Mit Häftlingsbiografien die Herzen öffnen
Der Besuch einer KZ-Gedenkstätte ist für viele Schüler eines der eindrücklichsten Erlebnisse der Schulzeit. Das ehemalige KZ Esterwegen im Emsland setzt auf eine intensive Jugendarbeit – auch als Schutzschild gegen Rechtspopulismus.
In einer Ausstellung in der Gedenkstätte Esterwegen im Emsland. 244 Portraits von ehemaligen Gefangenen hängen an einer langen Wand in einem fensterlosen, dunklen Raum. Unter den Besuchern ist auch eine Klasse der Maximilianschule Rütenbrock aus Haren im Emsland.
"Soll ich aufschreiben, dass er schwer misshandelt wurde und durch die Barracken geführt wurde auf Händen und Füßen?"
In kleinen Gruppen setzen sich die 14-jährigen Schülerinnen und Schüler mit dem Schicksal von einigen Lagerinsassen auseinander. Mit dem kommunistischen Politiker Ernst Thälmann etwa, dem Sozialdemokraten Julius Leber oder Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky. Eine biographische Spurensuche. Eindrücke von Jana, Leonie und Jan.
"Es ist ja auch ganz in der Nähe von uns." – "Wenn man das echt sieht, erfährt man erst, wie das alles war hier." – "Die Bilder, dass sie ausgehungert waren, wenn sie gestorben sind. Krank, teilweise umgebracht wurden – das ist einfach grausam."
Überzeugungsarbeit für einen zentralen Erinnerungsort
15 Konzentrations-, Straf- und Kriegsgefangenenlager gab es im Emsland und im Landkreis Grafschaft Bentheim. Es dauerte lange, bis ein zentraler Erinnerungsort geschaffen wurde. Viel Überzeugungsarbeit war notwendig. Vor neun Jahren schließlich wurde die Gedenkstätte Esterwegen eröffnet.
Unterwegs mit der Historikerin und Gedenkstätten-Leiterin Andrea Kaltofen. Vom Besucherinformationszentrum geht es über einen stählernen Steg zur ehemaligen Lagerstraße. Es war nicht einfach, so Kaltofen, den Erinnerungsort zu gestalten.
"Oberirdisch war nichts mehr zu sehen, die Baracken wurden ja in den 1950er Jahren verkauft. Wir haben uns verständigt, die Lager-Topographie als solche zu visualisieren. Ohne Rekonstruktion, aber mit verschiedenen Mitteln der Übersetzung."
Jeder verlor hier seine Menschenwürde
Baumgruppen deuten an, wo früher Barracken standen, Stahlelemente weisen an einigen Stellen auf die hohe Mauer des Lagers hin. Auch die Tore wurden so wieder sichtbar gemacht. Jeder Häftling, der sie durchschritt, verlor seine Menschenwürde.
"Die Moorsoldaten" – Gefangene des Konzentrationslagers Börgermoor schrieben das Lied 1933, inzwischen ist es weltbekannt. Die Arbeitsbedingungen im Moor waren unmenschlich. Mehr als 20.000 Häftlinge starben in den 15 Emslandlagern.
Der Kommunist und Widerstandskämpfer Willi Meyer-Buer war unter anderem mehrere Monate in Esterwegen inhaftiert. Viele Jahre später erinnert er sich, in einem Gespräch mit Radio Bremen, an die schreckliche Zeit.
"Es war, als ich dort hingebracht wurde, unter den Antifaschisten außerordentlich gefürchtet. Einem SS-Bewacher im Lager aufzufallen, war das Schlimmste, was passieren konnte. Da wurde die Nummer notiert, Schikanen – man wusste nie, wo das enden würde."
Überlebenskampf bestimmte den Lageralltag
Die "Hölle am Waldesrand" nannten die Gefangenen Esterwegen. Überlebenskampf bestimmte den Lageralltag. Trotzdem gab es manchmal auch Solidarität untereinander. Zum Beispiel, als ein Häftling ein Todesurteil vollstrecken sollte. Er weigerte sich.
