Kritik an politischer Bildung mit Zeitzeugen
Wie vermittelt man Geschichte am besten? Die Gedenkstätte Berlin -Hohenschönhausen, das ehemalige Stasigefängnis, setzt auf die Arbeit mit Zeitzeugen. Sie reinszenieren historische Situationen - eine Methode, die manche Besucher verängstigt oder sogar überwältigt.
"Name? - Philipp. - Kommen Sie bitte mal mit zur Klärung eines Sachverhalts! Links und rechts eingehakt und ab in einen Pkw, aber meine Damen und Herren in einem Pkw kann man ja rausschauen, man sieht also, wo man hinkommt, hier in Ost-Berlin kam auf der Magdalenenstraße ein ganz bestimmtes Objekt, dann wusste man wo man ist, und da wurde man umgeleitet, in diesem Ding."
Das, was Erhard Neubert, hier als "dieses Ding" bezeichnet, ist einer der berühmten Barkas, der Stasi-Gefangenentransporter, der in einer Garage steht. Um das Auto steht eine Gruppe Besucher, sie hört gespannt zu. Erhard Neubert, der nach einem gescheiterten Fluchtversuch selbst in die Fänge der Stasi geraten war, schildert, wie die Stasi-Mitarbeiter Häftlinge in dem Wagen stundenlang herumgefahren haben, um sie zu desorientieren.
Reinszenierung historischer Situationen
Phillipp, ein schlaksiger Mann, um die 30, grinst, als er den Verhafteten spielt. Er wird dabei beobachtet: Eine Frau mit einem Aktenkoffer in der Hand sieht sich das Schauspiel an, skeptisch, oft verschränkt sie die Arme. Es ist Juliane Brauer. Sie ist Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Sie interessiert sich vor allem für den Einsatz von Emotionen beim historischen Lernen. Das was sie sieht, gefällt ihr gar nicht, auch in der darauffolgenden Szene, als die Gruppe durch die Schleuse gegangen ist:
Erhard Neubert: "Ich weiß ja gar nicht, wo ich bin und der macht mir wirklich Angst und der führt mich jetzt hier durch und ich würde ihn in meiner Angst, ein bisschen schubsen. Dann hätte er nichts anderes gemacht, als hier zu ziehen. - Möchten Sie hier mal ziehen? Ich habe Sie gefragt, ob Sie ziehen möchten! So wie Sie aussehen, dürften Sie keine Angst haben! Ziehen Sie! Ja, bauen sie es wieder zusammen, meien Damen und Herren, primitiv aber effektiv, Stromkreis wird unterbrochen, hier läuft Alarm auf."
Ein etwas überfordert wirkender Besucher zieht an einer Schnur, die sich auftrennt, dadurch schaltet sich eine Lampe ab. Alarm im Gefängnistrakt. Juliane Brauer trennt sich von der Tour, nimmt außerhalb des Haftgebäudes im Hof Platz auf einer Treppe. Sie schildert, was ihr Unbehagen ausgelöst hat:
"Er hat oft gefragt: Können Sie das nachvollziehen? Sind Sie jetzt hier bei mir im Jahr 1946? Und das ist ne Situation, die fand ich jetzt schwierig. Das hat aber gar nicht mit der Tour an sich zu tun, das ist das Konzept hier, ganz stark auf emotionales Lernen. Also ich für meine Begriffe habe mich überwältigt gefühlt. Ich wollte das nicht haben, dass hier die Haftsituation, die Ankunftssituation nachgespielt wird, also ich finde sowas unheimlich übergriffig, es gibt ganz viele die das interessant finden."
Zeitzeugen in Hohenschönhausen auch historisch geschult
Juliane Brauer erwähnt den sogenannten "Beutelsbacher Konsens", an den sich politische Bildungsarbeit in Deutschland seit den 70ern orientiert und der besagt, dass nicht überwältigt werden darf. Sie möchte nicht missverstanden werden, wiederholt immer wieder, sie diskreditiere keineswegs die Sichtweise von Opfern der DDR-Diktatur. Eine einnehmende Ansprechhaltung - darauf zielt ihre Kritik - kann auch einen negativen Lerneffekt auslösen:
"Also ich fühlte mich blockiert."
