Gedichte auf Russisch, Prosa auf Deutsch
Die russischstämmige Schriftstellerin Olga Martynova gewann mit ihrem Prosatext "Ich werde sagen: Hi!" den Bachmann-Preis in Klagenfurt. Aufgabe der Literatur sei es, die Sprache neu zu erschaffen, um das Denken zu sensibilisieren, sagt die in Frankfurt/M. lebende Autorin.
Joachim Scholl: Die Schriftstellerin Olga Martynova ist in Leningrad geboren. Seit 1991 lebt sie in Deutschland. Sechs Bücher hat sie bereits veröffentlicht, auch Preise dafür erhalten. Dennoch hat sie sich jetzt dem strapaziösesten Literaturwettbewerb deutscher Sprache ausgesetzt dem Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt, dem berüchtigten Wettlesen vor Kritikern, Publikum und Fernsehkameras. Und gestern trug Olga Martynova den Siegerkranz davon. Sie gewann den Hauptpreis mit ihrem Text "Ich werde sagen: Hi!"- im zweiten Wahlgang allerdings erst, im Stechen sozusagen. Und gleich nach der Siegerehrung war Olga Martynova im Gespräch mit meiner Kollegin Sigrid Brinkmann. Klar hat sie Olga Martynova erstmal gratuliert und dann nach ihrem Leseeindruck gefragt. Denn die Autorin, die doch mit starkem Akzent deutsch spricht, hat nach ihrer Lesung für alle im Publikum hörbar aufgeseufzt. War dieser Auftritt also doch eine ziemliche Mutprobe?
Olga Martynova: Meine größte Sorge war tatsächlich, wie ich lesen werde. Weil ich weiß, dass ich einen starken russischen Akzent habe und dass ich das nie loskriege, weil ich war schon fast 30, als ich angefangen habe, Deutsch zu lernen. Und das ist definitiv zu spät. Aber ich habe das irgendwie geschafft, dass ich empfinde jetzt die deutsche Sprache, sie ist mir genauso vertraut wie die russische. Aber natürlich, ich werde immer mit Akzent sprechen. Und das war tatsächlich meine größte Sorge. Und deshalb, habe ich – ich war tatsächlich sehr erleichtert, dass diese 30 Minuten vorbei waren, eben deswegen. Nur deswegen.
Sigrid Brinkmann: 2003 kam ihre erste Buchveröffentlichung mit Aufsätzen heraus, "Wer schenkt was wem", gefolgt von "In der Zugluft Europas" und dem "Brief an die Zypressen", Gedichten, um nur ein paar Titel zu nennen. Sie schreiben Gedichte, bleiben dabei in Ihrer Muttersprache. Bei der Prosa wechseln Sie ins Deutsche. Bleibt das Russische eindeutig die Sprache der unmittelbaren Innerlichkeit und der Verdichtung?
Martynova: Natürlich die Frage, warum ich die Gedichte russisch schreibe und Prosa deutsch, wird sehr, sehr häufig gestellt. Und deshalb denke ich auch sehr, sehr oft darüber nach. Und ich habe schon sehr, sehr verschiedene Antworten gegeben. Also ich glaube, dass ich gestern die beste Antwort doch gefunden habe. Ich glaube, dass das sehr gute Möglichkeit für mich ist, die Lyriksprache und die Prosasprache auseinanderzuhalten. Weil, ich bin immer sehr unglücklich, wenn jemand sagt, aha, das ist Lyrikerprosa. Ich mag das nicht. Ich meine, wenn jemand Prosa schreibt, dann schreibt man eben Prosa. Und ich glaube auch, dass wenn Ingeborg Bachmann Prosa geschrieben hat, da war das eben Prosa, das war nicht Prosa einer Lyrikerin, das war Prosa einer Prosaikerin, wenn sie eine Lyrikerin war, dann war sie eine. Und ich glaube, dass das sehr gut für mich ist, diese zwei Verfahren besser auseinanderzuhalten.
Brinkmann: Publizieren Sie auch weiter in Russland?
Martynova: Ja, natürlich. Gott sei Dank, dass die Zeiten, in denen Exilautoren weg vom Fenster waren, sind längst vorbei. Und ich bin natürlich auch in Russland präsent mit meinen Gedichten, was mich sehr freut.
