Gedichte

Lyrik mit leisem Witz und zarter Ironie

Der Schriftsteller Marcel Beyer bei einer Autorenlesung in Koblenz (Archiv).
Marcel Beyer bei einer Lesung in Koblenz © picture alliance / dpa / Thomas Frey
Von Jörg Magenau |
Kraftvoll, rhythmisch, assoziativ. Der Schriftsteller Marcel Beyer greift sich mit Worten Orte und Dinge und verwandelt sie in schöne Sprache. Nun ist - zwölf Jahre nach seinem letzten - sein neuer Gedichtband erschienen: "Graphit".
Im Mai erhielt er den Kleist-Preis, im September den Oskar Pastior-Preis: Die Qualität des Lyrikers, Erzählers und Essayisten Marcel Beyer scheint sich herumgesprochen zu haben. Nun gibt es einen neuen Gedichtband von ihm, zwölf Jahre nach dem letzten ("Erdkunde"). Der Titel "Graphit" ist durchaus richtungweisend – wie Beyers Gedichtüberschriften sehr oft den Schlüssel fürs Verständnis liefern. Grafit, ein Kohlenstoffelement, bildet in der Natur silbergraue Kristalle, Farbnuancen, die er mit Schnee assoziiert.
Im titelgebenden Zyklus durchnummerierter Einzelstücke (ein Verfahren, das sich im Band vielfach wiederholt), kontrastiert er Szenen aus einer Ski-Halle am Niederrhein mit Dreharbeiten des sowjetischen Filmregisseurs Sergej Eisenstein, der für den Film "Alexander Newski" mitten im Sommer eine künstliche Winterlandschaft herstellen ließ. Grafit wird dabei zur "Schattenspur" die einmal quer durchs Jahrhundert führt: vom sozialistischen Aufbruch in der Kunst zum kommerziellen Bespaßungsprogramm der Gegenwart.
Neuss und die Landschaften des Niederrheins, wo Beyer, Jahrgang 1965, aufwuchs, Dresden und das Sächsische, wo er seit mehr als zehn Jahren lebt, und dazwischen die Auf- und Ausbrüche hinaus in die Welt und in die Literatur: Das sind die äußeren Koordinaten seiner Lyrik. Im Zentrum steht aber stets die Sprache oder das einzelne Wort oder eine bildhafte Szene, von der aus gedacht und geschrieben wird. Was zunächst unverständlich und hermetisch klingt, erschließt sich sofort und unmittelbar, wenn der konkrete Anlass klar geworden ist. Hat man, um ein Beispiel zu nennen, begriffen, dass es in "Das Rheinland stirbt zuletzt" um den Einsturz des Kölner Stadtarchivs geht, erübrigt sich das Deutungsbemühen, da die Dinge ganz klar auf den Verszeilen liegen: zerdrückte Aktenschränke, zerrissenes Papier, dreißig Sekunden Krach, sechs Wochen Stille.
Die Dinge mit Worten gegriffen
Wie Beyer aus dem Dinglichen, materiell Greifbaren seine Poesie entstehen lässt, das ist immer wieder staunenswert, so einfach erscheint es. Ein kleiner Dreh, und das, was zu sehen ist, verwandelt sich in Sprachschönheit. "Wacholder" etwa - ein Zyklus der vom Bild einer Wacholderbeere ausgeht, die über den Tisch kullert und mit einem Vogelauge verglichen wird. Von da aus öffnen sich die Assoziationsräume bis hin zum Holdergebüsch, in dem ein kleiner Vogel sitzt und zum flotten Liebesakt auffordert:
"Mach. Rasch jetzt, hier, jetzt, immer. Wach."
Bei vielen der Gedichtzyklen handelt es sich um Überschreibungen oder Übermalungen und zugleich um Hommagen an Schriftstellerkollegen oder Maler und Fotografen, mit den Beyer sich beschäftigt hat. Genannt werden unter anderem Thomas Kling, Volker Braun, Wolfgang Hilbig, Elias Canetti, Georg Trakl, Gottfried Benn und Ezra Pound. Das ist das Feld, auf dem auch der Lyriker Marcel Beyer, der auch die Werke von Friederike Mayröcker herausgegeben hat, sich bewegt.
Andere Gedichte - wie etwa das gespenstisch klare, in einem Möbelhaus anzusiedelnde "In Polsterhimmeln" gehen von Fotografien oder Bildern aus. Immer aber ist es die Materialität der Dinge, die den Blick und die Sprache lenkt und die auch das Körperbewusstsein bestimmt - so wie in dem großartigen, für eine Komposition von Enno Poppe entstandenen Lied "Wespe, komm", das so beginnt:
"Wespe, komm in meinen Mund, / mach mir Sprache, innen, / und außen mach mir was am / Hals, zeigs dem Gaumen, zeig es // uns."
Beyer arbeitet mit rhythmischer Bindung und sehr strenger Form (meistens vierzeilige Strophen), mit freier Assoziation und schwingendem Gedankenfluss. Seine lyrischen Exkursionen führen mal hinaus ins Weite, mal in die engen Höllen der kapitalistischen Gegenwart, um dann aber die Orte aufzuspüren, in denen Sprache zu sich findet und so etwas wie Erlösung ermöglicht. Das sind die Momente der Poesie. Es ist die Kraft einer Sprache, die mit leisem Witz und zarter Ironie auf ihre Stärke vertraut und dazu ganz und gar kein Pathos benötigt. Beyer nimmt die Dinge, wie sie sind. Er greift sie nicht mit Händen, sondern mit Worten. Und so entfalten sie sich.

Marcel Beyer: Graphit
Gedichte
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
208 Seiten, 21,95 Euro

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