KZ-Gedenkstätte Dachau
Das Uni-Angebot „Zertifikat Praxisfeld Gedenkstättenarbeit“ will Teilnehmende in der KZ-Gedenkstätte Dachau auch für Konflikte um die Präsentation authentischer Erinnerungsorte rüsten. © Getty Images / Athanasios Gioumpasis
Das Grauen der NS-Geschichte vermitteln lernen
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In einem bundesweit einzigartigen Angebot schult die Universität Augsburg mit der KZ-Gedenkstätte Dachau Studierende für die Gedenkstättenarbeit. Das sei auch eine Antwort auf Angriffe auf die Erinnerungskultur, sagt Historiker Dietmar Süß.
Anja Hentschel aus dem Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau bei München reicht einen kleinen Aluminiumdeckel mit einer Einritzung unter den 13 Studierenden der Universität Augsburg herum. Er ist in eine Schutzverpackung eingehüllt und ist eines der vielen wertvollen Objekte, die das Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau bei München umfasst. Wenn man genau hinschaut, sind auf dem stark mitgenommenen Objekt ein Datum, zwei Initialen und der Name „Laura“ zu erkennen.
Es habe eine Weile gedauert, bis sie herausgefunden hätten, was das bedeute, erklärt Hentschel. „Da geht es um das Buchenwald-Außenlager Saalfeld mit dem Namen ‚Laura‘.“ Die Buchstaben "DW" und "DE" stünden für zwei polnisch-jüdische Häftlinge. „Dann steht dort das Datum 13.04.1945. Genau an diesem Tag ist ein Todesmarsch von diesem Außenlager Richtung Dachau gegangen und kam sechs Tage später an.“
Aufspüren der Geschichte von Objekten
Die Studierenden wollen einen Einblick in die Arbeit im Archiv der Gedenkstätte bekommen. Sie lernen, dass das Aufspüren der Geschichte von Objekten auch dazugehört. Erst dann können Fundstücke wie der eingeritzte Aluminiumdeckel auch ausgestellt werden. „Heute ist es uns sehr wichtig, die Objekte als eigenständige Quelle wahrzunehmen, Individualgeschichten zu erzählen“, sagt Antje Hentschel.
Anhand des Aluminiumdeckels könne man zeigen, wofür Objekte, wenn sie ausgestellt werden, stehen könnten: „Zum einen für diese Transporte zwischen den Konzentrationslagern, gerade der Endphase. Für das Individualschicksal der beiden Häftlinge; die jüdische Häftlingsgruppe an sich; für die Selbstbehauptung, da sie ihre Leidensgeschichte selber dokumentieren. Und natürlich auch für den privaten Besitz: Es gelang ihnen, das überhaupt aufzuheben. Weil: Eigentlich musste alles Persönliche ja abgegeben werden.“
Angebot zum "Praxisfeld Gedenkstättenarbeit"
Mit nur einem einzigen Fundstück lässt sich veranschaulichen, was die Studierenden bislang in der Theorie, in Vorlesungen und Seminaren gehört haben. Die meisten von ihnen studieren Geschichte, mit Abschluss Bachelor, Master oder auf Lehramt. Am authentischen Erinnerungsort sollen sie vermittelt bekommen, was sie später einmal mit ihrem Studium anfangen könnten: Gedenkstättenarbeit. Und zwar in einem deutschlandweit bislang einzigartigen Uni-Angebot, überschrieben mit dem Titel „Zertifikat Praxisfeld Gedenkstättenarbeit“. Eingeführt hat es der Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Augsburg. Im vergangenen Wintersemester ging es los, zunächst mit klassischen Uni-Veranstaltungen. Im Rahmen dieses Zertifikatskurses folgte dann Anfang März der erste obligatorische Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Für die Studierenden sind es drei wertvolle Tage. Ein Studierender lobt beispielsweise die Praxisorientierung und dass man Hintergründe erfahre, die sonst verborgen blieben. Das sei für ihn als Lehramtsstudent gut, denn: „Ich werde ja noch öfter herkommen in der neunten Klasse.“ Eine seiner Kommilitoninnen betont, als Bachelor-Studentin der Geschichte sei es immer interessant, ein Arbeitsfeld kennenzulernen. „Weil doch die Standardantwort auf ‚Was machen Sie später?‘ ‚Taxifahrer‘ lautet.“ Ein anderer Studierender ergänzt: „Das Zertifikat ist auch ein bisschen eine Erinnerung daran, dieses Geschichtsbewusstsein weiter zu schärfen den kommenden Generationen.“
"Wie machen wir eigentlich Austellungen?"
All das war auch entscheidend für Dietmar Süß, den studienbegleitenden Zertifikatskurs anzubieten. Dem Historiker an der Universität Augsburg geht es vor allem darum, die Studierenden später für die Berufspraxis zu rüsten – und auch für den gesellschaftlichen Diskurs. „Es spielt natürlich eine große Rolle, dass das auch eine Antwort auf die geschichtsrevisionistischen und rechtspopulistischen Angriffe auf die Erinnerungskultur dieser Republik ist – und hier eine professionelle, wissenschaftlich gestützte Antwort zu bieten, Studierende dafür zu sensibilisieren, ihnen zeigen, was dieses Berufsfeld bedeutet.“ Das betreffe den Kern der Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus, aber auch Fragen der pädagogischen Bildung, der Vermittlung von Geschichte. „Das gilt auch für so Fragen: ‚Wie machen wir eigentlich Ausstellungen?‘ Welche Entscheidungen werden da getroffen, welche Konflikte entstehen auch darüber, was in Ausstellungen mit Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus gezeigt wird?“
Hier wird deutlich, welche Konflikte die Präsentation von authentischen Erinnerungsorten mit sich bringen. Gedenkstätten-Mitarbeiter Ulrich Unseld führt die Studierenden durch das ehemalige Wirtschaftsgebäude des früheren Konzentrationslagers. Hier informiert heute eine Ausstellung über das erste KZ der Nationalsozialisten. Von den 200.000 Häftlingen bis 1945 starben mehr als 40.000.