Brinkmann: Olga Martynova, Hauptgewinnerin des 36. Ingeborg-Bachmann-Preises im Deutschlandradio Kultur. Einige Juroren in Klagenfurt haben den lakonisch-anarchischen Witz Ihrer Geschichte von Moritz sehr gemocht. Moritz verbringt die Ferien bei Tante Anita und Onkel Robert, er hat immer ein Notizbuch bei sich, in das er Beobachtungen notiert, und sinnt darüber nach, wie er das Mädchen in der Eisdiele anspricht, ob er Hi sagt, was soll ich heute nehmen? - oder Hi, wie heißt du? Ihr Text, Frau Martynova, war einer der wenigen, bei denen das Publikum gelacht hat. Liegt Ihnen das Skurrile?
Martynova: Ich glaube, ja. Ich glaube nicht, dass ein Autor immer wirklich sagen kann, warum er diese oder diese Form gewählt hat. Aber in meinen Erzählungen geht es nicht nur um die leichten Fragen oder Sachen, es geht auch um die Geschichte und um die tragischen Seiten der Geschichte. Und ich glaube, dass das vielleicht mit mehr Humor zu erzählen, wäre eine Art, das Denken über diese Dinge noch einmal sensibilisieren oder das Gedächtnis noch einmal sensibilisieren. Dass man nicht sagt, ach was, wir haben schon hunderttausend Mal davon gehört, wir haben keine Lust mehr. Deshalb, jetzt im Nachhinein glaube ich, deshalb habe ich diese leichte Form ausgewählt.
Brinkmann: Die Kritikerrunde hat Ihre Prosa in die Nähe von Bohumil Hrabal, Daniil Charms und Gogol gerückt. Welche Rolle spielt für Sie die slawische Erzähltradition?
Martynova: Ich war tatsächlich sehr, sehr glücklich, als ich diese drei Namen gehört hatte. Das sind tatsächlich sehr, sehr wichtige Namen von mir. Aber natürlich auch E.T.A Hoffmann ist sehr wichtig für mich. Und ich muss sagen, wenn man über meinen ersten Roman "Sogar Papageien überleben uns" schrieb, dann schrieb man immer, dass es im Buch sehr viele Zitate aus der russischen Literatur gibt und Anspielungen. Aber niemand hat gemerkt, dass es genau so viele Zitate aus der deutschen Literatur gibt. Ich hoffe, dass man jetzt wenigstens mit E.T.A. Hoffmann das endlich merken wird.
Brinkmann: Am Ende Ihres Textes beschreiben Sie ein Innenstadthaus, und ich fasse jetzt doch einmal zusammen, was Sie da sehen und uns vor Augen führen: Aus der ersten Etage hängt ein Serbe seinen Jogginganzug zum Lüften heraus; zwei Stockwerke höher flattern die Büstenhalter einer Bulgarin. Der Grieche im vierten Stock gießt Gurken und Tomaten; den Anbau hat der Besitzer verboten. Ein Albaner klopft den Teppich aus, der ihn an seine liebe, kleine Heimat erinnert. Und ganz oben unterm Dach legt ein Ägypter schmale Papyrusstreifen zum Trocknen auf das Außensims. Er hat das Papier selber bemalt und will es am nächsten Tag auf dem Flohmarkt verkaufen, ärgert sich aber über die schlechte Farbe und schimpft auf die deutschen Farbhersteller. Das sind lauter Migranten, die ans Fenster treten. Wie nehmen Sie, Olga Martynova, das multikulturelle Leben in Deutschland wahr?
Martynova: Das ist eine eigentlich große Frage. Und ich glaube, dass ganz sachlich könnte diese Frage ein Journalist oder ein Politiker beantworten. Ich als Autorin, ich versuche, das einfach zu registrieren, das, was in der Luft, in der Zeit ist, weil die Zeiten ändern sich, und wir befinden uns gerade in der Umbruchzeit. Das Leben ändert sich sehr schnell, und eigentlich in den nächsten Jahren, in der nächsten Zeit haben wir das, immer enger zusammenzuleben und irgendwie zusammen zurechtzukommen. Und ich versuche nur, das aufzuspüren, was das bedeutet und wie das sein wird.
Brinkmann: Ihre Figur des Onkel Robert jammert über die Balkanisierung der Städte. Beobachten Sie das?
Martynova: Ja natürlich, interessanterweise. Zum Beispiel ein Dialog, wo Onkel Robert fragt die Tante Anita, mit wem sie spricht, und sie sagt, nur mit dir. Ich habe dieses Gespräch einmal einfach in einer Schlange in einem Lebensmittelladen mitgehört und fand es sehr schade, dass ich kein Aufnahmegerät dabei hatte. Ich rannte nach Hause und habe das aufgeschrieben. Und natürlich, diese Balkanisierung, ich habe auch einmal das gehört, und ich war so geschockt über diese Wortschöpfung "Balkanisierung " und dachte, dass man das unbedingt irgendwie verwenden muss.
