Gedenken

Der zerbrochene Ring

Gedenkstätte für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden vom 11. März 2009
Gedenkstätte für die Opfer des Amoklaufs vom 11. März 2009 © Stadtverwaltung Winnenden
Von Svenja Pelzel |
Der 11. März 2009 hat sich in das Gedächtnis der Stadt Winnenden für immer eingegraben. An diesem Tag erschoss der Amokläufer Tim Kretschmer in der Albertville-Realschule 15 Menschen und anschließend sich selbst. Viel hat sich in diesen Jahren verändert.
Kleinstadtidylle mit Kratzer
Markttag in Winnenden - in der Fußgängerzone des kleinen baden-württembergischen Städtchens herrscht Gewimmel. Männer und Frauen kaufen frisches Gemüse und Lebensmittel an den zahlreichen Ständen. Mütter schieben ihre Kinderwagen über das blitzsaubere Pflaster, vorbei an bunt gestrichenen Fassaden. Senioren stehen in kleinen Gruppen mitten im Weg, plaudern. Die Plätze in den zahlreichen Cafés sind fast alle besetzt. Mit einem Wort: Kleinstadtidylle. Doch seit dem 11. März 2009 hat das Bild einen Kratzer. An diesem Tag erschießt ein jugendlicher Amokläufer neun Schülerinnen und drei Lehrerinnen in der Albertville-Realschule des Städtchens, tötet auf seiner Flucht noch einmal drei Menschen und verletzt 13 weitere schwer. Ein Trauma für Schüler, Angehörige und Stadt, das durch die einfallende Medienhorde noch einmal verstärkt wird. In den Monaten danach verändert sich Winnenden. Die Schule wird umgebaut, die Eltern der Opfer gründen ein Aktionsbündnis, seit Herbst 2010 ist Hartmut Holzwarth Oberbürgermeister. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem er sich nicht mit dem Amoklauf auseinandersetzt.
Schwungvoll verlässt OB Holzwarth das Büro, eilt die Rathaustreppen hinab zur Tiefgarage. Er ist an diesem Vormittag mit Künstler Martin Schöneich verabredet, beide wollen die Baustelle der neuen Gedenkstätte besichtigen. Holzwarth ist spät dran, Schöneich schon vorgegangen. Auf der dreiminütigen Autofahrt vom Rathaus zur Baustelle im nahen Stadtpark, grüßt Holzwarth freundlich mehrere Passanten, freut sich über seine alte Nachbarin, die er an einer Fußgänger-Ampel sieht, hält am Straßenrand für eine schnelle Besprechung mit einem Bauleiter. Der 44-Jährige wirkt energiegeladen und so, als ob er jeden Winnender persönlich kennt.
Ein starkes Gemeinschaftsgefühl
"Es gibt Momente, wo man zusammen lacht und es gibt Momente, wo man die Tränen in den Augen spürt und das miteinander aushält. Ganz viele Menschen haben hier auch persönlich Bekannte, die betroffen sind, als Angehörige vielleicht auch tatsächlich selbst jemanden gekannt, der ums Leben kam. Und das hat das Gemeinschaftsgefühl in der Stadt stark betroffen und eigentlich die Menschen auch näher zusammen geführt."
Ganz bewusst hat Holzwarth sich im Herbst 2010 auf die Stelle in Winnenden beworben. Er will mit den Leuten reden, zuhören, etwas verändern.
"Wenn jetzt was Positives herauszulesen ist, dann ist es dieser bewusstere Umgang, die intensiveren menschlichen Begegnungen, die dahinter stehen, und dann die Möglichkeit, an anderer Stelle auf Menschen gut zuzugehen und auch früh zu spüren, wenn irgendwas in Unordnung gerät. Also das hoff ich zumindest, dass das ein Effekt ist aus dem Ganzen."
An der Baustelle im Stadtgarten ist vom Künstler keine Spur:
"Ich guck grad, wo er ist, links oder rechts, also das ist die Baustelle da."