Zum Thema „Ausstellbarkeit der Geschichte des KZ Dachau hier am Ort“ stellt Unseld die Frage: „Was glauben Sie denn, warum sind die Wände hier so schäbig? Kann man ja auch weiß streichen.“ Anders als gewöhnliche Besucher sollen die Studierenden gezielt über das marode Erscheinungsbild der Wände nachdenken. Denn das zieht sich keineswegs durch die gesamte Ausstellung durch. Die Studierenden können darüber nur mutmaßen. „Wir sind ja hier an einem Ort, wo Entmenschlichung durch Unmenschlichkeit geschehen ist und von daher könnte man sagen, es ist der Verfall der Menschlichkeit“, vermutet ein Studierender. Ein anderer: „Es soll vielleicht das Verstreichen der Zeit auch symbolisieren und es wurde ja dann wirtschaftlich genutzt oder...“
Lernen am Negativbeispiel
Ulrich Unseld sagt, das gehe in die richtige Richtung. „Es geht um Zeit-Schichten an diesem Ort.“ Der habe sich ja nach 1945 verändert. „Dieser Teil wurde zum Beispiel von den Amerikanern anders gestrichen.“ Die Frage sei gewesen: „Welche Schicht der Wand ist die, die man zeigen möchte?“ Und der bauliche Versuch sei schlichtweg gewesen – bei einigen, nicht bei allen Räumen –, diese Wandfarbe soweit abzunehmen bis auf den Ursprungszustand. „Kann man nicht wissen“, betont Unseld.
Denn nirgends hängt ein Hinweisschild, das dem Besucher erklärt, warum die Wände mal unverputzt, mal weiß gestrichen sind. Eines der inzwischen vielen Mankos der überholungsbedürftigen Ausstellung, auf die Ulrich Unseld die Studierenden aufmerksam machen will. Sie sollen quasi an Negativbeispielen lernen, was sie als potenzielle Gedenkstätten-Mitarbeiter später einmal besser machen sollten.
So gebe es Dinge, die nicht an der Stelle kommen, an der sie erwartet werden – was manchmal für Unmut sorgt. Ein Beispiel dafür: eine frühe Abteilung, in der es um die verschiedenen Häftlingskategorien und Nationalitäten im KZ geht. „Eine Besucherin aus Polen geht in diese Abteilung und stellt fest: Dort sind keine polnischen Häftlinge abgebildet. Und ärgert sich berechtigterweise darüber, weil sie sagt, das war doch die zweitgrößte Gruppe von Häftlingen im KZ Dachau“, erzählt Unseld. „Sie kann nicht wissen, dass es eine weitere Abteilung gibt zu Häftlingsgruppen, die mehrere Räume erst später kommen. Die Folge kann sein: Wir kriegen einen Brief, in dem sie sich beschwert.“
Mit Zertifikat gute Jobchancen
Eine Faustregel sei, dass Ausstellungen nach zehn Jahren überarbeitet werden müssen. Weil es neue, historische Erkenntnisse gibt oder sich die Rezeptionsbedingungen der Besucher zum Beispiel durch digitale Gestaltungsmöglichkeiten verändert haben. In der KZ-Gedenkstätte Dachau wurde die gegenwärtige Ausstellung vor mehr als 20 Jahren eröffnet. Und steht nun entsprechend auch vor einer Generalüberholung. Nicht nur deshalb freut sich auch Gedenkstätten-Leiterin Gabriele Hammermann, dass der Zertifikatskurs der Universität Augsburg eine Kooperation mit dem Erinnerungsort eingegangen ist.
In den vergangenen zehn, 20 Jahren hätten sich die Berufe rund um die Gedenkstättenarbeit immer weiter ausdifferenziert, erklärt sie. Zudem stehe die KZ-Gedenkstätte am Beginn einer großen Neugestaltung der Ausstellung. Es sollen aber auch neue historische Gebäude mit einbezogen werden. „Das bedeutet, dass wir natürlich auch deutlich mehr Personal benötigen. Und jemanden, der dieses Zertifikat hat, dessen Bewerbung würde ich mit größerer Aufmerksamkeit lesen.“
Für die Studierenden bedeutet der Zertifikatskurs nicht unbedingt einen Mehraufwand. Denn viele der dafür vorgeschriebenen Uni-Veranstaltungen sind sowieso im Pool derjenigen Kurse, aus denen sie für ihr reguläres Studium wählen müssen. Wer seine Uni-Veranstaltungen also mit Rücksicht auf die Kurse auswählt, die es für das Zertifikat braucht, kann das ganz nebenbei absolvieren.