"Es ist legitim geworden zu hassen"
Der israelische Publizist Tom Segev warnt vor einer weiteren Verschärfung der Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern. Schon seit Jahren beobachte er mit wachsender Sorge, "dass es in beiden Gesellschaften sehr legitim geworden ist zu hassen", sagte Segev im Interview des Tages.
Dieter Kassel: Seit dem letzten Gazakrieg vor knapp zwei Jahren hat es keine so heftigen Angriffe aus dem Gazastreifen auf Ziele in Israel und auch keine so heftigen Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Ziele im Gazastreifen mehr gegeben. Mit einem Hauch von Zynismus könnte man aber fast sagen, ja, das sind die Menschen in Israel aber leider gewohnt – ich hab's ja gerade gesagt, der Gazakrieg, der letzte, ist nicht einmal zwei Jahre her. Aber kann es wirklich sein, dass sich eine Gesellschaft durch diese permanente Bedrohung nicht irgendwie verändert? Und wie verändert sie sich, wie hat sie sich verändert? Darüber wollen wir jetzt mit dem israelischen Historiker und Publizisten Tom Segev reden. Herr Segev, schönen guten Morgen nach Jerusalem!
Tom Segev: Guten Morgen Ihnen auch!
Kassel: Trotz der Erkenntnisse der vergangenen Nacht hab ich immer noch dieses Bild in meiner Phantasie, Herr Segev: Ein 16-jähriger unschuldiger Junge wird in den Wald gezerrt, mit Benzin überschüttet und bei lebendigem Leib verbrannt. Was ist das für eine Gesellschaft, in der so was möglich ist?
"Vor 40 Jahren hätte ich gesagt, 2014 ist Frieden im Nahen Osten"
Segev: Na ja, das ist erst mal eine Reaktion auf den Mord an drei ähnlich alten Jungs, israelischen Jungs, die von Arabern ermordet wurden. Also das ist eine Gesellschaft, die heute sicher anders ist, als früher und viel realistischer der Realität gegenübersteht, viel weniger mythologisch, viel weniger hoffnungsvoll auch. Die beiden Gesellschaften, sowohl die palästinensische als die israelische auch, haben eigentlich die Hoffnung für Frieden aufgegeben. Das ist das eine.
Das andere ist, dass es in beiden Gesellschaften sehr legitim geworden ist zu hassen. Als ich, sagen wir, aufgewachsen bin, oder wenn Sie mich jetzt vor 40 Jahren interviewt hätten, dann würde ich Ihnen gesagt haben, ja, natürlich ist Frieden im Jahre 2014. Ich bin auch aufgewachsen in einer Gesellschaft, die sich von sich selber behauptet hat, dass sie nicht hasst, dass es keinen Rassismus gibt, dass das Dinge sind, die von anderen betrieben werden, aber wir hassen nicht. Und in den letzten Jahren ist eine Generation aufgewachsen, die sehr realistisch ist. Sie guckt auf meine Generation und sagt, tja, seit 40 Jahren redet ihr Frieden, aber wo ist der Frieden? Und die haben eigentlich die Hoffnung auf Frieden aufgegeben.
Kassel: Heißt das, dass gerade auch bei den jüngeren Menschen in Israel die Radikalisierung zugenommen hat?
"Es gibt Rassismus, Hass und vor allen Dingen Verzweiflung"
Segev: Die Radikalisierung hat zugenommen und auch die Spaltung. Also Israel ist eine viel tiefer gespaltene Gesellschaft geworden, als sie noch früher war. Wir sind alle aufgewachsen unter der Idee, dass wir irgendwie ein Volk, eine Gesellschaft werden, dass es viel mehr Dinge gibt, die uns zusammenhalten als umgekehrt. Und es ist so, dass es eine sehr, sehr tief gespaltene Gesellschaft ist, und deshalb können Sie natürlich auch alles finden.
Sie können eine große Friedenskonferenz finden, die gestern von der Zeitung "Haaretz" in Tel Aviv veranstaltet worden ist, mit einem Artikel im "Haaretz", den niemand anders als der Präsident Obama geschrieben hat, und alles glaubt an Frieden, aber ich glaube, dass die meisten Israelis nicht mehr daran glauben. Es gibt sehr viel Radikalisierung und es gibt sehr viel Rechtsextremismus. Es gibt Rassismus, es gibt Hass, und es gibt vor allen Dingen Verzweiflung. Es gibt sehr viel ...
Kassel: Entschuldigung Sie, Herr Segev, aber was tun die, die verzweifelt sind, sich aber nicht radikalisieren lassen wollen, sich nicht dem Hass ergeben wollen – gehen die einfach weg?
