Unbekannte Frau im Widerstand
Die Kirche selbst stellte Elisabeth Schmitz in Frage, weil diese sich unter den Nationalsozialisten nicht den Verfolgten zuwendete. Margot Käßmann bewundert die Konsequenz der Christin und rätselt, warum diese Kämpferin erst so spät wahrgenommen wurde.
Philipp Gessler: Elisabeth Schmitz, diesen Namen kannten früher nur sehr wenige Menschen. Dabei gehört sie – neben etwa Dietrich Bonhoeffer oder Pater Alfred Delp – zu den wenigen mutigen Christen, die öffentlich gegen die Nazi-Barbarei protestierten. Aber anders als bei vielen Männern des christlichen Widerstands gegen Hitler blieb ihr Name auch nach dem Krieg praktisch unbekannt. Immerhin, kommende Woche wird der Berliner Lehrerin, geboren in Hanau am Main, eine späte Ehrung zuteil: Im Roten Rathaus der Hauptstadt wird ihrer in einer großen Feier gedacht. Sehr spät. Eine Gedenkrede für Elisabeth Schmitz wird Margot Käßmann halten. Mit der früheren Vorsitzenden des Rates der EKD und ehemaligen Landesbischöfin von Hannover habe ich vor der Sendung gesprochen – übrigens auch über Nelson Mandela. Meine erste Frage an die offizielle und derzeit viel reisende Botschafterin der EKD für das Reformationsjubiläum 2017 war, wann sie erstmals den Namen Elisabeth Schmitz gehört habe.
Margot Käßmann: Ich habe ihn schon gehört, nur ich bin ja in Kurhessen-Waldeck als Theologin ordiniert worden 1985, und sie hat in Hanau gelebt bis 1977, und da frage ich mich manchmal, warum habe ich nicht viel mehr gehört, und warum hat es so lange gedauert, bis diese Frau wirklich wahrgenommen wurde.
Gessler: Genau das ist die Frage. Warum war sie so lange vergessen, de facto ja die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts?
Käßmann: Mir ist das, offen gestanden, unerklärlich. Ich frage mich auch bei allem, was ich jetzt gelesen habe, ihre Biografie, Hintergrunddaten, Berichte von Freundinnen aus der Zeit – warum hat sie selbst eigentlich nach '45 nie etwas erwähnt offensichtlich von ihrer wirklich großen Denkschrift, in der sie schon '33 so klar gesehen hat, lange vor der Reichspogromnacht, was sich in Nazi-Deutschland ereignet. Sie war wohl wirklich eine sehr stille Frau, so berichten ja auch Schülerinnen. Das habe ich nachlesen können, dass sie gesagt haben, sie war so ganz zurückgenommen und hatte eine sehr stille Autorität.
Gessler: Da mag auch ein bisschen protestantische Bescheidenheit dahinter gewesen sein, oder?
Käßmann: Das mag sein. Ich muss aber sagen, dass ich mich auch frage, lag es vielleicht daran, dass sie keinen großen Namen hatte? Nun hat man ihr Memorandum, das jetzt so bekannt und relevant wird nach und nach, erst einer anderen Frau, Marga Meusel, zugeschrieben. Nun lag es vielleicht auch daran, frage ich mich, dass das kein großer, ordinierter Theologe war wie Karl Barth, der das herausgegeben hat, sondern einfach eine Frau.
Gessler: Sie hat doch eigentlich alles richtig gemacht. Sie hat 1935, eben genau an Karl Barth, an Dietrich Bonhoeffer, an Helmut Gollwitzer und andere bekannte Mitglieder der bekennenden Kirche mit ihrem Protest gegen die Judenverfolgung sich gewandt und klar gewarnt, also, es droht eine Ausrottung des Judentums in Deutschland. Dennoch gab es von diesen wichtigen Männern der bekennenden Kirche – oder überhaupt der bekennenden Kirche – keine Reaktion. Also selbst bei dieser Richtung der evangelischen Kirche nicht.
Käßmann: Mir ist so interessant beim Nachlesen, dass sie, anders als andere, ja nicht nur danach gefragt hat, was geschieht mit getauften Juden, was geschieht mit der Kirche, sondern sie hat gesagt, die Kirche selbst ist in Frage gestellt in dem Moment, in dem sie sich nicht den Entrechteten zuwendet. Ganz egal, ob sie gleicher konfessioneller Herkunft oder gar nicht kirchlich oder sonst was sind. Und damit hat sie eine viel grundsätzlichere Frage nach dem Sein, nach dem Esse der Kirche gestellt als die anderen. Da geht es nicht um den Erhalt der Kirche, sondern ist die Kirche noch Kirche, wenn sie sich in einer so gravierenden Unrechtssituation sich nicht radikal an die Seite der Menschen stellt, die jetzt leiden und ungeschützt sind.
