keinen Schutzraum haben. Hier wie dort leiden alle, die ihre Toten zu Grabe tragen wollen, aber nicht einmal das ungestört tun können.
In Gaza leiden Geschäftsleute. Ihre Fabriken, Werkstätten und Läden müssen geschlossen bleiben. Viele wurden selbst getroffen, bei dieser Offensive Israels oder einer früheren. Sie haben nach jedem Krieg wieder bei Null angefangen. Wirtschaftlicher Erfolg, den sie sich immer wieder mühsam erkämpfen, wird wieder zunichte gemacht. Im sonst lebendigen Tel Aviv sind die Straßen leerer, und die immer vollen Cafés beklagen, dass die Gäste fehlen.