Hartmut Holzwarth zückt sein Smartphone, nutzt die Wartezeit zum E-Mail-Checken. 110.000 Euro lässt sich die Stadt die neue Gedenkstätte in Sichtweite der Albertville-Realschule kosten. Über 270 Künstler haben sich an dem Wettbewerb beteiligt. Gewonnen hat Schöneich mit seinem sieben Meter breiten, schräg liegenden Ring aus Eisen. Durch eine schmale Bruchstelle kann man sich ins Ringinnere quetschen und dort die Namen der Opfer lesen. Am kommenden Dienstag, dem fünften Jahrestag des Amoklaufs, ist Einweihung. Der Gemeinderat hat sich einstimmig für den Entwurf ausgesprochen, auch Holzwarth findet das Denkmal toll und wichtig.
"Diese Achtsamkeit - auch das kann sich abschleifen, da muss man Realist sein. Die Gedenkstätte selber ist aber eher - find ich jetzt - so der Knoten im Tuch, der einen daran erinnert, dass da was war. Und deswegen wird die nicht, wenn sie gebaut ist, abgehakt sein, dann wirkt sie erst. Hoffentlich. So ist die Absicht."
Bildhauer Martin Schöneich kommt, begrüßt den Oberbürgermeister mit kräftigem Handschlag. Beide Männer begutachten das halbfertige Fundament, besprechen geplante Beschilderung und fehlende Teile.
"Was fehlt noch? Das Fundament und dann noch, wenn’s eingegossen ist, vorher, nachher, weiß ich nicht, die Feinschicht. - Vorher - Gelber Splitt , - ja so ein Kalksplitt, Albschotter wahrscheinlich?"
Wie immer, wenn es um gemeinschaftliches Erinnern geht, gibt es auch in Winnenden verschiedene Meinungen. Die einen finden Gedenken und Aufarbeiten wichtig, die anderen können das Thema Amoklauf nicht mehr hören. Auch das bekommt Holzwarth von seinen Bürgern regelmäßig zu hören.
Polizisten verlassen das Gebäude der Albertville-Realschule in Winnenden bei Stuttgart.
11. März 2009 - der Tag des Amoklaufs© AP
Aus dem Trauma lernen
"Ganz generell zum Thema gibt es Stimmen, die sagen: könnt man nicht mal aufhören, reicht’s jetzt nicht mal? Das gibt’s. Allerdings muss ich sagen, das hilft nicht weiter. Wenn sie täglich mit dem Thema umgehen müssen, dann muss man halt damit umgehen. Es geht halt nicht, dass man einfach etwas, was jetzt da ist, dass man das halt verschweigt, das geht nicht."
Einen Moment hält Hartmut Holzwarth inne, blickt gedankenversunken Richtung Albertville-Realschule, die 500 Meter entfernt liegt. Wer den Oberbürgermeister auch nur kurz bei seiner Arbeit erlebt, merkt schnell, dass dieser Mann von einer Idee angetrieben wird: Die Opfer des Amoklaufes sollen nicht umsonst gestorben sein. Winnenden muss aus dem Trauma lernen. Die Schule hat damit schon angefangen.
Raufclub gegen Frust
Mit dick gepolsterten, bunten Schaumstoffschlägern drischt die zwölfjährige, zarte, blonde Antonia kichernd auf den viel größeren 14-jährigen Leonidas ein. Die beiden Jugendlichen leiten den so genannten Raufclub. Gerade haben sie im überdachten Innenhof der Albertville-Realschule Kampffelder mit Klebeband markiert, Schläger, Boxsäcke und Handschuhe bereitgestellt. Bevor gleich in der Pause die Mitschülermeute einfällt, toben sich die beiden schon mal selbst aus.
"Das soll ein Antigewaltprojekt werden. Wenn man mal sauer ist, oder mal irgendwo drauf schlagen will, kann man hier runter kommen, sich halt austoben. Wir haben jetzt auch seit neuestem den schnellsten Box in 30 Sekunden, wie viel Schläge man hinkriegt zu machen. - Und der Rekord liegt bei 100 Schlägen, das war ein Fünftklässler, das ist richtig krass."
