60 Jahre „klingendes Sonntagsrätsel“

Wie eine Sendung das ganze Land vereint

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Moderator Hans Rosenthal, neben ihm ein kleiner Junge, der einen Brief aus einer großen Kiste zieht, rechts neben dem Jungen ein dicklicher Herr in Anzug und mit Brille. Es ist der Moment der Ziehung der Gewinner beim "Sonntagsrätsel".
Gehörte zum Sonntagsrätsel immer dazu: Ein "Rätselkind" zieht neben Moderator Hans Rosenthal einen Gewinner aus der vorherigen Sendung. © Deutschlandradio/Karl-Heinz Schubert
Von Ralf Bei der Kellen |
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Lange vor der Wiedervereinigung kamen Ost- und Westdeutsche jeden Sonntag vor den Radioapparaten zusammen, um „das klingende Sonntagsrätsel“ zu lösen. Heute ist die Sendung immer noch Kult in ganz Deutschland, erklärt Moderator Ralf Bei der Kellen.

Wie ich zum Sonntagsrätsel kam

1992: Ich bin zum ersten Mal in Berlin. Mein alter 300D, Baujahr 1974, hat die Fahrt von Osnabrück über die ehemalige Transitstrecke ohne Achsschaden überstanden, ich wohne bei der Freundin einer Freundin in Charlottenburg.
An einem verhängnisvollen Sonntagmorgen sitzen wir verkatert in der Küche ihrer Mutter, die um punkt 9 Uhr 29 den Raum betritt, das Radio anmacht und erklärt, was jetzt komme, sei eine Kultsendung und dass ich als musikbegeisterter junger Mann „aus Westdeutschland“ doch bestimmt auch was dazu beitragen könne.
Konnte ich aber nicht. Da stellte ein Herr mit sonorer Stimme „sechs Fragen zu sechs Musikstücken“ aus dem Bereich Oper, Operette, Filmmusik, Kabarett, Volkslied und noch irgendwas. Musikalisch war das so gar nicht meine Baustelle (obwohl ich seit jenem Tag weiß, dass es eine Melodie mit dem Titel „Bummelpetrus“ gibt), aber irgendwie war es dann doch so seltsam, dass ich dabeiblieb.
1998: Ich bin zum ersten Mal im Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz. Im Flur werde ich von einem mittelalten Herrn mit Pilotenbrille, der einen Metallkoffer hinter sich herzieht, eine vollgepackte Aldi-Tüte schleppt und dabei singt, fast umgerannt. „Das ist unser Herr Bienert vom ‚Sonntagsrätsel‘“, erklärt mir ein ebenfalls anwesender Redakteur. Komisch, bis auf die Aldi-Tüte hatte ich mir den genauso vorgestellt.
2009: Ich bin freier redaktioneller Mitarbeiter im damaligen Deutschlandradio Kultur. Zwei Türen weiter hat Herr Bienert gerade ein neues Büro bezogen. Der ganze Flur steht voller Kartons. Bienert räumt jeden Tag einen davon ein. Ich gucke in einen der Kartons und ziehe ein Band heraus, auf dem sich laut Kartonaufschrift der Umschnitt einer Schellackplatte befindet: der „Song von den brennenden Zeitfragen“ von den „Vier Nachrichtern“ aus dem Jahr 1932.
Ich bemerke, dass es dieses Stück jetzt auch auf CD gäbe und das Band eigentlich entsorgt werden könne. Daraufhin nimmt mir Bienert den Karton aus der Hand, fokussiert mich über den Rand seiner Pilotenbrille und sagt: „Junger Freund, es kann schon sein, dass man dieses Stück Musikgeschichte jetzt auch digital erwerben kann“ – hier macht er eine Kunstpause, um meiner Argumentation den Todesstoß zu versetzen – „aber – (er klopft auf den Bandkarton) – aber ganz bestimmt nicht in Gießkannenstereo!“
Ich denke: "Der ist ja wirklich verrückt!“ und beschließe, ihn näher kennenzulernen. In den Jahren darauf wurde das Lied zu unserer „Erkennungsmelodie“. Wenn ich ihn von hinten im Flur sah, rief ich „Wer hat denn das Kind mit dem Hammer geweckt?“ und Bienert antwortete, ohne sich umzudrehen: „Das durfte er als Vater doch nicht tun!“
2015: Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Sonntagsrätsels erhalte ich den Auftrag, ein Feature zur Geschichte der Sendung zu erstellen. In den Gesprächen mit den Beteiligten dämmert mir allmählich, wie sehr die Sendung ein Stück Rundfunkgeschichte ist.
Zwischenzeitlich hatte Bienert, der bereits das Moderationszepter an Uwe Wohlmacher weitergereicht hatte, mir hier und da einen Einblick in die Zuschriften zum „SR“ gewährt und erzählt, dass er 17 Jahre lang die Texte für den ersten Moderator, Hans Rosenthal, geschrieben hatte. Und wie das dann war, als nach dem Fall der Mauer plötzlich knapp 400.000 Zuschriften an einem Monat in den RIAS schwappten.
Zehn Jahre später bin ich selbst Moderator der Sendung und gucke nun Woche für Woche die Zuschriften der Hörerinnen und Hörer durch. Hier lernte ich nach und nach eine Hörerschaft kennen, der diese Sendung (noch immer) viel bedeutet.

