Neue Gesundheitskonzepte in der Provinz

Gegen fehlende Geburtsstationen und Ärzte

08:38 Minuten
Leere Kinderbetten aus Holz stehen dicht nebeneinander.
Jede fünfte Geburtenstation in Sachsen-Anhalt musste in den vergangenen zehn Jahren aufgegeben werden. Ein neuer Ansatz ist, den ländlichen Raum aus den Großstädten zu versorgen. © imago / Robert Poorten
Von Niklas Ottersbach |
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In Sachsen-Anhalt haben zahlreiche Geburtsstationen geschlossen, weil Patienten fehlten oder das nötige Personal. Dagegen setzen Kliniken nun Modellprojekte – mit Telemedizin oder einer Mischung aus ambulanter und klinischer Versorgung.
Gardelegen im Norden von Sachsen-Anhalt ist ein typisches Altmark-Städtchen mit viel Fachwerk und einer Besonderheit: Es ist nach Berlin und Hamburg die drittgrößte Stadt Deutschlands. Allerdings nur von der Fläche her – dank der Eingemeindung der umliegenden Dörfer. Rund 20.000 Menschen leben hier.
Im Altmarkklinikum Gardelegen gab es über viele Jahre eine sehr gute Gesundheitsversorgung für Kinder. „Weil der gleiche Arzt das Kind von Geburt an betreut hat“, schildert Christine Schulz, die selbst – genau wie ihre Mutter – auf der Geburtsstation des Krankenhauses zur Welt kam. Der Kinderarzt auf der Station habe das Kind bei den Vorsorgeuntersuchungen U1 und U2 direkt nach der Geburt betreut. „Danach konnten die Kinder in der Ambulanz von dem gleichen Arzt behandelt werden. Und mussten sie mal notfallmäßig behandelt werden, war dort auch wieder der gleiche Arzt.“ Der cremefarbene Bau des Altmarkklinikums Gardelegen aus DDR-Zeiten steht ein paar Straßen vom Zentrum entfernt. Christine Schulz sagt, sie wünsche sich, dass auch ihre Enkelkinder hier zur Welt kommen – und in den Genuss dieses perfekten Pakets für Familien kommen.

Aus für Kinderstation wegen Ärztemangels

Doch dieses Paket gibt es nicht mehr. Christine Schulz kämpft mit ihrem Förderverein „Kindertraum“ e.V. um die Kinderklinik Gardelegen. Seit Januar nun fehlt die Kinderstation, auf der die Ärzte zum Beispiel Neugeborene auf Entwicklungsstörungen hin untersuchen. Es konnten schlicht keine Ärzte gefunden werden. Kein gutes Signal für junge Familien, sagt die 40-Jährige. „Wir haben von Eltern gehört, die nach Gardelegen gezogen oder zurückgezogen sind mit ihren Kindern und Familien, weil sie hier das Rundumpaket kriegen, was die Versorgung ihrer Kinder angeht.“ Ohne gebe es keinen Anreiz, in die Stadt zu kommen, meint sie.
Das Fehlen eines stationären Kinderarztes hat auch Auswirkungen auf die Geburtenstation, sagt Michael Schoof, medizinischer Leiter des Altmarkklinikums Gardelegen. Aus seinen Daten geht hervor, dass es in den vergangenen Jahren nicht einmal eine Entbindung pro Tag gegeben habe – übers Jahr verteilt. Seit die Kinderstation weg ist, brächen die Geburtenzahlen der Klinik noch mehr ein. Ohne Kinderarzt könnten bestimmte Entbindungen nicht mehr stattfinden wie bei Mehrlingsgeburten oder Risikoschwangerschaften. Abgesehen davon sei eine Entbindung erst nach der abgeschlossenen 36. Schwangerschaftswoche möglich. „Diese Dinge müssen im Vorgang so sicher sein, dass es nicht zu komplikativen Verläufen kommt.“

