Gaucks wichtige Geste zur richtigen Zeit
In einer Rede hat Bundespräsident Joachim Gauck eine stärkere Würdigung des Leids sowjetischer Kriegsgefangener unter den Nationalsozialisten angemahnt. Gerade in dieser Zeit ist das eine wichtige und hoch politische Geste, meint Stephan Detjen.
Das Bild, das die Deutschen vom Schicksal Kriegsgefangener der Wehrmacht hatten, war überwiegend westlich geprägt. Es wurde zum Beispiel in Filmen wie Billy Wilders "Stalag 17" von 1953 gezeichnet oder in der wenige Jahre später entstandenen US-Fernsehserie "Ein Käfig voller Helden", das im fiktiven Stalag 134, einem anderen sogenannten Stammlager der Wehrmacht, spielt. Die Deutschen Bewacher tauchen dort vor allem als harmlos dumpfbackige Feldwebel auf, die von ihren amerikanischen Gefangenen übertölpelt, bestochen und am Ende erfolgreich ausgetrickst werden.
Im ehemaligen "Stalag 326 Senne" hat Joachim Gauck heute eine ganz andere, östliche Perspektive aufgezeigt. Für die mehr 300.000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die hier am Ende des Zweiten Weltkrieges unter sprichwörtlich mörderischen Bedingungen zusammengepfercht waren, war die Gefangenschaft in den Händen deutschen ein Martyrium mit oft tödlichem Ende. Ihr Schicksal stand heute stellvertretend für das von mehr als fünf Millionen sowjetischer Gefangener in deutschen Händen. Mehr als die Hälfte von ihnen kam um.
Gauck nennt die Sowjetarmee ausdrücklich in der Reihe der Befreier
Gauck nahm in seiner beachtenswerten Rede zwei Schlüsselbegriffe geschichtspolitischer Debatten der vergangenen Jahrzehnte auf: Wie Richard von Weizsäcker vor 30 Jahren benennt Gauck den 8. Mai als Tag der Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus. Während Weizsäckers Gedenken aber noch im ganz im Zeichen der Westorientierung der alten Bundesrepublik stand, nennt Gauck auch die Sowjetarmee ausdrücklich in der Reihe der Befreier. Und während Weizsäcker – auch aus autobiografischen Gründen – die Schuld der Wehrmacht an den Kriegsverbrechen der Deutschen noch im Vagen ließ, spricht Gauck heute ein Urteil, das Ende der 90er-Jahre in den erbitterten Debatten über die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung erstritten werden musste: "Die Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht."
Joachim Gauck, der zuletzt mit seiner offenen Kritik an der imperialen Politik des heutigen Russlands Schlagzeilen schrieb, ist unverdächtig, die ambivalente Rolle der Sowjetarmee aus den Augen verloren zu haben. Ihre Soldaten waren Befreier und Besatzer, die im Osten Europas eine neue Knechtschaft begründeten. Viele waren Täter von Massenvergewaltigungen und roher Unmenschlichkeit, die den Krieg im Osten auf allen Seiten prägten. Aber Millionen russischer Soldaten, ihre Familien und Nachfahren waren auch Opfer. In ihrer Heimat – nicht nur in Russland sondern den vielen Völkern der einstigen Sowjetunion – prägt die Erinnerung daran bis heute individuelle und kollektive Identitäten. Joachim Gauck hat darin in einer zutiefst menschlichen und empathischen Rede erinnert. Gerade aus dem Munde dieses Präsidenten und gerade in dieser Zeit ist das eine wichtige und hoch politische Geste.