Gedankenflug am Sandstrand
In 23 Briefen an den Meeresgott Poseidon schreibt Cees Nooteboom über Dinge, die ihm begegnen, die er schreibt, liest, denkt, fühlt, riecht oder hört. In Gedanken schwebt er dabei durch Orte und Zeiten, Wahrheit und Mythen, Gegenwart und Erinnerung.
Wem es vergönnt ist, eine Agave blühen zu sehen, der wohnt einem Jahrhundertereignis bei. Denn die aus "stilförmig gezähnten", dickfleischigen Blättern bestehende Pflanze lässt sich dafür viele Jahrzehnte Zeit, um dann in Schönheit zu sterben. Ob nun Fiktion oder Realität, indem der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom diesen wundersamen Naturvorgang beschreibt, stürzt er den Ich-Erzähler in größte Verwirrung: ein Schwindel erfasst ihn und er schwankt "zwischen den Zeiten hin und her".
Es ist dieses schwebende Balancieren zwischen Orten und Zeiten, Erinnerungen und Sprachen, die Nootebooms "Briefe an Poseidon" zu einem großen synästhetischen Erlebnis machen. Er spürt Details auf – einen Hut, einen Stuhl, einen Stein -, um in ihrem Bedeutungsschatten sein literarisches Universum zu entfalten.
Aus einer Herde von sieben Eseln im Papstpalast zu Avignon wird auf dem mittelalterlichen Steinparkett eine wundersame Musik, komponiert aus 28 kleinen Hufen. Oder der Ich-Erzähler beschreibt ein großes Gewitter, das alljährlich seine Insel erzittern lässt - Nooteboom lebt seit vielen Jahren auch auf der Insel Menorca - und die Bewohner schlagartig zu verletzbaren Wesen macht. Im grellen Blitz, der an die "antike Gewalt des Donners" gekoppelt ist, bricht die ansonsten verborgene animalische Angst des Menschen vor den Naturgewalten hervor. Plötzlich stellt sich die Frage, wer hier eigentlich das Sagen hat: die Götter oder der Mensch.
Dem Ich-Erzähler scheint es deshalb auch notwendig, gegen diese gestörte Kommunikation anzuschreiben. Denn das Element Wasser hat in jüngster Zeit zahlreiche Katastrophen verursacht. Die 23 Briefe an den Meeresgott Poseidon und Bruder des Zeus bilden somit das Herzstück des Bandes. Doch während in den Erzählungen Homers und Ovids, aber auch bei Kafka der Kerl mit dem Dreizack präsent ist, scheint er ansonsten nicht fassbar. Wie also sollte eine Korrespondenz mit ihm funktionieren?
Ein Briefwechsel mit einem Gott ist nur über einen "Umweg" möglich – wobei jene fiktive Topographie entsteht, die Nootebooms Literatur auszeichnet. Indem der Ich-Erzähler über reale Dinge schreibt, die er gerade sieht, liest, denkt, fühlt, riecht, hört - entstehen monologische Texturen, in denen sein Denken über diese Dinge reflektiert wird.
Der Briefeschreiber Nooteboom erweist sich dabei als ein Schwellenkundiger. Leichtsilbig und rastlos wechselt er zwischen dem Reich der Wissenschaften und dem Reich der Mythen, um mit dem "Arsenal"-Blick des Mythischen auf die Realität zurückschauen zu können. Aus dieser kreativen Denkbewegung heraus entstehen kostbare Miniaturen, in denen das "Faust"- Thema anklingt: Was ist es, was diese Welt im Innersten zusammenhält?
Rezensiert von Carola Wiemers
Cees Nooteboom, Briefe an Poseidon
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
224 Seiten, 19,95 Euro
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Brieven aan Poseidon bei Uitgeverij De Bezige Bij, Amsterdam.
Es ist dieses schwebende Balancieren zwischen Orten und Zeiten, Erinnerungen und Sprachen, die Nootebooms "Briefe an Poseidon" zu einem großen synästhetischen Erlebnis machen. Er spürt Details auf – einen Hut, einen Stuhl, einen Stein -, um in ihrem Bedeutungsschatten sein literarisches Universum zu entfalten.
Aus einer Herde von sieben Eseln im Papstpalast zu Avignon wird auf dem mittelalterlichen Steinparkett eine wundersame Musik, komponiert aus 28 kleinen Hufen. Oder der Ich-Erzähler beschreibt ein großes Gewitter, das alljährlich seine Insel erzittern lässt - Nooteboom lebt seit vielen Jahren auch auf der Insel Menorca - und die Bewohner schlagartig zu verletzbaren Wesen macht. Im grellen Blitz, der an die "antike Gewalt des Donners" gekoppelt ist, bricht die ansonsten verborgene animalische Angst des Menschen vor den Naturgewalten hervor. Plötzlich stellt sich die Frage, wer hier eigentlich das Sagen hat: die Götter oder der Mensch.
Dem Ich-Erzähler scheint es deshalb auch notwendig, gegen diese gestörte Kommunikation anzuschreiben. Denn das Element Wasser hat in jüngster Zeit zahlreiche Katastrophen verursacht. Die 23 Briefe an den Meeresgott Poseidon und Bruder des Zeus bilden somit das Herzstück des Bandes. Doch während in den Erzählungen Homers und Ovids, aber auch bei Kafka der Kerl mit dem Dreizack präsent ist, scheint er ansonsten nicht fassbar. Wie also sollte eine Korrespondenz mit ihm funktionieren?
Ein Briefwechsel mit einem Gott ist nur über einen "Umweg" möglich – wobei jene fiktive Topographie entsteht, die Nootebooms Literatur auszeichnet. Indem der Ich-Erzähler über reale Dinge schreibt, die er gerade sieht, liest, denkt, fühlt, riecht, hört - entstehen monologische Texturen, in denen sein Denken über diese Dinge reflektiert wird.
Der Briefeschreiber Nooteboom erweist sich dabei als ein Schwellenkundiger. Leichtsilbig und rastlos wechselt er zwischen dem Reich der Wissenschaften und dem Reich der Mythen, um mit dem "Arsenal"-Blick des Mythischen auf die Realität zurückschauen zu können. Aus dieser kreativen Denkbewegung heraus entstehen kostbare Miniaturen, in denen das "Faust"- Thema anklingt: Was ist es, was diese Welt im Innersten zusammenhält?
Rezensiert von Carola Wiemers
Cees Nooteboom, Briefe an Poseidon
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
224 Seiten, 19,95 Euro
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Brieven aan Poseidon bei Uitgeverij De Bezige Bij, Amsterdam.