Lena Müller u.a: "Treffen mit Sara"
Herausgegeben von Erinnern und VerANTWORTung e.V.
Verlag Hentrich & Hentrich, Leipzig 2021
120 Seiten, 17,90 Euro
Ein Buch wie ein Gespräch
08:26 Minuten
Um Jugendliche für Schoah-Literatur zu interessieren, versucht die Grafikerin Lena Müller, neue Wege zu gehen. "Treffen mit Sara" heißt ihr illustriertes Gesprächsbuch, das die Geschichte der Überlebenden Sara Bialas erzählt.
Vom Foto auf dem Buchcover ist nur die Hälfte eines jungen, ernsten Mädchengesichts sichtbar: dunkle Haare, eine hohe Stirn, schwarze Augen, eine Stupsnase. Den unteren Teil des Fotos verdeckt eine neon-gelbe Bauchbinde. Darauf steht in schlichten Lettern: "Treffen mit Sara".
Das Interesse der Jungen wecken
Lena Müller hat sich dieses Cover ausgedacht. 2019 hat die heute 24-Jährige am Berliner Lette-Verein, einer renommierten Schule für Design und Gestaltung, ihre Ausbildung als Grafikerin beendet und für ihre Abschlussarbeit eine ungewöhnliche Aufgabe gewählt. Sie wollte die Geschichte von Sara Bialas, einer Überlebenden der Schoah, so gestalten, dass sie das Interesse ihrer eigenen Generation weckt.
Müller hat nach der Schule in Israel drei Monate gejobbt und sie interessiert sich für Geschichte: Überlebende allerdings hatte sie bis dahin noch nicht kennengelernt. Jetzt ist ihre Arbeit im Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich erschienen. Verlegerin Nora Pester findet es wichtig, neue Erinnerungsliteraturen zu fördern. Sie sieht deswegen Lena Müllers Herangehensweise als ein "ästhetisches Experiment".
Auch Karin Weimann, die das Projekt als Mentorin begleitet hat, ist begeistert: "Dass der Text den O-Ton von Sara Bialas einfängt, ganz und gar authentisch, finde ich großartig und die grafische Begleitung finde ich auch sehr gelungen. Es ist meiner Meinung nach ein sehr geeignetes Buch für den Schulunterricht, für die jungen Leute. Nichts brauchen wir gegenwärtig dringender als solche Formen der Bearbeitung oder des Gedenkens."
Anregung zum Nachdenken
Das sehen auch andere so: Die Jury des Lette-Vereins hat Lena Müller einen Design-Award für "Treffen mit Sara" verliehen, auch das Publikum wählte das Buch zum besten Beitrag aller Sparten in ihrem Abschlussjahrgang.
Ihre Interviews mit Sara Bialas präsentiert die junge Gestalterin nicht als seitenlangen Text, sondern in kurzen Episoden. Schon auf der ersten Seite von "Treffen mit Sara" gelingt es ihr, Irritation und Unmittelbarkeit herzustellen: "Ich hatte damals eine Mama und einen Papa," steht mittig platziert auf einer leeren Seite neben dem Porträt von Sara Bialas. Und ganz rechts unten, beinahe könnte es überlesen werden: "Natürlich".
Lena Müller kommentiert: "Natürlich, das wäre auch mein erster Gedanke dazu; warum sollte ich damals mit 13 Jahren meine Eltern verlieren." Aber während des Zweiten Weltkriegs sei nichts natürlich gewesen. Darauf verweist Müller mit ihrer Gestaltung. Sie wirft unbefangene Fragen auf, regt zum Nachdenken an.
Aus dem Gruppenfoto ausgeschnitten
Lena Müller arbeitet mit Collagen, sie schneidet einzelne Personen aus den Gruppenfotos aus. So verweisen Leerstellen auf die Ermordung und Vernichtung. Die Grafikerin fügt gelb markierte Lexikoneinträge hinzu, schafft mit Landkarten und Chronologien Assoziationsräume.
An anderer Stelle bildet sie, versehen mit vier verschiedenen Namen, viermal das gleiche Porträt ihrer Protagonistin ab: von ursprünglich Stefania Sliwka zu letztlich Sara Bialas. "Die Porträtserie soll untermalen, dass obwohl sich im Laufe der Zeit ihr Name geändert hat, sie eigentlich immer sie geblieben ist und versucht hat, sich selbst zu finden und nicht zu verlieren, durch alles, was ihr angetan wurde", erläutert Müller.
Die im Buch beschriebenen Stationen von Bialas Weg ähneln denen anderer Überlebender: Sie wird als jüngste von drei Schwestern in eine jüdische Familie mit im polnischen Częstochowa geboren. Nach dem Einmarsch der Deutschen wird sie ins Zwangsarbeiterlager Gabersdorf deportiert und dort im Mai 1945 durch die Rote Armee befreit.
Sara Bialas kehrt nach Polen zurück und erfährt von der Ermordung ihrer Familie. Sie heiratet einen Bekannten, der ebenfalls überlebt hat, bekommt zwei Söhne. 1947 wandert sie zunächst nach Paris aus, geht später nach Israel und kommt 1961 in die DDR.
"Jetzt willst du sicher wissen, warum ich in die DDR – nach Berlin gezogen bin", sagt Sara Bialas in dem Buch zu ihrer Gesprächspartnerin. "Aber das will ich nicht sagen. Alle wollen das immer wissen, aber ich mag das nicht erzählen. Aber es war schrecklich. Ich habe in jedem den Mörder meiner Eltern gesehen. Aber mein Mann wollte nicht zurück nach Israel."
Treffen aufgeschrieben
Lena Müller retuschiert Brüche und Tabus in der Erzählung von Sara Bialas nicht weg, sondern legt sie offen. Sie verdeutlicht das Fragmentarische der Erinnerungen, wählt für die Protagonistin charakteristische Erzählungen aus und versucht nicht, ein komplettes Persönlichkeitsbild zu schaffen: "Die Geschichte ist aufgeschrieben, wie meine Treffen mit Sara verlaufen sind. Das heißt: So wie man es liest, wurde es mir erzählt und jedes Lesen soll einem Treffen näher kommen, so wie bei ihr damals."
Sara Bialas ist Ende April dieses Jahres gestorben. Das Buch hat sie aber noch gesehen und sich darüber gefreut.