Gedicht über die argentinische Eisenbahn
Der kleine Berenberg-Verlag fügt seinen großen Verdiensten um abseitige und schön gemachte Bücher nun weitere hinzu: Jetzt erscheint hier auch Lyrik – und, wie zu erwarten war, solche jenseits des Mainstreams und im besten Sinne eigenartig.
Neben dem jungen US-Amerikaner Jeffrey Yang wird der Argentinier Sergio Raimondi, von dem hierzulande bislang kaum ein Mensch gehört hat, mit Auszügen aus seinem "kommentierten Wörterbuch" vorgestellt: von A wie "Architecture, vers une" (wie eine der ersten Publikationen von Le Corbusier 1923 hieß) bis Z wie "Zafra" (das durch die kubanische Planwirtschaft bekannt gewordene Wort für Zuckerrohrernte).
Tatsächlich haben die 35 in diesem Band versammelten Gedichte mit ihren langen blockartigen Versen zunächst die Anmutung eines lexikalischen Eintrags. Raimondi spielt auf der Klaviatur der Fachtermini und branchentypischer Redewendungen, er integriert Begriffe wie "tektonische Auffaltung" und "integrierte Kreisläufe", "Genbanken" und "Analogieschluss" in seine Verse, denkt über Getreidesilos und Containerschiffe nach.
Sergio Raimondi, der Professor für zeitgenössische Literatur an der Universidad Nacional del Sur, ist tatsächlich ein Industriedichter.
Dass es so etwas wie Industrielyrik gibt – und fast 100 Jahre nach den Fabrik-Gesängen der Expressionisten wieder geben muss – sollte eigentlich keine Überraschung sein für alle Menschen, die offenen Auges in eine Großstadt einfahren: Gewerbesiedlungen, Betonhallen, Frachtterminals, Einkaufszentren. Längst hat die bildende Kunst diese Gebiete für sich entdeckt, die Lyrik dagegen hat kaum hingesehen.
Raimondi aber hat, und das sehr genau. Er hat dazu seinen Marx gelesen, seinen Max Weber sowie seinen Foucault (und letzterem auch einen Wörterbucheintrag gewidmet) und untersucht nun Produktionsbedingungen, Normierungen, die Auswirkungen der Globalisierung, Funktionsweisen von Maschinen und, das vor allem: den Menschen mittendrin. Sein und Bewusstsein. Der Mensch als Subjekt und Objekt, als Konstrukteur, Bürokrat, Arbeiter, Denker, Konsument und gerne auch, sogar sehr gerne, als subversives Element.
Ein Gedicht etwa beschäftigt sich mit der anhaltenden Dysfunktionalität der alten argentinischen Eisenbahnen und dem von einem vermutlich anarchistischen Heizer vorgeschlagenen Mittel zur besseren Durchlüftung der Dampfkessel, nachzulesen im kommentierten Wörterbuch unter E: wie Eukalyptus.
Dichtend schweift Raimondi durch die Produktionsstätten und Branchen der Welt. Laos, China, Panama. Neurochirurgie, Agrobusiness, Logistik, Bergbau. Seine Gedichte sind ebenso lakonische wie wortmächtige Untersuchungen an den vielen, vielen Spezialgebieten, in die unsere industrialisierte Welt zersplittert ist. Aber sie sind dennoch keine Faktensammlungen, sondern nachdenkliche und immer wieder überraschend feinnervige Poesie.
Besprochen von Katharina Döbler
Sergio Raimondi: Für ein kommentiertes Wörterbuch
Aus dem Spanischen von Timo Berger
Berenberg Verlag, Berlin 2012
95 Seiten, 19,00 Euro
Mehr Infos zu Belletristik aus Afrika, Asien und Lateinamerika im Web:
Weltempfänger litprom-Bestenliste
Tatsächlich haben die 35 in diesem Band versammelten Gedichte mit ihren langen blockartigen Versen zunächst die Anmutung eines lexikalischen Eintrags. Raimondi spielt auf der Klaviatur der Fachtermini und branchentypischer Redewendungen, er integriert Begriffe wie "tektonische Auffaltung" und "integrierte Kreisläufe", "Genbanken" und "Analogieschluss" in seine Verse, denkt über Getreidesilos und Containerschiffe nach.
Sergio Raimondi, der Professor für zeitgenössische Literatur an der Universidad Nacional del Sur, ist tatsächlich ein Industriedichter.
Dass es so etwas wie Industrielyrik gibt – und fast 100 Jahre nach den Fabrik-Gesängen der Expressionisten wieder geben muss – sollte eigentlich keine Überraschung sein für alle Menschen, die offenen Auges in eine Großstadt einfahren: Gewerbesiedlungen, Betonhallen, Frachtterminals, Einkaufszentren. Längst hat die bildende Kunst diese Gebiete für sich entdeckt, die Lyrik dagegen hat kaum hingesehen.
Raimondi aber hat, und das sehr genau. Er hat dazu seinen Marx gelesen, seinen Max Weber sowie seinen Foucault (und letzterem auch einen Wörterbucheintrag gewidmet) und untersucht nun Produktionsbedingungen, Normierungen, die Auswirkungen der Globalisierung, Funktionsweisen von Maschinen und, das vor allem: den Menschen mittendrin. Sein und Bewusstsein. Der Mensch als Subjekt und Objekt, als Konstrukteur, Bürokrat, Arbeiter, Denker, Konsument und gerne auch, sogar sehr gerne, als subversives Element.
Ein Gedicht etwa beschäftigt sich mit der anhaltenden Dysfunktionalität der alten argentinischen Eisenbahnen und dem von einem vermutlich anarchistischen Heizer vorgeschlagenen Mittel zur besseren Durchlüftung der Dampfkessel, nachzulesen im kommentierten Wörterbuch unter E: wie Eukalyptus.
Dichtend schweift Raimondi durch die Produktionsstätten und Branchen der Welt. Laos, China, Panama. Neurochirurgie, Agrobusiness, Logistik, Bergbau. Seine Gedichte sind ebenso lakonische wie wortmächtige Untersuchungen an den vielen, vielen Spezialgebieten, in die unsere industrialisierte Welt zersplittert ist. Aber sie sind dennoch keine Faktensammlungen, sondern nachdenkliche und immer wieder überraschend feinnervige Poesie.
Besprochen von Katharina Döbler
Sergio Raimondi: Für ein kommentiertes Wörterbuch
Aus dem Spanischen von Timo Berger
Berenberg Verlag, Berlin 2012
95 Seiten, 19,00 Euro
Mehr Infos zu Belletristik aus Afrika, Asien und Lateinamerika im Web:
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