"Und auf Befehlsverweigerung stand schon die Todesstrafe. Er wurde also auf den Stuhl gestellt, der zuvor zu Hängende wurde runtergenommen. Dann wurde ein zweiter unserer Kameraden aufgerufen, der verweigerte ebenfalls den Befehl, und der dritte hat dann den Stuhl weggestoßen."
Willi Meyer-Buer überlebte Esterwegen und auch den Krieg. Nach seinem Tod wurde 2014 in Bremen eine Straße nach ihm benannt.
Kaum noch Zeitzeugen am Leben
Die meisten Zeitzeugen sind inzwischen gestorben. Die Besucher können sich Filme anschauen, in denen die ehemaligen Lagerinsassen über ihre Erfahrungen berichten. Oder die persönlichen Gegenstände, die die hinterlassen haben. Gedenkstätten-Leiterin Andrea Kaltofen:
"Das ist für alle ein gravierender Wechsel im Vermitteln an diesen Orten. Ich habe das noch erlebt, dass die alten Herrschaften hier waren. Das war eine ganz andere Situation, wenn der alte Herr, den Tränen nah, erzählt hat, was ihm widerfahren ist."
Das Interesse ist nach wie vor groß. In den meisten Schulen der Region ist der Besuch von Esterwegen inzwischen fest eingeplant – in der Regel im Rahmen des Geschichtsunterrichts. Die Jugendlichen gehören zu einer Generation, deren Großeltern den Nationalsozialismus oft nicht mehr selbst erlebt haben. Wie stellt man es an, dass die Schüler begreifen, was damals passierte in den Lagern?
"So offen wie möglich, so modern, so persönlich, wie es irgendwie geht", sagt Andrea Kaltofen. "Um ihnen zu sagen: Wir sind hier nicht im Museum, es sind ganz besondere Exponate. Und dahinter sind die Geschichten. Und diese Geschichten musst du verstehen und dann musst du für dein eigenes Leben versuchen, etwas mitzunehmen."
Reste des alten Lagers unter der Erde
Zu den Angeboten der Gedenkstätte gehören Vorträge, Führungen oder Projekttage. Vor einigen Jahren fand ein Workcamp für junge Erwachsene statt. Sie machten Ausgrabungen und wurden auch fündig unter der Grasnarbe. Nichts Spektakuläres – ein verrosteter Stacheldraht, der noch unter Strom stand; ein Fenstergriff von einer Baracke.
"Dann habe ich aus der Lagerordnung vorgelesen, das Zitat 'Wer ein Fenster öffnet, wird sofort beschossen'. Jetzt hatten sie diesen Fenstergriff in der Hand - das meine ich, das ist auch eine Möglichkeit der Vermittlung. Das öffnet wirklich ein Fenster in diese Thematik, das kann man sich größer und eindrucksvoller bald gar nicht vorstellen."
Der biographische Zugang spielt auch in einer modernen Gedenkkultur eine entscheidende Rolle. Doch das allein reicht nicht aus, sagt Jens-Christian Wagner, der Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten. Es sei wichtig, Geschichtsbewusstsein und kritisches Urteilsvermögen zu fördern.
"Die Biografie des Häftlings öffnet Herz und Kopf. Aber wir müssen doch fragen, warum ist der nach Esterwegen gekommen? Welche gesellschaftlichen Bedingungen haben dazu geführt, dass es eine terroristische Diktatur gab, die von vielen unterstützt wurde? Nur wenn wir das machen, können wir Aktualitätsbezüge herstellen und vermitteln, dass die NS-Geschichte auch Auswirkungen auf ihr eigenes Leben hat."