Den Raufclub gibt es erst seit ein paar Monaten, ebenso wie das Pausenradio. Es wird von Schülern geleitet und dröhnt immer mittwochs los, sobald die zweite Hofpause beginnt.
Das Bild, das sich dann bietet, ist für eine Schule ausgesprochen ungewöhnlich. Zur ohrenbetäubenden Musik verkloppen sich Jungs und Mädchen gegenseitig mit Schaumstoffschlägern oder dreschen auf zwei Boxsäcke ein. Dabei gelten strenge Kampfregeln, die Antonia und Leonidas aufgestellt haben und an die sich alle halten. Nur so macht das Kämpfen Spaß. Auch Schulleiter Sven Kubick amüsiert sich sichtlich, als er versucht, den Schulrekord des Fünftklässlers am Boxsack zu brechen. Vergeblich. Das anschließende Lob eines Jungen freut ihn deshalb besonders.
"Sie haben gut geboxt."
"Ja war gut?"
"War der Lehrerrekord, hab ich gehört, bin ganz stolz drauf."
Gedenken in der Albertville-Realschule
Raufclub und Pausenradio sind nur zwei Neuerungen, die es an der Albertville-Realschule gibt. Der überdachte Innenhof ist neu, der helle Anbau, die freundlichen Wandfarben überall, ebenso wie das große Lehrerzimmer mit der breiten Fensterfront gleich am Eingang. Aus den drei Klassenzimmern, in denen besonders viele Kinder starben, hat die Schule einen Gedenkraum für die Opfer gemacht, eine Bibliothek und eine Schülerfirma. Unterricht findet hier nicht mehr statt. Neu sind auch die Alarmknöpfe in jedem Klassenzimmer und die schnelle Türverriegelung per Knopfdruck. Doch das allerwichtigste, findet Schulleiter Sven Kubick, sind nicht neue Wände und Sicherheitskonzepte, sondern neue Inhalte an seiner Schule. Raufclub, Pausenradio, Schülerfirma, ökumenische Schulgemeinschaft, Anti-Gewalt-Projekte und zahllose AGs - sie alle haben nur ein Ziel: das Verantwortungsgefühl und das Miteinander der Jungen und Mädchen zu stärken.
"Das ist ein ständiger Prozess. Wir können nicht sagen, jetzt haben wir irgendwann mal Streitschlichter gehabt und jetzt ist es erledigt damit oder wir haben irgendwann mal eine Aktion gemacht zusammen mit einer anderen Schule und da haben wir was Tolles auf die Beine gestellt im Bereich der sozialen Zusammenarbeit und dann war es das. Sondern es ist eine ständige Herausforderung und diese Herausforderung nehmen wir hier gerne an an der Schule."
Deshalb steht Sven Kubick während seiner Pause heute am Boxsack statt im Lehrerzimmer, ebenso wie sein Kollege Werner Klingel. Klingel ist eigentlich Sport-, Erdkunde und Ethiklehrer. Der 43-Jährige trägt Ringel-T-Shirt, Jeans, kurze Haare, lacht viel und wird von den Schülern, die ständig um ihn herum scharwenzeln und irgendwas von ihm wollen, offensichtlich geliebt. Auch er hofft, dass sich die Mädchen und Jungs hier nicht nur wohlfühlen, sondern sich mit der Albertville Realschule identifizieren.
"Die sind ja auch echt lang da, also im Wachzustand die Hälfte des Tages. Ist ewig! Und da kann es doch nicht nur um Mathe, Deutsch, Englisch gehen. Da muss doch noch viel mehr dazu! Ich glaube, dass das unsere Aufgabe ist und dass die Aufgabe immer größer wird, dass sich das immer mehr zu dem verschiebt, dass man wirklich Beziehungsarbeit leisten muss, dass man die Kommunikation miteinander in irgendeiner Form ausbaut, dass man die pflegt. Dass man Vertrauen zueinander haben kann, also dass Schule nicht nur Lernort ist, sondern dann Lebensort."