Ob das die Mehrheit der Besucher auch so sieht? Die Zahlen der Gedenkstätte lassen sich jedenfalls anders deuten. Seit ihrer Gründung im Jahr 1994 kamen viereinhalb Millionen Besucher. Allein im vergangenen Jahr war es fast eine halbe Million, inzwischen müssten Führungen abgesagt werden, weil zu viele Interessierte kommen. Und doch: Die Gedenkstätte ist sich der Kritik an ihrem Konzept bewusst und beteuert, dass ihre Zeitzeugen auch historisch geschult würden. Also nicht nur Zeitzeugen seien.
Einen Tag nach Juliane Brauers Besuch wird eine ganz prominente Frau über das Gelände geführt. Sie ist gekommen, um sich über bauliche Sanierungsarbeiten zu informieren. In der Einrichtung sollen bis zum Herbst 2019 für knapp neun Millionen Euro historische Oberflächen im Inneren, etwa Fußböden und Wände, denkmalgerecht saniert werden. Das soll die Gedenkstätte für den Besucherandrang in der Zukunft fit machen.
Angela Merkel: "Bin auch sehr gerne mal wieder hier her gekommen. Guten Tag! Ist ja auch eine Menge passiert, und Herr Knabe weist mich auch immer darauf hin."
Merkel würdigt Engagement der Zeitzeugen
Hubertus Knabe, das ist der Gedenkstättenleiter. Er führt Kanzlerin Merkel gemeinsam mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters über das Gelände. Es geht unter anderem vorbei an ehemaligen Hafträumen und der Dauerausstellung. Mit dabei ist ebenso Arno Drefke. Er ist auch Zeitzeuge. Der 83-Jährige, war bis 1962 zehn Jahre in Stasi-Gewahrsam, weil er sich in einem antikommunistischen Jugendverband engagiert hatte. Der Mann aus Wittstock führt heute selbst Gruppen durch die Gedenkstätte. Besonders freut er sich über junge Interessierte, die es immer schwerer haben, sich DDR und Stasi vorzustellen, im Gegensatz zu ihm:
"Wir sind ja da zur Kranzniederlegung gegangen. Da hab ich der Kanzlerin erzählt, dass ich eben jetzt, wenn ich zur Kranzniederlegung gehe, 1954, dass in der Nachbarzelle ein Todeskandidat war, der auf seine Hinrichtung gewartet hat und dann eben nach Dresden gebracht wurde und auch hingerichtet wurde."
Die Schilderungen haben die Kanzlerin beeindruckt. In einer Stellungnahme würdigte sie ausdrücklich das Engagement der Zeitzeugen:
Merkel: "Ich bin besonders dankbar, dass Herr Fröhnel und Herr Drefke als ehemalige Gefangene mich begleitet haben auch auf einigen dieser Stationen und natürlich hat mich besonders beeindruckt, dass Herr Fröhnel mir einen Schlüssel aus Bautzen übergeben hat, den ich im Kanzleramt natürlich auch an entsprechender Stelle ausstellen werde, um nie in Vergessenheit geraten zu lassen, dass das, was wir als selbstverständlich nehmen, viele Jahre nicht selbstverständlich war."
Wie kann man nicht in Vergessenheit geraten lassen, was in der DDR passiert ist? Auch wenn die Gedenkstätte auf Zeitzeugen setzt und weiterhin sie ermuntert, Kontakt mit ihr aufzunehmen, spielt sie damit nur auf Zeit. Was passiert, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind? Hubertus Knabe, der Gedenkstättenleiter:
"Wir stellen uns langsam darauf ein, vor allem wollen wir im Rahmen des Umbaus die Führungen insoweit modernisieren, als dass wir unsere Guides mit Tablets ausstatten wollen, wo man in einzelnen Zellen, die Zeugen zu Wort kommen lassen kann."
Die Geschichtsdidaktik der Zukunft? Der virtuelle Stasi-Häftling auf dem Bildschirm? Eine Chance hat die Technologie auf jeden Fall: Sie wird Distanz schaffen zwischen Besucher, Zeitzeuge und Gedenkort.