Natürlich sind wir froh, dass wir die Medizin haben und auch schnell handeln können. Aber – und das muss man auch sagen – wenn man schnell handeln muss, hat man immer noch die Zeit, die zwei, drei, vier Sekunden mit der Frau noch einmal Augenkontakt aufzunehmen und ihr klar zu erklären, was gerade in dieser Situation passiert. Häufiger ist es so: Wir agieren einfach und vergessen, dass da eine Frau, ein Mann, eine Partnerin stehen, die jetzt gerade keine Ahnung haben, was hier passiert im Raum und natürlich Ängste entwickeln.
Gewalt in der Geburtshilfe
Die Hebamme Anja Lehnertz warnt vor zu viel Intervention in der Geburtshilfe: „Wenn Geburt so gefährlich wäre, wie wir denn tun, dann hätten wir nicht so viele Menschen auf der Welt.“ © imago / Westend61
Wenn man der Natur ins Handwerk pfuscht
06:22 Minuten
Rosa Rosen vor Kreißsälen und Kliniken: Der heutige Roses Revolution Day macht auf Gewalt in der Geburtshilfe aufmerksam. Von Diskriminierung bis zu ungewollter Medikation: Die Hebamme Anja Lehnertz weiß, was Frauen unter der Geburt erleiden müssen.
Seit 27 Jahren arbeitet Anja Lehnertz als Hebamme. In dieser Zeit hat sie "die ganze Bandbreite der Gewalt" erlebt, erzählt sie. Dazu zählt sie Vernachlässigung und Diskriminierung, aber auch Medikamentengabe oder einen Dammschnitt ohne vorheriges Einverständnis der Frau. Der Grund nach ihrer Überzeugung: Die Geburt an sich werde "pathologisiert".
"Wenn Geburt so gefährlich wäre, wie wir denn tun, dann hätten wir nicht so viele Menschen auf der Welt", sagt Lehnertz. "Das Handwerk der Hebamme ist die physiologische Geburt, und davon haben wir eine Vielzahl. Die meisten Geburten sind physiologisch." Dagegen würden "Interventionskaskaden" Problematiken auslösen, "wenn man der Natur ins Handwerk pfuscht".
Die Gebärkraft der Frau anerkennen
Die Hebamme räumt ein, dass es natürlich Notfälle gebe. Doch diese seien selten. Wenn man die "Gebärkraft der Frau" anerkenne und der "Natur ihren Lauf" lasse, dann passiere "erst einmal nichts", sagt sie.
Lehnertz berichtet darüber hinaus von einer "gewaltvollen Hebammen-Ausbildung": Hebammenschülerinnen müssten die Übergriffigkeiten "quasi als Mittäterinnen miterleben". Sie könnten nicht flüchten und hätten auch nicht den Status, "dazwischenzugrätschen".
Zum Roses Revolution Day wünscht sich Lehnertz, dass Gewalt in der Geburtshilfe als Thema anerkannt wird. Erst dann könne man mit der Aufarbeitung beginnen. Es fehle an Zahlen dazu in Deutschland. Auch politisch müsse sich etwas tun: Deutschland habe schließlich die Istanbul-Konvention unterschrieben. Das ist ein Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
(bth)