Der Nachhall der Schüsse
Am 11. März 2009 erschießt ein Ex-Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden 15 Menschen. Deutschland ist geschockt. Die Schüsse hallen lange nach. Die Betroffenen leben bis heute mit der Katastrophe. Einige kämpfen für eine Verschärfung des Waffenrechts. Andere haben sich völlig zurückgezogen.
Bevor sie spielt, schaut sie noch eine Weile über den Flügel hinaus. Hinter dem Flügel ist die Ferne. Dann schlägt sie die ersten Töne an.
Lena Minasenko. Sie spielt Für Viktorija. Eine Eigenkomposition für ihre Tochter. Der Amoklauf von Winnenden hat der Mutter die Sprache geraubt. Und ihr Kind. Viktorija.
Viktorija Minasenko wird am 3. Dezember 1992 in der Ukraine geboren. Ein Wunschkind. Als das Mädchen zwei Jahre ist, geht die dreiköpfige Familie nach Deutschland. Die Tochter soll es besser haben, sich entfalten können, lernen, leben.
Die kleine Familie mit den vielen Hoffnungen zieht in einen Ort nahe Bremen. Viktorija geht in den Kindergarten, später zur Grundschule. Die Minasenkos reisen viel, holen Versäumtes nach. Fotos sollen sie für immer daran erinnern. Viktorija mit Mutter am Eifelturm, Viktorija mit Mutter an der Spree. Nicht reich, sagt Juri Minasenko, aber glücklich, unglaublich glücklich.
Kurz nach der Jahrtausendwende zieht die Familie von Bremen ins schwäbische Winnenden. Juri Minasenko, Arzt und Psychiater, hat im Psychiatrischen Zentrum Winnenden eine gute Stelle bekommen. Viktorija besucht die Realschule, die Albertville Realschule in Winnenden. Bis zum 11. März 2009. Seit diesem Tag spricht Lena Minasenko nicht mehr.
Bernhard Fritz, Oberbürgermeister von Winnenden: "Ich saß genau an diesem Tisch, wo wir hier jetzt das Interview führen, als der Anruf einging: Es gibt einen Amokalarm aus der Albertville-Realschule. Mehr wusste ich nicht. Nur diesen einen Satz. Wir sind gerannt zu unserem Auto, zu unserem Parkplatz, sind dann sicherlich schneller als erlaubt durch die Stadt gefahren und waren nur wenige Minuten danach bereits vor Ort."
"Bitte begeben Sie sich in Deckung!"
Erwin Hetger, Landespolizeipräsident: "Ja und dann, unmittelbar vor Ort, hat der örtliche Einsatzleiter mich über die Fakten Informiert. Da wussten wir bereits die Zahl der getöteten Schülerinnen und Schüler und die Zahl der getöteten Lehrerinnen. Da wurde uns also das ganze Grauenhafte dieser Tat bereits erkennbar.“
Fritz: "Meine erste Wahrnehmung war, dass mir der Leiter unseres Polizeireviers gesagt hat: Bitte begeben sie sich in Deckung. Und die zweite Wahrnehmung war, dass ein Lehrer eine Schulklasse evakuiert hat, nicht aus dem Gebäude heraus, sondern wahrscheinlich aus der Turnhalle daneben. Und dass ein Polizeibeamter ein Mädchen unter dem Arm untergehakt hat und sie dann plötzlich vor der Albertville Realschule zusammenbrach. Und ich bin dann rüber gerannt, was ich erst später wieder erfuhr - das hat sich bei mir nicht ad hoc eingeprägt - und habe ihm geholfen, dass Mädchen aus der Gefahrenzone zu bringen zu einer Sammelstelle, die wir dann auch spontan eingerichtet haben."
Hetger: "Der 11. März 2009 war für mich der schwierigste Tag in meiner 19jährigen Zeit als Landespolizeipräsident. Die Eindrücke, die Bilder, die Gespräche, die man dort führte, die habe ich bis heute nicht vergessen und bis heute nicht voll und ganz verarbeitet. Ich denke, gerade die Bilder am Tatort, die haben sich so tief eingeprägt, dass sie immer wieder hoch kommen. Das ist auch bei mir so. Bis hin, dass es auch nachts Momente gibt, wo man aufwacht und hat diese Situation vor Augen."