Brinkmann: Sie hatten vorhin erwähnt, dass es für sie wichtig ist, die Geschichte auch zu zitieren oder auf sie zurückzugreifen. Im Text, den Sie in Klagenfurt gelesen haben, bleibt Moritz vor einem Fachwerkhaus stehen, das 1945 heil geblieben war. Er erinnert so an die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs wie an das 19. Jahrhundert. Es gibt auch die Leerstelle einer 1938 abgebrannten Synagoge. Und dann die weit entrückte ägyptische Pharaonengeschichte. Wenn Sie selber, Frau Martynova, unterwegs sind, draußen sind, achten Sie auf Baugeschichte, in der man Zeitspuren erkennt?
Martynova: Ja, unbedingt. In jeder Stadt merke ich, ich lese alle Gedenktafeln an jedem Haus. Ich lese alles, ich merke alles, das fand ich immer spannend. Ich weiß, man kann nie wissen, ob man das weiterverwenden kann als Autor, aber das fasziniert mich tatsächlich, diese Spuren. Und ich bin eigentlich sehr dankbar jeder Stadt, die sich darum kümmert, das diese Spuren merkbar macht.
Brinkmann: Ruth Klüger hat in diesem Jahr die traditionelle Klagenfurter Rede zur Literatur gehalten und über die Wahrheit als Ziel der Kunst gesprochen. Sind Sie auch eine Wahrheitssucherin oder reicht es, den einen haltbaren Satz zu finden im Alltagsgeklingel der Wörter?
Martynova: Ich glaube nicht, dass das reicht. Obwohl das sehr, sehr schwer zu formulieren ist, was diese Wahrheit ist. Wie wir in dieser wunderbaren Rede gehört haben – viele Wege führen zur Wahrheit und es kann auch sein, dass wir keinen Weg finden, der zur Wahrheit führt. Ich glaube, dass die Aufgabe der Literatur ist, die Sprache immer, immer, immer neu zu erschaffen, damit das Denken sensibilisiert wird, damit das Denken aufs Neue beginnt. Damit das Denken und die Erinnerung nicht zur Routine wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema bei dradio.de:
Olga Martynova ist Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2012 -
In Russland geborene Autorin setzt sich beim Wettbewerb in Klagenfurt durch
Die Boheme zu Sowjetzeiten
Olga Martynova: "Sogar Papageien überleben uns", Literaturverlag Droschl, Wien 2010, 204 Seiten
Programmtipp:
Deutschlandradio Kultur
Literatur: Dienstag, 10. Juli, 19:30 - 20:00 Uhr: Lesung des Textes "Ich werde sagen: Hi!"
Literatur: Sonntag, 15. Juli, 0:05 - 1:00 Uhr: Wettlesen in Klagenfurt - Nachlese zum 36. Bachmann-Wettbewerb
Internetseite des Bachmann-Wettbewerbs
Olga Martynova: Meine größte Sorge war tatsächlich, wie ich lesen werde. Weil ich weiß, dass ich einen starken russischen Akzent habe und dass ich das nie loskriege, weil ich war schon fast 30, als ich angefangen habe, Deutsch zu lernen. Und das ist definitiv zu spät. Aber ich habe das irgendwie geschafft, dass ich empfinde jetzt die deutsche Sprache, sie ist mir genauso vertraut wie die russische. Aber natürlich, ich werde immer mit Akzent sprechen. Und das war tatsächlich meine größte Sorge. Und deshalb, habe ich – ich war tatsächlich sehr erleichtert, dass diese 30 Minuten vorbei waren, eben deswegen. Nur deswegen.
Sigrid Brinkmann: 2003 kam ihre erste Buchveröffentlichung mit Aufsätzen heraus, "Wer schenkt was wem", gefolgt von "In der Zugluft Europas" und dem "Brief an die Zypressen", Gedichten, um nur ein paar Titel zu nennen. Sie schreiben Gedichte, bleiben dabei in Ihrer Muttersprache. Bei der Prosa wechseln Sie ins Deutsche. Bleibt das Russische eindeutig die Sprache der unmittelbaren Innerlichkeit und der Verdichtung?