Rechtsradikale Provokationen in Gedenkstätten
Respektloses Verhalten in Gedenkstätten nimmt zu. Es sind nicht nur junge Leute, die zum Beispiel vor Gaskammern oder in Häftlingsbarracken Selfies machen. Viel schlimmer: Gedenkstätten werden zunehmend zu Orten rechtsradikaler Provokation. Das beobachtet Jens-Christian Wagner auch in Niedersachsen.
"Es werden geschichtsrevisionistische Positionen kundgetan mit dem Ziel, nicht um das eigene Wissen zu erweitern, sondern das Ziel solcher provokativen Fragen ist es, den Diskurs letzten Endes zu verhindern. Indem entweder die Diskurshoheit in der Gruppe übernommen wird, bei Gruppenbesuchen, oder indem die Betreuung der Gruppe durch fortgesetztes Provozieren einfach unmöglich gemacht wird."
Die Opferzahlen etwa werden angezweifelt oder es wird behauptet, dass Massensterben im Konzentrationslager Bergen-Belsen im Frühjahr 1945 sei nicht von der SS, sondern vor allem von den Alliierten verursacht worden. Die Gedenkstätten versuchen, mit Argumentationstrainings für Mitarbeiter gegenzusteuern. Andrea Kaltofen hat in Esterwegen bislang noch keine Provokationen mitbekommen.
"Es gibt Einzelne, wo die Lehrer wissen, das ist jetzt vielleicht ein Schüler, der sich dem nicht so anschließt. Ich kenne keine Exzesse, keine Hakenkreuz-Schmierereien – die Schüler sind vorbereitet, mit ihren Lehrern hier und machen auch hier ihre Seminare sehr gut."
Die Eindrücke prägen sich ein
Die Schüler aus Haren haben sich an diesem Vormittag mehrere Stunden lang mit Leben und Sterben in den Emslandlagern beschäftigt. Vielen von ihnen, so wie Leonie, fällt es schwer, nachzuvollziehen, was Menschen damals anderen Menschen angetan haben. Auch die Provokationen von Rechtsradikalen irritieren die 14 Jahre alte Schülerin: "Ich finde es schon krass, dass Leute das überhaupt befürworten, was früher passiert ist. Dass die sich dafür einsetzen."
Jens Gerdelmann, Geschichtslehrer an der Maximilianschule Rütenbrock in Haren, begleitet regelmäßig Schüler in die Gedenkstätte Esterwegen. Was er damit bewirken kann? Das sei von Klasse zu Klasse unterschiedlich. Eines jedoch stellt Gerdelmann immer wieder fest: "So ein außerordentlicher Lernort wie diese Gedenkstätte, das bleibt. Weil es den Schülern näher kommt als im normalen Schulalltag."
In der Gedenkstätte Esterwegen will man künftig neue Wege gehen. Das Ziel: auch in der eher digitalen Welt von Jugendlichen Orte der Erinnerung zu schaffen. Eine Summerschool sei, so Andrea Kaltofen, bereits geplant in diesem Jahr.
Gedenken in der digitalen Welt
"Die jungen Leute das selber machen zu lassen, einen Ort, dazugehörige Biographien zu erkunden. Jetzt können die mit allen Mitteln der digitalen Welt was einscannen, rekonstruieren durch Verfügbarkeit von alten Fotos – und dann entsteht ein Bild von einem solchen Lagerort, das die jungen Leute sich aber selber erarbeitet haben."
Das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen können Besucher mit einer App erkunden, auch soziale Medien werden in die Gedenkstättenarbeit mit einbezogen. Es geht aber nicht nur um mehr zeitgemäße Formen der Pädagogik. Jens-Christian Wagner, der Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, ist überzeugt: Der Druck von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten wird künftig noch stärker werden.
"Und ich glaube, da müssen wir aus den Gedenkstätten auch dagegen halten, deutlich unsere Position ergreifen, gegenüber aktuellen Formen rassistischer, antisemitischer, muslimfeindlicher Ausgrenzungsdiskurse."