Am Sarg von Viktorija sagt der Seelsorger: "Wo Viky war, da war das Licht." Ist jetzt alles aus für Viky?, fragt die Geistliche. Für die Eltern? Für alle?
Der Seelsorger erinnert an ein Mädchen, dass sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens gemacht hat. Ein Mädchen, das sich mit 16 Jahren für andere Kulturkreise interessierte, andere Religionen kennen lernen wollte. Ein Mädchen, das an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand, zum ersten Mal ein bisschen verliebt war.
Zwiesprache mit einem toten Kind
Lena Minasenko, die Mutter von Viky, hat sich seit dem 11. März völlig aus dem Leben zurückgezogen. Zuhause komponiert sie Klavierstücke. Für ihr Kind. Es ist ihr Zwiegespräch mit ihrem Wunschkind.
Manchmal klingelt das Telefon. Mindestens ein mal am Tag ist ein Reporter dran. Umsonst, Lena Minasenko schweigt. Gibt keine Interviews. Eine Reporterin lässt nicht locker, will unbedingt ein Gespräch, muss vorher ihre Fragen zu Papier bringen.
Welche Kleidung trug ihrer Tochter als sie erschossen wurde?, will die Reporterin wissen.
Juri Minasenko gibt im vergangenen Winter sein ein einziges Interview, ein Zeitungsinterview. "Wir waren ein Dreieck", sagt er, und: "Jetzt ist die Struktur weg."
Seit seine Tochter erschossen wurde, ist der Arzt und Psychiater krankgeschrieben. Ein psychische Kranker hat meine Tochter umgebracht, sagt er, wie soll ich da wieder in meinem Beruf als Psychiater arbeiten?
Fritz: "Also ich habe Kontakt nicht zu allen Opfereltern, aber zu einigen, die auch hie und da bei mir im Rathaus sind, und die man bei anderer Gelegenheit trifft. Es ist sehr unterschiedlich und vielleicht ist es auch gut so, dass es keinen Königsweg gibt, wie gehe ich mit der Trauer um. Sondern, dass jeder seine eigene Trauer erlebt, sie auch ausleben muss - ob er will oder nicht."
Thomas Weber, Traumapsychologe: "Der Jahrestag weckt Erinnerungen. Der Jahrestag weckt vor allen Dingen die Verhaltens- und Erlebnisweisen, die die Betroffenen vor einem Jahr zum Teil in grausamer Weise erlebt haben, wieder. Die Bilder, die Gefühle, die Ängste, die Hoffnungen, die enttäuschten Hoffnungen sind genauso wieder präsent, wie am ersten Tag. Und insofern ist es wichtig, dass wir die Menschen in dieser Situation konkret schützen."
Astrid Hahn, Rektorin Albertville-Realschule: "Für uns alle ist es wichtig, dass wir natürlich auch ein Stück Ruhe haben, um es zu verarbeiten. Ich weiß, dass die Presse natürlich auch ein Anliegen hat. Deswegen wird auch die offizielle Trauerstunde natürlich für die Presse freigegeben werden. Aber wir hoffen sehr, dass der Appell, den wir gerichtet haben an die Presse, dass man uns für die inoffizielle Gedenkstunde und auch für die Trauer an der Schule in Ruhe lässt. Das wäre für unsere Verarbeitung sehr wichtig, denn die Kinder haben zum Teil natürlich schlechte Erfahrungen gemacht und jetzt wäre es schön, sie würden gute Erfahrungen machen. Ich wünsche es mir von Herzen.“
Lena Minasenko wird, wenn sie am morgen dazu emotional in der Lage ist, bei der offiziellen Gedenkfeier am Flügel sitzen. Sie wird ihre dritte Komposition spielen. Auf Wunsch der Organisatoren der Gedenkfeier. Mit Passagen, die auch etwas Hoffung tragen. In der Halle werden Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer und Polizisten sein, die das Blutbad überlebt haben. Schwer verletzt viele an Körper und fast alle an der Seele.
Fritz: "Am Anfang war es natürlich so, wir waren geschockt. Wir waren wie gelähmt! Aber bereits nach den Sommerferien 2009 wurden alle Aktivitäten wieder genauso durchgezogen wie ehedem. Und was uns wichtig war, es sollte keine Veranstaltung, die irgendwo in den Jugendbereichen hineingespielt hat, überhaupt gecancelt werden, haben wir auch nicht gemacht, auch nicht am Anfang. Und deswegen sind wir relativ gut über die Runden gekommen."
