Wie in Zügen in der NS-Zeit
Mit einer Mahnaktion haben in Bochum mehrere hundert Menschen der Flüchtlinge gedacht, die in einem LKW erstickt waren. Vor dem Schauspielhaus stand ein LKW, in dem man das Leid erahnen konnte. Betroffene Besucher sagten, hier wiederhole sich Geschichte.
Zum Glück wird die Tür zur Ladefläche des Lkw nicht ganz geschlossen. Es ist genau 19:00 Uhr, als sich 71 Menschen vor dem Bochumer Schauspielhaus auf der Ladefläche des weißen Transporters drängen. Nur Minuten später ist drinnen die Luft warm, wenig später stickig. Man spürt den Atem des Hintermanns, im Gesicht die Haare des Vordermanns. Ob die 71 Flüchtlinge, die vor einer Woche bei Wien tot auf der Ladefläche eines baugleichen Lkw gefunden wurden anfangs das gleiche gefühlt haben? Diese Beklemmung, diese Enge? Der Bochumer Spediteur Gerard Graf hatte die Idee, Flucht hautnah spürbar zu machen.
"Mein Wunsch ist natürlich, dass die Deutschen sagen, lasst die rein. Ohne Gefahr, dass man den Leuten hilft, dass man sie abholt, dass man sie hier herzlich willkommen heißt."
Insgesamt waren rund 200 Interessierte nach Bochum gekommen, dazu Duzende Journalisten, nicht nur aus Deutschland. Zu Beginn der Aktion bewegende Worte, unter anderem vom leitenden Dramaturg des Bochumer Schauspielhauses.
"Sozusagen am Ende der Reise, wenn man es fast geschafft hat, in so ein Dingen reinzusteigen, dann darin elendig zu verrecken, man muss das ja mal genauso nennen, wie es ist, finde ich so beschämend als Europäer."
Das Gedränge und Gemurmel beim Einstieg in den Lkw ist groß. Doch drinnen wird es plötzlich stiller. Beklemmung macht sich breit. Wo soll man hingucken, sich festhalten? Wer ist der Fremde neben einem, dessen Atem man spürt? Und in dieser Enge sind Menschen stunden- oder sogar tagelang unterwegs?
"Man kann sich nicht vorstellen, dass es eine Strecke von zehn Stunden, mit 71 Leuten in diesem Raum, dass man das aushalten kann."
Parrallelen zur NS-Zeit
Ein solches Gefühl habe er noch nie erlebt, sagt Marcel Postert. Die Enge im LKW, zusammengepfercht wie Tiere im Viehtransporter: Postert erinnert das an Bilder aus Zügen in der NS-Zeit. Er ist nicht der einzige, der diesen Vergleich zieht. Eine andere Besucherin nickt zustimmend.
"Das ist ja eigentlich identisch. Das ist ja unglaublich. Da wiederholt sich Geschichte auf eine Art und Weise, die beschämend ist."
Nach wenigen Minuten, endlich, ein bisschen kühle und frische Luft weht in den hinteren Teil der Ladefläche. Vorne sind die ersten wieder ausgestiegen. Es reicht ihnen! Schnell folgt der Rest. Jeder will wieder raus.
Gerede und Getuschel überall vor dem Lkw. Alle wollen sich austauschen. Wie hat es der andere erlebt, was war am Schlimmsten? Ist es pietätlos, so etwas nachzustellen? Nein, sagen die meisten. Vanessa Tillmann ist mit einer Freundin gekommen und muss erstmal verarbeiten, was sie gerade erlebt hat.
"Sehr beängstigend, dass man mit so vielen fremden Menschen auf so engstem Raum ist. Dass man sie hört, sie fühlt, sie spürt, sie riecht. Einfach, nee. Warm, stickig. Länger als fünf Minuten möchte ich das nicht aushalten müssen. Es ist sehr unangenehm gewesen. Es ist kein schönes Gefühl."
Die Aktion ist auch ein Gedenken an die Toten, Männer, Frauen, Kinder. "Nie wieder 71facher Mord" steht auf einem Schild vor dem Laster, rote Rosen liegen daneben. Manche bleiben stehen, kehren in sich, machen eine Verneigung. 71 Tote, plötzlich ist das nicht nur eine Zahl, wie sie uns täglich und hundertfach von Flüchtlingen erreicht. 71 – das sind Menschen wie wir. 71 – auf der Flucht vor Terror und Krieg. 71 – die am Ende tot sind.