Wie entsteht ein Sonntagsrätsel?

Zuerst gucke ich mir an, was an dem Datum in der Geschichte passiert ist. Davon lasse ich mich dann zu einem Oberthema inspirieren. Ein Beispiel: Am 23. Februar 1865 fand der Mannheimer Kasinosturm statt. Also gucke ich in der Hörfunkdatenbank, auf Spotify und anderswo, was sich alles an Musik zum Oberthema „Kasino bzw. Casino“ finden lässt.
So vermeide ich es auch, nur Musik zu spielen, die ich schon kenne. Die Musik eines Rätsels ist oft genauso eine Entdeckungsreise für mich wie für das Publikum. Wenn dann sechs Musikstücke aus diversen Genres zusammen sind, gucke ich, welches Lösungswort dazu passt. Um nicht nur nach Interpreten und Komponisten zu fragen, lese ich noch ein paar Lexika-Artikel zum Oberthema durch.
Bei der Musikauswahl gilt als oberster Leitsatz seit Rosenthals Zeiten: Es wird gespielt, was dem Moderator gefällt. Oder, wie Bienert es einmal formulierte: „Spielen Sie nur Musik, die Sie selbst gut finden. Die können Sie wenigstens ordentlich anmoderieren.“

Das Sonntagsrätsel und seine „Ratefamilie“

Viele Hörenden aus Berlin und der DDR sind über Generationen fest dabei; das Sonntagsrätsel hat Familien durch Höhen und Tiefen begleitet und war jeden Sonntagmorgen für sie zur Stelle.
In Westdeutschland haben viele die Sendung erst gehört, als der RIAS schon zu Deutschlandradio Berlin geworden war. Auch von ihnen sind viele schon seit über 30 Jahren dabei. Zu fast jeder Sendung bekommen wir mindestens eine Zuschrift, in der steht: „Heute zum ersten Mal gehört, hat Spaß gemacht, bis zum nächsten Sonntag!“ Von einigen hört man nie wieder, andere werden zu verlässlichen Lösungseinsendern und Kommentatorinnen.
Christian Bienert bezeichnete die Sonntagsrätsel-Hörer gerne als „Ratefamilie“. Auch da dachte ich: Lass den alten Mann reden. Heute weiß ich: Er hat nicht übertrieben.
Jeden Sonntag ist Deutschlandfunk Kultur mit dem Sonntagsrätsel für 28 Minuten und 45 Sekunden Teil des Lebens vieler Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Vom Tiefbauarbeiter bis zum Professor für Altertumskunde, von der berenteten Schauspielerin bis zur Fachärztin für Viszeralchirurgie – Menschen unterschiedlichster Altersstufen und Bildungsgrade lassen uns in ihr Leben.
Die einen rätseln in der Familie, andere als Teil einer Gruppe in den sozialen Medien; wieder andere haben früher mit der/dem Partner:in geraten, den/die es nun nicht mehr gibt. Aber im Rätsel sind sie weiterhin vereint. Für wieder andere ist es eine Verbindung zur Heimat, wenn sie das Rätsel an ihrem neuen Arbeits- und Wohnort in Kanada, Neuseeland oder Indien hören. Natürlich immer um 9 Uhr 30 Ortszeit.

Vom Reichweitentest zur Kultsendung

Und das alles, weil Hans Rosenthal am 7. März 1965 erstmals ein kleines, eigentlich unbedeutendes Radioquiz moderierte, mit dem man überprüfen wollte, wie weit der RIAS in die DDR hinein strahlte. Und weil die Mutter der Freundin meiner Freundin damals in die Küche kam.
Versuchen Sie mal, diese Geschichte irgendeinem Film- oder Fernsehschaffenden als Drehbuch zu verkaufen. Da kommt dann schnell der Stempel „zu realitätsfremd“ drauf. Aber das Leben schreibt eben manchmal solche wilden Geschichten. Ob die Mutter der Freundin meiner Freundin, die damals die Küche crashte, um das Sonntagsrätsel einzuschalten, das weiß?
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