Fritz:: "Ja, wie sieht es heute aus? Die Hauptbetroffenen verhalten sich natürlich ganz anders als früher. Aber die breite Masse und insbesondere die Jugendlichen - und das ist mir sehr wichtig – sind relativ schnell wieder zu einer gewissen Normalität zurückgekehrt. Mit vielen Jugendlichen mit denen ich reden kann, bei gewissen Anlässen, die sagen mir: Eigentlich wollen wir gar nicht mehr darüber reden. Wir werden es nicht vergessen, wir werden unsere verstorbenen Mitschüler immer in Erinnerung behalten, aber wir wollen anders trauern als immer nur öffentlich-medial dargestellt. Wir wollen unsere Trauer leben können und das muss man akzeptieren."
Fritz:: "Ja, wie sieht es heute aus? Die Hauptbetroffenen verhalten sich natürlich ganz anders als früher. Aber die breite Masse und insbesondere die Jugendlichen - und das ist mir sehr wichtig – sind relativ schnell wieder zu einer gewissen Normalität zurückgekehrt. Mit vielen Jugendlichen mit denen ich reden kann, bei gewissen Anlässen, die sagen mir: Eigentlich wollen wir gar nicht mehr darüber reden. Wir werden es nicht vergessen, wir werden unsere verstorbenen Mitschüler immer in Erinnerung behalten, aber wir wollen anders trauern als immer nur öffentlich-medial dargestellt. Wir wollen unsere Trauer leben können und das muss man akzeptieren."
Opfer und Zeugen können über Jahre traumatisiert sein
Britta Bannenberg, Kriminologin: "Man kann sich angesichts der Seltenheit von Amokläufen natürlich schon fragen, ob diese ganze Hysterie, die im Moment ja auch besteht, nicht völlig übertrieben ist. Ich habe mich lange mit der Frage beschäftigt, ob es überhaupt lohnenswert ist, diese seltenen Fälle zu erforschen. Aber ich bin doch zu der Auffassung gekommen: Es ist wichtig, weil es in dem Moment, wo ein solcher Fall stattfindet, die Welt radikal verändert. Die Betroffenen sind von derart schwerwiegenden Opferwerdungen betroffen, die auch ihr ganzes Leben in der Regel verändern. Schüler, die angeschossen wurden, die erleben mussten, dass Lehrer erschossen wurden, dass ihre Mitschüler, Mitschülerin, erschossen wurden oder heute gelähmt sind, schwerverletzt sind, die traumatisch getroffen sind und jahrelang vielleicht Beeinträchtigungen erleiden. Polizeibeamte, die in ein solches Gebäude hineingehen, erschossen werden oder fast erschossen werden, sehen, was da abgeht an Verletzungen, Krankenschwester, Ärzte. Eine ganze Gemeinde kann am Ende mit dem Namen der Schule, mit dem Namen, dem Ort und dem Thema Amok verbunden sein, somit über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte traumatisiert werden."
Hetger: "Es gab ja nun viele Kolleginnen und Kollegen, die unmittelbar Täterkontakt hatten, die auch weitgehend traumatisiert waren. Und gerade mit denen sich auszutauschen, sehr offensiv, das hat mir persönlich sehr viel gebracht. Da gab es auch überhaupt keine Tabumomente, sondern ich glaube. es war drei vier Tage nach der Tat, mit ca. 30 bis 40 Kollegen ein derartiges Gespräch geführt und habe mich dabei auch voll geoutet. Habe mich auch dazu bekannt, dass bei mir Tränen geflossen sind, habe mich auch dazu bekannt, dass ich permanent Probleme habe. Nicht so sehr die Bewältigung der Lage, die hatte ich, das war mein Eindruck, im Griff. Aber das eigene Ego und die eigenen Probleme, die hatte ich damals noch nicht voll im Griff. Und das habe ich mit diesen Kolleginnen und Kollegen offensiv ausgetauscht. Mein Credo in die Polizei hinein war ja auch immer gewesen: Wer keine Emotionen zeigen kann, ist bei der Polizei nicht geeignet, ist fehl am Platze. Also auch wir als Polizisten, das war meine tiefe Überzeugung, müssen in der Lage sein Emotionen zu zeigen bis hin, dass man zum Äußersten geht und, wenn es sein muss, auch die Tränen nicht unterdrückt und eine Fassade aufbaut, die nicht den inneren Gefühlen entspricht."