Martynova: Natürlich die Frage, warum ich die Gedichte russisch schreibe und Prosa deutsch, wird sehr, sehr häufig gestellt. Und deshalb denke ich auch sehr, sehr oft darüber nach. Und ich habe schon sehr, sehr verschiedene Antworten gegeben. Also ich glaube, dass ich gestern die beste Antwort doch gefunden habe. Ich glaube, dass das sehr gute Möglichkeit für mich ist, die Lyriksprache und die Prosasprache auseinanderzuhalten. Weil, ich bin immer sehr unglücklich, wenn jemand sagt, aha, das ist Lyrikerprosa. Ich mag das nicht. Ich meine, wenn jemand Prosa schreibt, dann schreibt man eben Prosa. Und ich glaube auch, dass wenn Ingeborg Bachmann Prosa geschrieben hat, da war das eben Prosa, das war nicht Prosa einer Lyrikerin, das war Prosa einer Prosaikerin, wenn sie eine Lyrikerin war, dann war sie eine. Und ich glaube, dass das sehr gut für mich ist, diese zwei Verfahren besser auseinanderzuhalten.
Brinkmann: Publizieren Sie auch weiter in Russland?
Martynova: Ja, natürlich. Gott sei Dank, dass die Zeiten, in denen Exilautoren weg vom Fenster waren, sind längst vorbei. Und ich bin natürlich auch in Russland präsent mit meinen Gedichten, was mich sehr freut.
Brinkmann: Olga Martynova, Hauptgewinnerin des 36. Ingeborg-Bachmann-Preises im Deutschlandradio Kultur. Einige Juroren in Klagenfurt haben den lakonisch-anarchischen Witz Ihrer Geschichte von Moritz sehr gemocht. Moritz verbringt die Ferien bei Tante Anita und Onkel Robert, er hat immer ein Notizbuch bei sich, in das er Beobachtungen notiert, und sinnt darüber nach, wie er das Mädchen in der Eisdiele anspricht, ob er Hi sagt, was soll ich heute nehmen? - oder Hi, wie heißt du? Ihr Text, Frau Martynova, war einer der wenigen, bei denen das Publikum gelacht hat. Liegt Ihnen das Skurrile?
Martynova: Ich glaube, ja. Ich glaube nicht, dass ein Autor immer wirklich sagen kann, warum er diese oder diese Form gewählt hat. Aber in meinen Erzählungen geht es nicht nur um die leichten Fragen oder Sachen, es geht auch um die Geschichte und um die tragischen Seiten der Geschichte. Und ich glaube, dass das vielleicht mit mehr Humor zu erzählen, wäre eine Art, das Denken über diese Dinge noch einmal sensibilisieren oder das Gedächtnis noch einmal sensibilisieren. Dass man nicht sagt, ach was, wir haben schon hunderttausend Mal davon gehört, wir haben keine Lust mehr. Deshalb, jetzt im Nachhinein glaube ich, deshalb habe ich diese leichte Form ausgewählt.
Brinkmann: Die Kritikerrunde hat Ihre Prosa in die Nähe von Bohumil Hrabal, Daniil Charms und Gogol gerückt. Welche Rolle spielt für Sie die slawische Erzähltradition?
Martynova: Ich war tatsächlich sehr, sehr glücklich, als ich diese drei Namen gehört hatte. Das sind tatsächlich sehr, sehr wichtige Namen von mir. Aber natürlich auch E.T.A Hoffmann ist sehr wichtig für mich. Und ich muss sagen, wenn man über meinen ersten Roman "Sogar Papageien überleben uns" schrieb, dann schrieb man immer, dass es im Buch sehr viele Zitate aus der russischen Literatur gibt und Anspielungen. Aber niemand hat gemerkt, dass es genau so viele Zitate aus der deutschen Literatur gibt. Ich hoffe, dass man jetzt wenigstens mit E.T.A. Hoffmann das endlich merken wird.
Brinkmann: Am Ende Ihres Textes beschreiben Sie ein Innenstadthaus, und ich fasse jetzt doch einmal zusammen, was Sie da sehen und uns vor Augen führen: Aus der ersten Etage hängt ein Serbe seinen Jogginganzug zum Lüften heraus; zwei Stockwerke höher flattern die Büstenhalter einer Bulgarin. Der Grieche im vierten Stock gießt Gurken und Tomaten; den Anbau hat der Besitzer verboten. Ein Albaner klopft den Teppich aus, der ihn an seine liebe, kleine Heimat erinnert. Und ganz oben unterm Dach legt ein Ägypter schmale Papyrusstreifen zum Trocknen auf das Außensims. Er hat das Papier selber bemalt und will es am nächsten Tag auf dem Flohmarkt verkaufen, ärgert sich aber über die schlechte Farbe und schimpft auf die deutschen Farbhersteller. Das sind lauter Migranten, die ans Fenster treten. Wie nehmen Sie, Olga Martynova, das multikulturelle Leben in Deutschland wahr?
