"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". Darin bitten wir Schriftsteller jeweils für eine Woche um einen kurzen Text, in dem sie kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen.
In dieser Woche begleitet uns SAID im Originalton – mit bislang unveröffentlichten Texten, die zusammen unter dem Titel "Das vibrierende Kind" eine Art poetischer Autobiografie ergeben. Heute zwei Stücke, "Initiation 1", Momente, die man nicht vergisst.
Der Schriftsteller SAID wurde 1947 in Teheran geboren, mit 17 kam er in die Bundesrepublik und ist heute ein hochangesehener, vielfach preisgekrönter deutscher Dichter. Schon seine ersten Gedichte schrieb er auf deutsch, inzwischen sind zahlreiche Lyrik- und Essay-Bände erschienen, SAID war auch Präsident des Deutschen PEN und aktiv im Writers in Prison Committee.
Initiation 2
Vom Puff-Besuch der Fußballmannschaft eines Teheraner Viertels rennt das 16-jährige Kind weg. Darüber, was sich der der Mannschaftskapitän dann einfallen lässt, berichtet der Schriftsteller SAID. In der Rubrik "Originalton" präsentiert er bisher unveröffentlichte Texte.
huren I
das kind ist 16 und torwart in der fußballmannschaft des viertels.
da beschließt eines tages der kapitän, mit der mannschaft in den puff zu gehen.
das kind genießt die auszeichnung; jetzt gehört es zu den männern.
walid geht einen schritt voraus. der rest steckt die hände in die hosentaschen, um einen gelassenen eindruck zu machen.
die tür ist offen, im patio stehen entlang der mauer bänke für wartende.
auf der terrasse sitzt die puffmutter vor der kasse und verhandelt mit walid.
als er zurückkommt, ist er in begleitung: schwarzes haar, große brüste, dicke beine.
er flüstert mit ihr. sie lacht und wackelt mit dem arsch.
walid winkt, das kind steigt die treppe hinauf.
"komm, kleiner! tamara macht alles für dich."
sie nimmt seine hand und legt sie auf ihren arsch.
"festhalten! sonst schnappt ihn dir jemand weg."
mit hängenden brüsten steht tamara da.
sie öffnet die beine, ein tier blefft das kind an –
es rennt hinaus.
draußen empfängt es walid mit einem strengem blick.
in der woche darauf erscheint walid mit einem vw-käfer.
dort in den hügeln, im norden teherans, hat das kind manchmal die huren gesehen, die auf kundschaft warten.
walid verhandelt mit einer.
"du bist der erste."
kurzes haar, schwarz wie ihre augen. ein großer mund voller kaugummi, kräftige schenkel.
erst wirft sie die handtasche auf den vordersitz, dann den rock. sie wühlt in der tasche. als sie sich umdreht, hat sie eine packung pariser zwischen den zähnen. nach einem sehr langen blick zieht sie auch die bluse aus.
"rita schenkt dir auch die melonen."
sie kriecht zum hintersitz, legt sich auf den rücken, öffnet die beine und winkt. mit der rechten hand hält sie das eine bein hoch, das andere liegt über der sitzlehne.
rita spuckt in die hand.
das kind hält sich an den brüsten fest, es tobt um sein leben.
hernach streift sie den pariser ab.
"los! die anderen wollen auch was."
das kind geht zurück, jeder schlägt ihm auf die schulter.
zuhause wäscht es seinen schwanz und geht ins bett.
in der dunkelheit weint das kind.