Lernort und Lebensort
Ein Lebensort, der jedes Jahr Anfang März leicht aus den Fugen gerät.
"Ja, es ist nicht nur so, dass sich hier positive Dinge daraus entwickelt haben, sondern wir spüren auch eine gewisse Belastung rund um den 11.3. Und hier müssen wir schon damit rechnen, dass es von Gemütszuständen, die beeinflusst werden, bis hin zu Depressionen alles geben kann. Dass auch Kolleginnen und Kollegen auch gereizter sind rund um den 11.3., dünnhäutiger sind, weil einige Kollegen hier im Hause ja den Amoklauf auch miterleben mussten. Und die Folgen lassen sich auch nach fünf Jahren nicht einfach so vom Tisch kehren."
Während die jüngeren Schüler in der Pause raufen, haben sich ein paar ältere Mädchen und Jungs zum Quatschen in den Raum der Stille zurückgezogen. Auch Mike. Der 15-Jährige geht in die zehnte Klasse, engagiert sich in der ökumenischen Schulgemeinschaft, die sich in dem Raum regelmäßig trifft. Seine Altersstufe ist die letzte, die den Amoklauf noch selbst erlebt hat, alle anderen Schüler kamen später an die Albertville. Obwohl fünf Jahre für junge Menschen eine lange Zeit sind, kann sich Mike an den 11. März 2009 ganz genau erinnern.
"Ich war in der fünften Klasse, im Matheunterricht und wir haben dann so Schläge gehört, das hat sich für uns angehört als ob Stühle in einem Raum drüber umgeschmissen wurden. Das war dann irgendwann störend, dass ein paar auf unseren Lehrer zugegangen sind und gesagt haben, er soll mal gucken, weil wir so nicht arbeiten können. Und der hat das recht schnell verstanden, ich glaube, dass da vor der Türe ihn jemand gewarnt hat. Das war im Erdgeschoss und dann sind wir zum Fenster raus und sind dann auch eine der ersten Klassen gewesen, die aus dem Gebäude raus waren, also wir haben recht wenig mitbekommen so gesehen."

Ein Trauerflor hängt vor der Albertville-Realschule in Winnenden.
Kurz nach dem Amoklauf: Trauer an der Albertville-Realschule in Winnenden.© AP
Der Teenager findet es wichtig, dass die Schule regelmäßig an die Opfer erinnert und die neuen Schüler von dem Amoklauf erfahren.
"Also ich find’s schon, dass man darüber reden soll, einfach auch um einfach Nachtäter, dass man es einfach aufmerksam macht, dass es einfach nichts Gutes oder nichts Tolles, ist jetzt ein bisschen blöd ausgedrückt - einfach nichts in die Richtung geht. Dass man einfach frühzeitig handeln kann in solchen Momenten dann."
Oliver, Mikes Kumpel, der neben ihm auf einem der vier Sofas im Raum der Stille rumlümmelt, nickt. Der 16-Jährige ist erst seit kurzem hier.
Neues Miteinander
"Wenn ich das auch mit meiner alten Schule vergleich, das hat die Schule schon zusammengeschweißt. Doch, doch, das ist hier doch ein anderes Miteinander, wenn ich jetzt so recht überlege. Die Schüler haben einfach hier was erlebt und ich merk das einfach selber, dass hier der Zusammenhalt einfach anders ist, dass er hier wirklich stärker ist und intensiver."
Dieser Zusammenhalt wird unter anderem durch die ökumenische Schulgemeinschaft gefördert. Bei dem Projekt, das eine Idee der drei Religionslehrer war und so in Deutschland einmalig ist, machen neben Oliver und Mike noch 90 weitere Schüler mit. Wer welcher Religion angehört, ist völlig egal. An der Pinwand hinter den Sofas hängen Fotos der letzten Aktionen: ein Hilfsprojekt für Namibia, gemeinsame Pilgerreisen und Gottesdienste, Besuche im nahen Altenheim. Das Ziel lautet auch hierbei: mehr Miteinander.