Gessler: Lag darin, dass sie dann nicht Beachtung fand, auch von diesen tatsächlichen Widerstandskämpfern wie Bonhoeffer, vielleicht auch ein gewisser Machismo dieser großen Theologen oder einfach Desinteresse am Schicksal der Juden?
Käßmann: Es wäre vermessen, wenn ich das so viele Jahre später meine, beurteilen zu können. Aber natürlich, wenn wir zurückdenken, wer sind die großen Widerstandskämpfer, die uns in den Sinn kommen, dann sind das ja Bonhoeffer, Delp und all diese großen Namen. Die Frauen im Widerstand, da ist höchstens noch Sophie Scholl bekannt von der "Weißen Rose" und ein paar Frauen von der "Roten Kapelle", aber sie sind nie so im Vordergrund gewesen, also damals nicht, aber auch heute in der Rezeption nicht. Und das ist eigentlich unverständlich, ärgerlich, verletzend, zu sagen. Gerade diese Frauen haben so viel wahrgenommen, und ich muss sagen, an dem "Memorandum" von Elisabeth Schmitz fasziniert mich gerade, was sie schreibt beispielsweise zur Lage der Kinder. Das ist so sensibel, dass sie sieht, wie mit Kindern umgegangen wird. Sie beschreibt, wie ihre Hefte zerrissen werden, ihnen wird das Frühstücksbrot weggenommen. Es wird in den Schmutz getreten, weil sie jüdischer Herkunft sind. Und sie sagt, es sind christliche Kinder, die das tun, christliche Eltern, christliche Lehrer, christliche Pfarrer, die das geschehen lassen. Sie stellt immer auch die Frage an die Kirche und an die Christen.
"Beachtlich": Freiwillige Aufgabe eines besonderen Status
Gessler: Erstaunlich an der Biografie von Elisabeth Schmitz ist ja auch, dass sie nach der Reichspogromnacht im November '38 mit der Begründung, sie könne für diesen Staat keine Schülerinnen und Schüler erziehen, tatsächlich in den frühzeitigen Ruhestand versetzt wurde.
Käßmann: Es war der Schritt von ihr, von Elisabeth Schmitz, und das ist, finde ich, schon beachtlich, weil es ja auch die Aufgabe eines besonderen Status war. Sie war eine der ersten Frauengenerationen, die studiert hatten, promoviert hatten, die ihren eigenen Lebensunterhalt an einer öffentlichen Schule verdienen konnten. Und dann zu sagen, ich kann das nicht mehr, das ist schon bemerkenswert. Sie hat dann eine kleine Pension bekommen allerdings, durch sehr positive Vermittlung.
Aber das war schon ein enormer Schritt, und ich kann mir nur vorstellen – sie hatte ja Martha Kassel in ihre Wohnung aufgenommen, eine Jüdin, mit der sie lange befreundet war, und hat bei ihr erlebt, das war eine praktizierende Ärztin, wie die nach und nach an die Seite gedrängt wurde. Ihr wurde jede Möglichkeit genommen, sich zu ernähren, zu praktizieren als Ärztin. Und sie war beeinflusst von dem, was sie gesehen hatte, hat gesagt, in diesem Sinne kann ich Kinder nicht unterrichten.
Gessler: Tatsächlich ist sie mit dieser Begründung in den Ruhestand versetzt worden.
Käßmann: Ja, das wurde damals akzeptiert, das ist erstaunlich. Und es ist nicht so ganz klar jedenfalls, was sie dann gemacht hat. Sie konnte wohl überleben bis '43 in Berlin, wurde dann evakuiert nach Hanau, zurück in ihr Elternhaus ist sie gegangen. Und hat dann ja nach '45 bis 1958 wieder unterrichtet. Wohl als kritische Lehrerin, aber die Spur dieses Engagements verliert sich ein Stück. Und das bleibt mir persönlich auch ein Rätsel. Warum hat sie nicht angeknüpft, das "Memorandum" nicht noch mal veröffentlicht? Warum ist sie nicht noch mal zurückgegangen zu diesen Wurzeln? Also, sie ist eine erstaunliche Frau, die aber auch viele Fragen zurücklässt.
Gessler: Was lehrt und denn die Geschichte von Elisabeth Schmitz, auch nach dem Krieg? Dass die widerständigen Gestalten in der evangelischen Kirche eben nach '45 nicht besonders beliebt waren?
Käßmann: Na ja, es gibt ein schönes Buch, "Neubeginn ohne Neuanfang", über die evangelische Kirche nach 1945. Daraus habe ich viel gelernt. Historiker haben da aufgearbeitet, dass die evangelische Kirche natürlich nach '45 nicht sofort neu wurde. Ich kann das für die hannoversche Landeskirche sagen - da wurden zwei Pfarrer suspendiert von Tausenden, ich glaube 3000 waren es damals, während doch so viele der Ideologie gefolgt waren. Also es war nicht so, dass mit '45 die evangelische Kirche plötzlich ganz anders war, sondern das hat viele, viele Jahre, viele Diskussionen, viele Auseinandersetzungen gedauert, auch die eigenen Wurzeln des Antijudaismus zu erkennen, kritisch, selbstkritisch zu sein und dann auch die widerständigen Gestalten, ja, positiv zu würdigen als Menschen, die ein Glaubenszeugnis abgegeben haben.