Fritz: "Ich hatte mal eine Zeit, da musste ich mal eine kleine Auszeit nehmen. War auch ein kleiner Krankenhausbesuch, mindestens mal für einen Tag dazwischen. Aber ich habe mich wieder soweit erholt, auch nach Gesprächen mit Psychologen und insbesondere mit meinen Familienangehörigen, mit meiner Frau und meinen Töchtern, und das ist für mich die wichtigste Ansprache. Und immer, wenn ich mich mit denen ausgetauscht habe, ging es mir etwas besser."
Bannenberg: "So etwas zu verhindern in Zukunft, das sollte uns schon eine nähere Beschäftigung mit der Thematik wert sein. Auch wenn vielleicht nicht jeder Fall verhindert wird Und auch wenn es ein extremes und seltenes Phänomen ist. Aber es ist in dieser extremen tödlichen Macht auch ein ganz furchtbarer Effekt, der über die Medien ja dann weltweit ausgestrahlt wird und wiederum neue Taten anheizt."
Kriminologin kritisiert Verfügbarkeit von Waffen
Hetger: "Wir haben nach Erfurt bundesweit diskutiert, große Beschlüsse in der Innenministerkonferenz gefasst, sind an den Presserat herangetreten, wollten eine Vereinbarung mit dem Presserat schließen für speziell derartige Taten - das war ein zögerliches Hin und her und am Ende stand nichts. Und dann kam Winnenden... und ich sage ihnen voraus, das wird so weitergehen. Ich denke, der Presserat wird bereit sein zu sagen, das eine oder andere war nicht in Ordnung. Scheckbuchjournalismus, dieses offensive berichten über den Täter, keine Rücksichtnahme auf die Opfer und Angehörigen. Das muss doch jeder normal Denkende sagen, das war nicht in Ordnung. Da werden wir auch einen Konsens mit dem Presserat hinbekommen. Aber ansonsten war für mich die Presseberichterstattung zu täterzentriert. Und dazu hat ja noch mit beigetragen die nachfolgende politische Diskussion, hier in Baden- Württemberg. Ganz offen gesagt, auch dies hat mich persönlich sehr enttäuscht, wie man politisch mit dieser Tat, hier in Baden-Württemberg, umging und insbesondere versuchte, Politik aus dieser Tat herauszuschlagen."
Bannenberg: "Es kommt schon darauf an, dass die Gesellschaft begreift, dass die Verfügbarkeit von Schusswaffen, Schusswaffen in falscher Hand, ein enormer Risikofaktor für diese Taten, aber auch für Familienauslöschungen etwa darstellt, auch für Suizide, die begangen werden."
Bernhard Fritz, Oberbürgermeister der Stadt Winnenden: " … es gibt einen Amokalarm aus der Albertville-Realschule. Mehr wusste ich nicht. Nur diesen einen Satz."
Erwin Hetger, früherer Polizeipräsident von Baden-Württemberg, mittlerweile im lange geplanten Ruhestand. Er leitete den Polizeieinsatz am 11. März 2009 in Baden-Württemberg: "Der 11. März 2009 war für mich der schwierigste Tag in meiner 19jährigen Zeit als Landespolizeipräsident."
Astrid Hahn. Rektorin der Albertville-Realschule: "Für uns alle ist es wichtig, dass wir natürlich auch ein Stück Ruhe haben, um es zu verarbeiten."
Britta Bannenberg. Kriminologin. Professorin für Kriminologie in Giessen. Mitglied der Expertenkommission in Baden-Württemberg nach Winnenden. Ihr Buch „Amok“ erschien dieser Tage: "Ein breiteres Wissen, eine bessere Aufmerksamkeit von Lehrern und Eltern für Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen sind ja trotzdem geboten."
Thomas Weber. Traumapsychologe. Geschäftsführer des Kölner Unternehmens Trauma Transform Consult. Er ist mit einem ganzen Kollegenteam seit einem Jahr in Winnenden im Einsatz: "Die Zeit um den 11.03. herum wird eine sehr sehr schwierige Zeit für die Betroffenen."
Für Viktorija heißt die Eigenkomposition von Lena Minasenko. Die Mutter spielt sie für ihre Tochter. Ein kranker junger Mensch hat der Mutter die Sprache genommen. Und ihr Kind. Viktorija.