"Ja natürlich achtet man da jetzt schon ein bisschen mehr drauf, wie die sich verhalten. So was taucht halt meistens im Untergrund auf, meistens bemerkt man es nicht, aber ich denke, wenn sich jetzt ein Kumpel von mir wirklich, wirklich auffällig verhalten würde, würde ich schon mal danach gucken, ob der nicht ein bisschen durchdreht."
Die Pause ist zu Ende, für die meisten Schüler geht der ganz normale Unterricht weiter.
Die Schüler der 7b begrüßen ihre Lehrerin immer im Stehen und setzen sich dann gemeinsam hin. Dieses Ritual ist irritierend altmodisch, doch Respekt und Aufmerksamkeit bekommen an der Albertville Realschule beide Seiten - Schüler und Lehrer. Genau darum geht es auch in dem Theaterstück, das Schauspieler Thomas Fritsche in der Klasse an diesem Vormittag vorführt.
"Ich grüße Euch ganz herzlich, ich freu mich hier zu sein. Das Stück heißt: war doch nur Spaß und es handelt grob gesagt vom Miteinander im Schulalltag."
Die Teenager hören Fritsche die nächste Stunde konzentriert zu. Zwei Mädchen und zwei Jungs bekommen Kasperpuppen, spielen ernsthaft mit. Niemand döst vor sich hin. Selbst die Jungs in den hinteren Reihen melden sich bei der anschließenden Diskussion zu Wort.
"Was ist Euch denn so am Stück aufgefallen, euer Eindruck, den ihr jetzt habt?"
"Also dass sich nicht nur die Schüler gegenseitig beleidigt haben, sondern auch der Lehrer die Schüler ein bisschen. Ich bin jetzt mal ehrlich, aber so sieht es bei vielen Klassen echt aus."
"Glaube ich auch. Lachen. Deswegen machen wir das auch."
Thomas Fritsche hat das Stück schon über 500 Mal in ganz Baden-Württemberg aufgeführt. Immer sind seine Zuhörer voll bei der Sache. Finanziert wird seine Arbeit von der "Stiftung gegen Gewalt an Schulen", die aus dem "Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden" hervor ging.
In einem hellen Dachgeschossbüro in Sichtweite zum Rathaus hat die "Stiftung gegen Gewalt an Schulen" ihre Büroräume. An einem Schreibtisch sitzt an diesem Vormittag Gisela Mayer, liest die vielen Mails, die sie jeden Tag von Eltern und Pädagogen aus ganz Deutschland erreichen. Im Büro nebenan druckt ein Kollege die neuesten Presseberichte aus. Gisela Mayer hat beim Amoklauf ihre 24-jährige Tochter Nina verloren, die als Referendarin an der Albertville Realschule gearbeitet hat. Bereits zwei Wochen später gründete sie gemeinsam mit anderen Eltern das "Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden", aus dem im Herbst 2009 die Stiftung wurde. Seitdem ist Gisela Mayer im Dauereinsatz.
Ein Blatt mit der Frage "Warum?" liegt in Winnenden vor der Albertville-Realschule.
Warum? Diese Frage bewegt alle nach dem Amoklauf© AP
Normalität ist nicht mehr denkbar
"Das ist sehr anstrengend, aber auch etwas, dem man sich gar nicht entziehen kann. Weil das Leben hat sich ja verändert. Das war keine freiwillige Veränderung meines Lebens. Das alte Leben ist in gewisser Weise mit meiner Tochter gestorben und es ist so, dass man hinter diesen Tag auch nicht zurückkommen kann D.h. ich kann jetzt nicht zurück in irgendeine Art Normalität und irgendwo weiter machen. Das hat sich verändert. Es war nicht freiwillig, aber es ist so."
