Gebote

Zu seiner eigenen Natur zurück finden

Von Gerald Beyrodt |
613 Mitzvot gibt es im Judentum, Vorschriften, sich richtig zu verhalten. Zum neuen Jahr kann man sich diese Mitzvot als gute Vorsätze vornehmen - wenn man gewisse Regeln beachtet.
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Dieser Satz stammt von Erich Kästner, einem Nichtjuden. Aber man könnte den Satz als Überschrift für die jüdische Religion verwenden, sagt Gesa Ederberg, Rabbinerin der jüdischen Gemeinde Berlin.
"Das kann man beim Judentum sehr drüber schreiben. Bei uns heißt der Satz: Na'ase we nischma. Als das Volk Israel am Sinai die Tora erhalten hat, sagte es: Wir wollen es tun und dadurch verstehen."
Im Judentum sind also religiöse Handlungen nicht Ausdruck eines Glaubens, sondern Glauben entsteht durch Handlungen. Noa Uebel, Mitte Vierzig, ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Berlin.
"Wenn ich mich mit andern Juden unterhalte, werde ich selten fragen, glaubst du an Gott und wie glaubst du an Gott, sondern ich werde fragen, trennst du dein Geschirr oder betest du drei Mal am Tag, also solche Fragen würde ich eher stellen."
613 Vorschriften oder Gebote gibt es im Judentum, so genannte Mitzvot. Eine Mitzva kann darin bestehen, einer alten Frau über die Straße zu helfen oder auch darin, koscher zu essen. Es gibt 365 Verbote und 248 Gebote. Zu den Mitzvot gehört, zu erkennen, dass es nur einen Gott gibt, dass Gott einig sei, dass wir Gott lieben sollen, dass man keine Bildnisse machen soll, dass man Vater und Mutter ehren soll, dass man den Fremden lieben soll.
Mitzvot sind wichtiger als der Messias
Wer eine gute Tat verrichtet, sagt in der jüdischen Alltagssprache: "Ich habe eine Mitzva getan." Eine häufig wiederkehrende Formel in der jüdischen Religion lautet: "Gesegnet seist Du, Ewiger, der uns durch seine Mitzvot geheiligt hat...." Das Heilige findet sich dort, wo Menschen gute Taten tun. Juden sprechen diesen Satzanfang üblichweise immer dann, bevor sie eine Mitzvah tun.
Für die jüdische Religion sind die Mitzvot wesentlich wichtiger als etwa die Frage nach dem Messias.
"Die Gretchenfrage, wie hältst du's mit der Religion ist nicht: Was glaubst du, und schon gar nicht der Messias, der ist nun wirklich nicht wichtig, sondern was tust du."
Einig sind sich die jüdischen Richtungen von liberal bis orthodox darüber, dass soziale Wohltaten wichtig sind: Gäste bewirten, Geld für die Armen spenden, Kranke besuche. Hannah Schubert-Dannel vom Zentralrat der Juden hat dieses Jahr in ganz Deutschland einen Mitzvah Day organisiert, einen Tag der guten Taten.
"Nächstenliebe ist ja auch eine eine jüdische Sache. 3. Moses steht ja: 'Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du. Ich bin der Ewige.' Also dieses Verständnis, der Mensch ist im Ebenbilde Gottes erschaffen, der Mensch imitiert Gott. Gott hat die Welt in einem Akt des Gebens erschaffen, und der Mensch soll es auch machen, indem er gibt."
Viele Mitzvot haben heute keinen praktischen Bezug mehr
Viele Mitzvot beziehen sich auf die Zeit des Tempels und sind heute ohne praktischen Bezug. Niemand muss den Altar mit Asche reinigen, weil es keinen Altar mehr gibt. Wer hingegen im Alltag von einer Mitzwa oder Mitzwe spricht, die er tut, meint eine gute Tat. Die Mitzvot gehören zum jüdischen Rechtssystem und sind ihrer Idee nach verpflichtend - genauso wie die Straßenverkehrsordnung ihrer Idee nach verpflichtend ist. Das schließt nicht aus, dass Menschen auch dann über die Straße gehen, wenn die Ampel rot leuchtet.
Mitzvot regeln mithin das Verhältnis von Menschen untereinander und das Verhältnis von Gott und Mensch. Das Gebot drei täglich zu beten betrifft das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, das Gebot, koscher zu essen, betrifft das Verhältnis zu Gott genauso wie das zur jüdischen Gemeinschaft. Für Noa Uebel eine schwierige Vorschrift.
"Wenn ich an so 'nem Steakhaus vorbeilaufe, läuft mir schon (lacht) der Speichel im Mund zusammen. Dass ich da nicht sofort reinrennen kann, ich meine, kann ich, aber dann würde ich ein Gebot übertreten, und das will ich ja eigentlich nicht. Ob Gott da jetzt wohlgefällig ist, weil ich irgend etwas tue oder nicht tue, darüber vermag ich ja gar nichts zu sagen."
Zum neuen säkularen Jahr kann man sich Mitzvot als gute Vorsätze vornehmen: Man kann sich vornehmen, mehr Geld für arme Menschen zu spenden, mehr für die jüdische Gemeinde zu tun, seine Freizeit für soziale Zwecke zu verwenden. Doch nicht alle guten Vorsätze, die Menschen haben, sind Mitzvot: Der Wunsch, sich im Fitnessstudio ein Sixpack anzutrainieren ist genauso wenig eine Mitzvah wie der Vorsatz, endlich den Schreibtisch aufzuräumen - auch wenn es noch so nötig ist, sagt Gesa Ederberg.
"Mitzvot haben mehr mit anderen Menschen auch zu tun und weniger mit der Selbstperfektionierung, die häufig in den guten Vorsätzen auch drin steckt."
Gute Vorsätze haben ihre Tücken, denn allzu oft endet der Wunsch abzunehmen oder mehr Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen, in Selbstvorwürfen... Wenn aus Vorsätzen keine Taten geworden sind, halten sich viele Menschen vor, dass sie versagt haben. Doch gut zu handeln, bedeutet keine übermenschliche Anstrengung. Denn das Judentum geht davon aus, dass die menschliche Seele rein ist.
Gut zu handeln, zum Beispiel anderen zu helfen, heißt mithin, zu seiner eigentlichen Natur zurück zu finden. So gibt es kurz vor dem neuen Jahr noch eine gute Nachricht, wenigstens aus jüdischer Sicht.