20. Todestag Rio Reiser
Erinnerungen an Rio Reiser zu seinem 20. Todestag und welche Rolle die Religion in seinem Leben spielte, finden Sie auf unserer Webseite.
Rio Reisers Songs im Orchestergewand
Vor 20 Jahren starb der Sänger Rio Reiser. Der hätte wahrscheinlich nicht mal im Traum daran gedacht, dass seine Lieder mal von einem großen Orchester aufgeführt werden. Genau das tut aber die STÜBAphilharmonie zusammen mit der Sängerin Anna Mateur.
Jan Maihorn: "Schon einige vom Orchester sind so jung, dass sie 1996, als Rio starb, grad mal geboren wurden. Und jetzt hören sie die Texte, beschäftigen sich damit und so geht’s dem Publikum hoffentlich auch. Dass die von dem: Ja, ja, das ist doch der mit 'Junimond' oder 'König von Deutschland' sagen: Ach das hat der auch geschrieben? Auf welcher Platte ist das denn? Ach, da muss man ein Soloalbum kaufen, ich habe nur die Hits. Sodass die Leute auch einfach mal eine andere Seite von Rio kennenlernen."
Der Speisesaal der Jugendherberge in Kretzschau bei Zeitz ist ein temporärer Orchestersaal. Harfe, Bläser, viele Streicher, eine starke Rhythmusgruppe, dazu diverse Schlagwerke. Der Raum platzt aus allen Nähten. Hier proben Musiker der STÜBAphilharmonie (aus dem thüringischen Stützerbach), erweitert um Schlagzeug, Bass und Gitarre. Der Name des Orchesters leitet sich aus dem Gründungsortsnamen Stützerbach ab.
Die meisten sind zwischen 20 und Ende 30. Viele kannten den so rebellischen wie poetischen Sänger Rio Reiser kaum, hatten irgendwann mal einen Song im Radio gehört. Mehr nicht.
Der in Leipzig lebende Geiger und Mathematiker Björn Mäurer hat das anders erlebt. Rio Reisers Kassetten liefen bei ihm im Kinderzimmer, das war Ende der Achtziger-Jahre.
Björn Mäurer: "Ich habe die Musik sehr zeitig kennengelernt, durch meinen großen Bruder, schon vor der Wende und das war für mich nicht klar, dass das orchestral machbar ist. Insofern habe ich mich schon gefreut, dass wir sowas machen wollen. Die Lieder finde ich auf jeden Fall nach wie vor sehr wichtig, weil viele Dinge, die er anprangert und schon in seiner Scherbenzeit thematisiert hat, nach wie vor nicht gelöst sind. Das bleibt aktuell, wenn man sich soziale Scheren ansieht, die gerade jetzt wieder aufgehen, dann ist das auf jeden Fall nichts was vergangen ist."
"Rio Reiser ist das Gegenteil von einem Orchester"
Wer ein gutes Rio Reiser-Programm mit Orchester auf die Bühne bringen will, der muss Risiken eingehen. Dazu braucht es auch eine selbstbewusste Stimme. Diese hier gehört Anna Mateur. Die Sängerin aus Dresden ist politisch engagiert, reibt sich an Engstirnigkeit und schreibt schon lange eigene Songs.
Anna Mateur: "Am Anfang war ich Feuer und Flamme, sonst hätte ich es ja nicht gemacht. Ich komme ja aus einem klassischen Haushalt. Ich weiß, wie man sich im Orchester verhält und ich kann auch vom Blatt singen, aber ich habe mir das so schön abtrainiert. Und was mich an Rio Reiser interessiert und was viele an ihm finden, ist genau das Gegenteil von einem Orchester. Das man sagt, ich bin mein eigener Mensch und ich mach mein Ding. Aber man sollte einem Orchester nicht absprechen, dass sie ja doch alle ihre eigene Individualität haben."
Individualität versus Orchesterdisziplin – da schlagen Funken bei den Proben zu den Reiser-Liedern. Das ist genauso normal beim STÜBA-Orchester, wie die Kinder der Musikerinnen und Musiker, die immer mal durchs Fenster reinlugen oder tapsig durch die Reihe laufen. Trotzdem wird konzentriert geprobt.