Gisela Mayer ist Mitte 50, sehr schlank, trägt weiße Bluse zum schwarzen Blazer, die dunklen, halblangen Haare sorgfältig frisiert. Sie strahlt eine große Kraft aus. Man merkt ihr schnell an, dass auch sie unbedingt etwas verändern will: Nie wieder soll aus einem einfachen Jungen ein brutaler Mörder werden.
"Dieser Junge wurde hier in einer Nachbargemeinde geboren und er wurde nicht als Mörder und nicht als Monster geboren. Und das ist zugleich der Auftrag an uns, so haben wir es verstanden, hier nachzufragen. Was um Gottes Willen ist eigentlich passiert, dass einer - und das sage ich ganz deutlich - von Unseresgleichen, denn es ist ein Junge, der hier aufgewachsen ist, plötzlich zu einem Mörder werden kann, der so völlig mitleidlos seinesgleichen einfach tötet?"
Gisela Mayer ist Philosophin und Psychologin, verbindet ihren Beruf mit dem Engagement in der Stiftung. In den letzten fünf Jahren hat sie unzählige Male mit Politikern und Journalisten geredet, hunderte Vorträge vor Lehrern und Eltern gehalten - immer mit der gleichen Botschaft: Mobbing, Erniedrigung und brutale Gewalt können verhindert werden, indem alle Menschen mehr aufeinander achten.
"Klingt nach einer fast nicht zu bewältigenden Aufgabe, aber auf der anderen Seite ist es auch so: Das wir heute beklagen und was junge Menschen heute beklagen, ist auch nicht innerhalb von einem halben Jahr entstanden. Es kann auch nicht innerhalb von einem halben Jahr Seeligkeit auf Erden geschaffen werden. Das werden wir auch nicht schaffen. Aber vielleicht den ein oder anderen Schritt in die richtige Richtung bewirken, das wäre schon sehr, sehr gut und wir wären schon mehr als zufrieden, wenn wir wenigstens das hinkriegen würden."
Wandern, beten, allein sein
Wenn Gisela Mayer die Erinnerung an ihre tote Tochter zu sehr quälen, dann fährt sie weg aus Winnenden. Wandern hilft, beten und allein sein. Sie kann deshalb auch jeden verstehen, der nicht mehr über den Amoklauf reden möchte.
"Natürlich und ich habe sehr viel Verständnis für diese Menschen. Es ist ja für mich selbst manchmal schwer zu ertragen. Ich denke, ach Gott!! Ich weiß, dass diese Suche nach Normalität eine Lebensbedingung ist, die brauchen wir."
Autorin 27 Birgit Schweitzer zum Beispiel hat es nicht mehr ertragen beim Aktionsbündnis mitzumachen und sich zurückgezogen. Auch fünf Jahre nach dem Tod ihrer Tochter kehrt die Normalität nur langsam in ihr Leben zurück.
Die paar hundert Meter von ihrer Wohnung zum Friedhof geht Birgit Schweizer mittlerweile zu Fuß. Am Anfang hat sie immer das Auto genommen, wollte den mitleidigen Blicken der Nachbarn ausweichen. Der kleine Dorffriedhof in der Nähe von Winnenden liegt idyllisch, mit Aussicht auf Hügel und Wiesen.
Auf dem Grab der 15-jährigen Selina steht ein Marmorherz, auf dem sich ein schlafender Engel ausruht. Den Sockel zieren zwei steinerne Fußbälle. Selina war leidenschaftliche Spielerin. Vorsichtig räumt Birgit Schweitzer ein paar verwelkte Blumen von dem Grab. Direkt nach dem Tod ihrer Tochter war sie fast jeden Tag hier. Jetzt lässt die 52-Jährige ihr Leben nicht mehr nur von der Trauer um ihr Kind bestimmen, kommt seltener.