Martynova: Das ist eine eigentlich große Frage. Und ich glaube, dass ganz sachlich könnte diese Frage ein Journalist oder ein Politiker beantworten. Ich als Autorin, ich versuche, das einfach zu registrieren, das, was in der Luft, in der Zeit ist, weil die Zeiten ändern sich, und wir befinden uns gerade in der Umbruchzeit. Das Leben ändert sich sehr schnell, und eigentlich in den nächsten Jahren, in der nächsten Zeit haben wir das, immer enger zusammenzuleben und irgendwie zusammen zurechtzukommen. Und ich versuche nur, das aufzuspüren, was das bedeutet und wie das sein wird.
Brinkmann: Ihre Figur des Onkel Robert jammert über die Balkanisierung der Städte. Beobachten Sie das?
Martynova: Ja natürlich, interessanterweise. Zum Beispiel ein Dialog, wo Onkel Robert fragt die Tante Anita, mit wem sie spricht, und sie sagt, nur mit dir. Ich habe dieses Gespräch einmal einfach in einer Schlange in einem Lebensmittelladen mitgehört und fand es sehr schade, dass ich kein Aufnahmegerät dabei hatte. Ich rannte nach Hause und habe das aufgeschrieben. Und natürlich, diese Balkanisierung, ich habe auch einmal das gehört, und ich war so geschockt über diese Wortschöpfung "Balkanisierung " und dachte, dass man das unbedingt irgendwie verwenden muss.
Brinkmann: Sie hatten vorhin erwähnt, dass es für sie wichtig ist, die Geschichte auch zu zitieren oder auf sie zurückzugreifen. Im Text, den Sie in Klagenfurt gelesen haben, bleibt Moritz vor einem Fachwerkhaus stehen, das 1945 heil geblieben war. Er erinnert so an die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs wie an das 19. Jahrhundert. Es gibt auch die Leerstelle einer 1938 abgebrannten Synagoge. Und dann die weit entrückte ägyptische Pharaonengeschichte. Wenn Sie selber, Frau Martynova, unterwegs sind, draußen sind, achten Sie auf Baugeschichte, in der man Zeitspuren erkennt?
Martynova: Ja, unbedingt. In jeder Stadt merke ich, ich lese alle Gedenktafeln an jedem Haus. Ich lese alles, ich merke alles, das fand ich immer spannend. Ich weiß, man kann nie wissen, ob man das weiterverwenden kann als Autor, aber das fasziniert mich tatsächlich, diese Spuren. Und ich bin eigentlich sehr dankbar jeder Stadt, die sich darum kümmert, das diese Spuren merkbar macht.
Brinkmann: Ruth Klüger hat in diesem Jahr die traditionelle Klagenfurter Rede zur Literatur gehalten und über die Wahrheit als Ziel der Kunst gesprochen. Sind Sie auch eine Wahrheitssucherin oder reicht es, den einen haltbaren Satz zu finden im Alltagsgeklingel der Wörter?
Martynova: Ich glaube nicht, dass das reicht. Obwohl das sehr, sehr schwer zu formulieren ist, was diese Wahrheit ist. Wie wir in dieser wunderbaren Rede gehört haben – viele Wege führen zur Wahrheit und es kann auch sein, dass wir keinen Weg finden, der zur Wahrheit führt. Ich glaube, dass die Aufgabe der Literatur ist, die Sprache immer, immer, immer neu zu erschaffen, damit das Denken sensibilisiert wird, damit das Denken aufs Neue beginnt. Damit das Denken und die Erinnerung nicht zur Routine wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Olga Martynova ist Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2012 -
In Russland geborene Autorin setzt sich beim Wettbewerb in Klagenfurt durch
Die Boheme zu Sowjetzeiten
Olga Martynova: "Sogar Papageien überleben uns", Literaturverlag Droschl, Wien 2010, 204 Seiten
Programmtipp:
Deutschlandradio Kultur
Literatur: Dienstag, 10. Juli, 19:30 - 20:00 Uhr: Lesung des Textes "Ich werde sagen: Hi!"
Literatur: Sonntag, 15. Juli, 0:05 - 1:00 Uhr: Wettlesen in Klagenfurt - Nachlese zum 36. Bachmann-Wettbewerb
Internetseite des Bachmann-Wettbewerbs