Sophia Johnson aus Weimar hat manchmal ihre kleine Tochter auf dem Schoß. Die Geigerin lacht befreit bei jeder gelungenen Stelle.
"Als ich geübt habe, konnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen, wie das später klingen wird. Und das Spannende an den ersten Probentagen war einfach, zu hören, wie sich die ganzen Stimmen zusammensetzen. Es ist einfach eingängig, es geht ins Ohr. Dadurch das ne Band dabei ist, hat man gleich einen ganz anderen Groove und das macht es für uns einfach."
Zwischen Jazz und Sinfonie
Es groovt gewaltig bei den Proben und das hat nicht nur mit der Spielfreude der STÜBA-Musiker zu tun. Sondern auch mit den variationsreichen Arrangements und Orchestrierungen von Jan Maihorn und Renárd Aust, beide kennen sich vom Jazzstudium in Dresden und Rotterdam. Sie entwickelten einen packenden Klang zwischen Jazz und sinfonischer Fülle. Da hört man Bossa Nova, Samba oder Swing. Es gibt auch ruhige Momente, nichts wirkt zugekleistert.
Immer wieder verhandeln die Musiker, ihr Dirigent Martin Lentz und die Sängerin Anna Mateur über mögliche Ausbrüche aus der Partitur. Das ist erwünscht und spannend, sagt der Trompeter Fabian Zocher.
"Im Fluss ist es eigentlich immer, nur hier ist es so, dass man miteinander Sachen erarbeitet. Das ist der Prozess. Sie hat halt Ideen, die sie uns entgegenwirft, sozusagen einfach vor die Füße legt und wir müssen jetzt gucken, dass wir jetzt das Sammelsurium aus ihrem Kopf umsetzen können, was nicht ganz einfach ist manchmal."
Anna Mateur: "Wieviel Anarchie ist da möglich, ohne dass es so eine Puppenhausanarchie wird? Aber für mich ist es wichtig, dass es vom Text her kommt, das er wirklich was wollte. Was jeder Musiker, du kannst nicht in die Köpfe reingucken, lebt oder nicht lebt. Und das hört man dann, ob die einfach nur brav erfüllen oder ob die dann auch den Text mitleben und mitgehen. Da bin ich auch mit meinen Jungs ganz rigoros."
Raum für Assoziationen
Mit dieser Haltung von Anna Mateur kommt Spannung in den Abend. Die Sängerin sorgt schon bei den Proben für unvorhersehbare Wendungen. Schnell wird klar, Reisers Musik und vor allem seine Texte, lassen viel Freiraum für Assoziationen zu. Dass sie Orchesterarrangements vertragen, daran hat Jan Maihorn, der die Idee zu diesem Konzertabend hatte, keinen Zweifel.
Jan Maihorn: "Bei der STÜBA ist jeder Einzelne am letzten Pult dabei, weil er weiß: 'Ich will hier mitmachen, ich weiß warum ich hier bin.' Und das ist für so ein Thema wie Rio Reiser, dessen Grundthema Gemeinsamkeit war, Gold wert. Das macht die ganze Sache glaubhaft. Und das macht die ganze Sache eigentlich auch erst möglich. Ich denke, wir sind da ziemlich sicher im Fahrwasser, dass wir da keinen kitschtriefenden Abend abliefern. Im Gegenteil, ich könnte mir vorstellen, dass da Leute sagen, eine Ballade ohne so viele Jazzideen wäre auch mal ganz schön gewesen. Aber da müssen sie auf ein anderes Konzert gehen."
Nein, bitte erstmal dieses Rio Reiser Konzert mit der STÜBAphilharmonie besuchen. Die Arrangements haben das Potenzial, noch mehr emotionale Wucht und überraschende Momente aus seinen Songs herauszuholen, ohne dass es kitschig klingt. Und Anna Mateur bringt die Rio Reiser Texte nostalgiefrei und glaubwürdig rüber.
Die Spontanität von Sängerin und Orchester beim Umgang mit dem Material hilft ganz sicher dabei, auch die Ohren jener zu öffnen, die Rio Reisers Lieder bisher überhaupt nicht kennen.