Der Schmerz bleibt
"Es geht schon in einen Alltag über. Klar. Muss man auch. Kannst nicht dauernd von einem Tag zum anderen leben. Das geht nedda. Gut, das war ja fast vier Jahre so. Also ich hab mich immer so von einem Tag - wupp, wupp - in den anderen gerettet. Und jetzt ist es so, dass dieser Schmerz durch den Verlust nicht mehr so präsent ist. Er ist zwar da, aber er verblasst."
Allerdings, so erzählt Birgit Schweizer, während sie wieder die paar hundert Meter nach Hause geht, schläft sie keine Nacht länger als bis zwei, drei Uhr. Nur im Urlaub kann sie durchschlafen. Wegziehen möchte Birgit Schweitzer dennoch nicht, Selina hing sehr an dem Zuhause. Aber Umbauen geht.
Bis auf Küche, Bad und ein Schlafzimmer ist die Wohnung komplett leer geräumt, alles bauen Birgit Schweitzer und ihr Mann neu, auch Selinas Zimmer. Diesen Raum konnten beide erst mehrere Monate nach dem Tod ihrer Tochter überhaupt verändern.
"Meine Eltern waren damals einen Tag weg und dann hab ich zum Thomas gesagt: Jetzt sind die nedde da, jetzt tragen wir die Möbel runter. Und das haben wir dann auch gemacht. Vielmehr: Der Thomas hat alles runter getragen allein und ich bin in der Küche gesessen auf der Selina ihrem Stuhl und hab nur geplärrt. I konnt gar nimmer. Ganz schlimm, des war so wie jetzt trage ich das letzte Stück raus. Und dann, ja, dann muss man sich halt sagen: es sind Möbel. Es sind Möbel!"
Politiker machen sich vor der Waffenlobby "in die Hose"
Öffentlich für Veränderungen kämpfen kann Birgit Schweitzer nicht mehr, zu den Forderungen von damals steht sie aber immer noch. Mit ein paar anderen Müttern des Aktionsbündnisses war sie 2009 beim damaligen Innenminister Schäuble in Berlin. Die Frauen forderten, dass Großkaliberwaffen für Privatpersonen verboten werden und Sportschützen ihre Munition nicht mehr Zuhause lagern dürfen.
"Wir haben uns ja damals getroffen beim Herrn Schäuble und ja da isch eigentlich im Grund genommen gar nichts passiert. Er hat uns gesagt, dass sie dran sind, das Gesetz zu ändern und sie haben jetzt nur kurzfristig eine Notlösung gemacht, damit sie ein bisschen verschärftes Waffengesetz haben und passiert ist seitdem gar nichts mehr. Ich weiß nicht, warum diese Politiker vor dieser ganzen Waffenlobby sich so in die Hose machen. Es sind ja nur zwei Prozent der ganzen Bevölkerung: Also ich verstehe es nicht."
In den zwei Jahren nach dem Amoklauf wurden in Baden-Württemberg 150.000 private Waffen abgegeben und vernichtet. Derzeit gibt es in dem Bundesland noch immer rund 760.000 Waffen und rund 150.000 Waffenbesitzer. 2011 und 2012 wurden knapp 23.000 von ihnen kontrolliert. Diese Kontrollen sind die einzige Maßnahme, die 2009 nach dem Amoklauf eingeführt wurde. Laut Innenministerium verstießen 13,2 Prozent der Kontrollierten gegen die Aufbewahrungsvorschriften. Auf alle Besitzer hochgerechnet bedeutet dies, dass alleine in Baden-Württemberg über 100.000 Waffen nicht sicher aufbewahrt werden.
Svenja Pelzel: "Als 2009 in Winnenden der Amoklauf passiert ist, habe ich mich in den Wochen danach mehrmals mit den Eltern der Opfer getroffen und mir ihre Geschichte erzählen lassen - ihren Kampf gegen die Traurigkeit bewundert, aber auch gegen das deutsche Waffengesetz. Jetzt, nach fünf Jahren, bin ich wieder hin gefahren und war überrascht, wie allgegenwärtig das Thema noch immer ist."
Svenja Pelzel
Svenja Pelzel© privat
Mehr zum Thema