"Eine ganze Gesellschaft, die sich sagt, wir wollen von Politik nichts wissen"
Segev: Die saßen gestern in dem Schutzkeller und guckten den Fußball an. Also es gibt eine Erscheinung in Israel, die Leute entfernen sich von der Politik, sie wollen nichts mehr wissen von der Politik, was natürlich auch ungeheuer gefährlich ist für die Demokratie, weil die Demokratie etwas ist, was ständig gepflegt werden muss.
Und wenn eine ganze Gesellschaft sich sagt, Politik ist nichts Richtiges, wir wollen davon nichts wissen, wir wollen davon nichts hören. Dann wollen sie auch nichts hören von dem Konflikt, dann wollen sie auch nichts hören von der Unterdrückung der Palästinenser, dann sitzen sie und warten, dass die palästinensischen Raketen irgendwo anders fallen, und gucken Fußball.
Kassel: Herr Segev, täuscht denn mein Eindruck, ich wollte darauf zurückkommen, und nicht manche jungen Menschen auch sagen, ich hab in Israel keine Zukunft, ich suche sie mir woanders, ganz konkret in Berlin. Wenn ich durch gewisse Viertel gehe, da sind viele junge Israelis, ist das nicht auch ein Problem langsam?
Leben unter einem Vulkan
Segev: Ja, von Berlin aus sieht das so aus. Aber das Interessante ist, dass die meisten Israelis das Land nicht verlassen, auch junge. Also es gibt schon vielleicht 20-, vielleicht 30.000 Israelis, die in Berlin für eine Weile leben, aber es gibt keine Massenauswanderung, was interessant ist, weil ich hab schon mehrmals mich darüber unterhalten mit meinem Sohn, der ist jetzt 30 und hat zwei kleine Kinder, und wir waren sogar vor ein paar Monaten in Berlin. Da hab ich ihm gesagt, ja (Anmerkung der Redaktion: Name nicht verständlich) guck mal, willst du nicht vielleicht in einem anderen Land leben – der ist Elektronikingenieur und kann sicher auch in einem anderen Land leben. Und er hat gesagt, nein, er will in keinem anderen Land leben, weil er auf keinen Fall Emigrant sein will. Also, da lebt er lieber in Tel Aviv.
Gestern Nacht ist er zweimal ins Treppenhaus gegangen, weil zweimal die Sirenen waren von den Raketen. Dann nimmt er die kleinen Kinder und setzt sich für ein paar Minuten ins Treppenhaus und wartet, bis die Rakete woanders fällt, und dann leben wir weiter. Und das ist ein bisschen wie eine Gesellschaft, die unter einem Vulkan lebt irgendwo, und sie ziehen aber nicht aus, sie bleiben dort, weil sie sich dort zu Hause fühlen, auch wenn es möglich wäre, in einem anderen Land zu leben, die meisten Israelis. Es gibt heute keine große Welle von Auswanderung.
Kassel: Herr Segev, Sie haben vorhin gesagt, wenn ich vor 40 Jahren mit Ihnen gesprochen hätte, hätten Sie möglicherweise gesagt, 2014 haben wir Frieden im Nahen Osten. Wenn wir jetzt mal aufs Jahr 2054 blicken, stellen wir uns vor, wir beide könnten dann noch miteinander reden, aus jetziger Sicht, würden Sie sagen, bis dahin haben wir Frieden im Nahen Osten?
Keine Basis für ein Friedensabkommen
Segev: Also ich kann's mir heute nicht mehr vorstellen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass meine Prophezeiungen immer falsch sind. Also wenn ich Ihnen jetzt sage, nein, dann kommt's vielleicht ja. Aber ich kann's mir wirklich nicht denken, weil die Kluft zwischen Israelis und Palästinensern so tief ist. Die gemäßigtsten Israelis und die gemäßigtsten Palästinenser haben keine Basis für ein Abkommen, für ein Friedensabkommen. Und deshalb kann ich es wirklich nicht sehen.
Es muss vielleicht irgendwas Fürchterliches passieren für beide, sowohl für Israelis als auch Palästinenser, bevor man was Neues anfangen kann. Also ich bin wirklich sehr pessimistisch heute, wie Sie sehen. Es ist auch so, dass zwischen Israelis und Palästinensern keine von den Seiten eins zu sieben einschlägt, es ist immer sieben zu sieben.
Kassel: Der Historiker und Publizist Tom Segev im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Herr Segev, ich danke Ihnen sehr!
Segev: Danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.