Headhunter-Auftrag mit 600 Absagen

Christine Schulz vom Förderverein will unbedingt eine Kinderstation zurück, mit Kinderärzten und Kinder-Pflegepersonal. Und zwar sieben Tage die Woche, 24 Stunden besetzt. Genau da aber beginne das Problem, sagt Michael Schoof. Es gäbe einfach zu wenige Notfälle in Gardelegen: nicht mal zwei am Tag übers Jahr verteilt. So geringe Fallzahlen und dazu ein überschaubares Behandlungsspektrum – dafür interessierten sich junge Ärzte nicht. Eineinhalb Jahre habe man hier nach Kinderärzten gesucht. Sogar eine Headhunter-Agentur wurde beauftragt, Ergebnis: 600 Absagen und keine Einstellung.
Christine Schulz, die sich für die Wiedereröffnung der Geburtenstation in Gardelegen engagiert, präsentiert mit einem Lächeln einen Stapel von Aktenordnern, den sie vor sich in den Händen  hält.
Christine Schulz arbeitet als Vorsitzende des Fördervereins "Kindertraum" dafür, dass wieder Kinder in der Geburtenstation in Gardelegen behandelt werden können, wo sie selbst geboren wurde. Der Politik übergab sie bereits zahlreiche Unterschriften.© picture alliance / dpa-Zentralbild / Klaus-Dietmar Gabbert
Das Problem haben viele Krankenhäuser im ländlichen Raum. In Sachsen-Anhalt gab in den letzten zehn Jahren jede fünfte Geburtenstation auf. Entweder weil es zuletzt zu wenige Entbindungen gab oder zu wenig Personal. Wer sich mit Klinikmanagern in Sachsen-Anhalt unterhält, der erfährt: Ohne Headhunter geht gar nichts mehr. Aber selbst für die wird die Suche nach ärztlichem Führungspersonal immer schwerer.
Florian Drewes ist so ein Headhunter. Er arbeitet für Hays, einen der größten Personaldienstleister in Deutschland. Dort vermittelt er Chefärzte, Oberärzte und Assistenzärzte. In Deutschland sei bei den Ärzten der Bedarf im Osten am höchsten. „Es gibt wahnsinnig viele unbesetzte Stellen aufgrund der Standortnachteile.“ Weil viele sagten, das sei ihnen zu abgelegen, das sei ländlicher Raum.
Florian Drewes hat auch schon Ärzte für Kliniken in Sachsen-Anhalt rekrutiert. Sein Geschäft sind Festanstellungen für medizinisches Personal. Was deutlich schwieriger ist, als Vertretungsärzte zu vermitteln. Denn die können selber entscheiden, ob sie Nachtdienste machen wollen. Auch werden Vertretungsärzte pro Stunde bezahlt, teilweise haben sie daher am Ende doppelt so hohe Gehälter wie ihre dauerhaft festangestellten Kollegen. „Wir beobachten, dass wir einen großen Zufluss an Kandidaten haben, die als Vertretungsärzten arbeiten wollen“, so Drewes. Über weitere Details in Sachen Arbeitsbedingungen für Ärzte möchte Florian Drewes nicht sprechen. Die Kliniken sind schließlich seine Kunden.

Video-Sprechstunde mit Magdeburg

Für Krankenhäuser im ländlichen Raum ist es häufig ein Teufelskreis: Für unbesetzte Stellen müssen teurere Vertretungsärzte eingekauft werden, was das ohnehin schon knappe Budget weiter strapaziert. Auch in Gardelegen arbeiten in vielen Abteilungen Vertretungsärzte. Keine gute Entwicklung, sagt Sachsen-Anhalts Gesundheitsministerin Pertra Grimm-Benne von der SPD. Sie wollten ja nicht nur Headhunter finanzieren, sondern: „Wir wollen gucken, dass dieses Geschäftsmodell auch durchbrochen wird, indem wir diese Kräfte wieder fest beschäftigen, dass sie nicht nur rotieren. Und dort hingehen können, zumal außerhalb eines Schichtdienstes.“
Trotzdem arbeitet die Altmarkklinik Gardelegen, ein öffentlicher Träger, mit einem ganzen Dutzend Headhunter-Agenturen zusammen – ohne Erfolg. Nun soll ein neuer Ansatz her, sagt Michael Schoof, der medizinische Leiter in Gardelegen. Das Ärztepersonal soll über zwei große Magdeburger Kliniken rekrutiert werden. Ein solcher Arbeitgeber sei für junge, angehende Ärzte viel größer als einer auf dem flachen Land. „Mit dem Ziel oder mit dem Hintergrund, dass man zumindest Teile der Ausbildung zum Facharzt für Pädiatrie unter der Regie der Schwerpunktversorger machen kann.“ Das Ganze könne man unterstützen mit telemedizinischer Anwendung. „Wir haben viele Jahre Erfahrung mit der Anwendung von Telemedizin" so Schoof.
Zum Beispiel bei Schlaganfallpatienten, die über die Erstaufnahme per Video-Anamnese von Experten der Berliner Charité untersucht werden. So ähnlich würde das dann auch bei Kindern ablaufen, mit dem Unterschied dass die Experten aus der Pädiatrie dann in Magdeburg sitzen. Der dünn besiedelte Norden Sachsen-Anhalts ist derzeit der Testballon der Landesregierung für neue Gesundheitskonzepte im ländlichen Raum.

Ärztemangel bremst Modellprojekt aus

Ein weiteres Beispiel ist Havelberg an der Grenze zu Brandenburg. Dort schloss während der Pandemie das Krankenhaus. Der örtliche Protest war so ausdauernd, dass hier nun ein Modellprojekt entstehen soll. Eine Mischung aus ambulanter und klinischer Versorgung mit Übernachtungsbetten – was in Deutschland so eigentlich nicht vorgesehen ist.
Bisher läuft das Modellprojekt in Havelberg jedoch nicht an. Der Grund: Man findet keine Ärzte. In Gardelegen soll es nun aber klappen, sagt Sachsen-Anhalts Gesundheitsministerin Grimm-Benne. „Und jetzt müssen wir innerhalb dieses Konstruktes gucken: Wie kann man in dieser Region, ich sage mal, ein bisschen experimentieren, ob das auch so geht, wenn mehrere Kliniken sich unterhaken und gucken: Wie kann man die Versorgung aufrechterhalten an dem Standort?“
Christine Schulz, die Vorsitzende des Fördervereins „Kindertraum“ in Gardelegen kann dem Ärzte-Rotationsmodell mit Magdeburg einiges abgewinnen – solange so die 24-Stunden-Versorgung in der Klinik gewährleistet werden kann. Wann die Ärztesuche über dieses Modell startet, ist nicht klar. Die Gesundheitsministerin will sich auf kein Datum festlegen. Das Warten auf Kinderärzte für Gardelegen geht also weiter.

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