Gessler: Jetzt ist sie angeblich sehr schlicht beerdigt worden. Es sind gerade mal sieben Leute zu ihrer Beerdigung gekommen. Das ist auch erschütternd, oder?
Käßmann: Ich muss sagen, mich erschüttert das, weil ich denke, damals war ich selbst schon Theologin, das hätte nicht sein müssen, also - wie kann es sein auch, dass sie selbst das nie reklamiert hat für sich? Eine sehr bescheidene, sehr stille Frau, und wenn wir jetzt heute fragen, wie Sie sagen, was bedeutet das für uns, können wir nur sagen: Wir brauchen diese kritischen Denker, aber die müssen auch Raum bekommen, die müssen auch Gehör finden. Und andere, die vielleicht wortmächtiger sind nach außen, müssen das auch nach außen tragen.
Das hat sie ja von Karl Barth erhofft. Sie hat erhofft, dass er das öffentlich artikuliert. Aber er wollte das nicht artikulieren, das müssen wir auch sagen, und manchmal erinnert sie mich an Edith Stein, die an den Papst geschrieben hat, ja auch sehr, sehr früh, mit diesem Wissen um das, was mit den Juden geschieht, und dem klaren frühen Hinsehen. Und beide haben eigentlich keine wirkliche Antwort erhalten von denen, die öffentlich hätten reden können.
Mandela: Die Missionsgeschichte ins Positive gewendet
Gessler: Ich will, wenn Sie einverstanden sind, noch einen kleinen Schlenker machen. Morgen wird ja Nelson Mandela beerdigt. Auch er gehört zu diesen Widerständigen gegen eine Diktatur, und in Ihrer eigenen Biografie spielt vor allem Martin Luther King ja eine große Rolle, die Schriften, die Sie damals gelesen haben. Glauben Sie, dass Nelson Mandela, auch wenn er sich immer zurückgehalten hat in Bezug auf seine eigene Religiosität, dass auch er als eine religiöse Gestalt gesehen werden kann?
Käßmann: Ich habe ihn zweimal persönlich erlebt. Einmal bei einem Empfang kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten. Da war ich Generalsekretärin des Kirchentages in der südafrikanischen Botschaft. Da war ich absolut fasziniert davon, weil ich nicht fassen konnte, dass jemand nach 27 Jahren aus dem Gefängnis kommt und solche Lebensfreude ausstrahlt. Ich denke, das ist ein großes Erbe, dieses nicht Verbittert-, Verzehrtsein von den Entbehrungen und von den Verletzungen, sondern froh, fröhlich, ich würde sagen, glaubensstark nach vorne sehen.
Und das zweite Mal bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1998 in Harare. Und da hat Mandela gesagt, sehr zurückhaltend, was seinen eigenen Glauben betrifft. Aber die Missionare in Südafrika hätten sicher auch Fehler gemacht, aber sie hätten in Südafrika die Botschaft verbreitet, dass jeder Mensch die gleiche Würde hat, gleich welche Hautfarbe. Und er hat damals gesagt, wenn ein schwarzer Mann in den Spiegel schaute, konnte er sich sagen, die gleiche Würde für alle. Das sei auch eine missionarische Botschaft damals gewesen. Das hat mich berührt, weil es auch manches, was an der Missionsgeschichte sicher Fehlentwicklungen und Fehler waren, doch auch wieder ins Positive gewendet hat. Wenn das die Botschaft war, die bei jemandem wie Mandela ankam, dann ist es eine gute Botschaft, gleich, wie er sich religiös verortet hat.
Gessler: Haben Sie getrauert, als Sie von dem Tod von ihm gehört haben?
Käßmann: Ja, ich habe schon getrauert, weil er eine der großen Gestalten war, die so ein Hoffnungssymbol sind. Und gleichzeitig kann ich verstehen, dass in Südafrika auch gefeiert wurde, dass das Leben dieses Mannes gefeiert wurde. So viele so großartige Symbole für Versöhnung, Frieden, Verständigung, Bereitschaft, die Hand hinzureichen – haben wir derzeit nicht, nein.
Gessler: Dies war ein Interview mit Margot Käßmann. Vor Kurzem hat sie ein "Lesebuch“, wie es sich nennt, herausgegeben. Es heißt "Gott will Taten sehen. Christlicher Widerstand gegen Hitler". Käßmann stellt darin zusammen mit Anke Silomon bekannte und unbekannte Kämpferinnen und Kämpfer gegen das Hitler-Regime vor - darunter auch Elisabeth Schmitz. Das Buch ist bei C.H.Beck erschienen, hat 479 Seiten, 48 Abbildungen und kostet 19 Euro 95.
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