Russische Kultur

Gedichte und Musik sind stärker als Putin

Tänzerinnen stehen in weißem Tütü in Reihen auf einer Bühne, während der Generalprobe zum Ballett "Schwanensee" im Theatro Municipal in Rio.
Trotz des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine: „Schwanensee“ muss uns weiter verzaubern, findet der Schriftsteller Matthias Buth. © picture alliance / dpa / Alexandre Brum
Gedanken von Matthias Buth |
Durch den russischen Überfall auf die Ukraine ist vielerorts im Westen auch die russische Kultur diskreditiert. Der Lyriker und Jurist Matthias Buth findet das falsch. Denn die Kunst sei grenzenlos und gehöre uns allen.
Haben Sie Kinder, die Sie in die Ballettschule schicken? Jede Stadt hat sie. Und dann die jährlichen Aufführungen der Kleinen nach den Klängen der klassischen Ballette von „Nussknacker“ und „Schwanensee“. Tschaikowski-Musik. Märchenhaft schön. Aber russisch. Geht das nun nicht mehr, da Putin die Welt mit Krieg überzieht?
Wer russische Musik spielt, wer die Oper „Boris Godunow“ aufführen, wer dirigieren und singen will, muss sich in diesen Zeiten zuvor als Putin-Verurteiler deklarieren. Die Sängerin Anna Netrebko steht hier für viele. In einigen EU-Staaten haben Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“, Mussorgskis Suite „Bilder einer Ausstellung“ oder die Schmerzensmusik von Schostakowitsch derzeit keine Chance, aufgeführt zu werden.
Ist die russische Kultur nun vergiftet? „Schuld und Sühne“, der berühmte Raskolnikow-Roman von Dostojewski aus den Regalen verbannt, ebenso wie Puschkins Verse, der Dichter-Roman „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak und auch die zauberhaften Gedichte von Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam und Joseph Brodsky, die dem Stalin-Terror trotzten?

Auf der Landkarte des universellen Geistes

Aber: Messen Kunstwerke nicht Territorien aus, die nur auf der Landkarte des universellen Geistes zu finden sind? Paul Celan, der 1920 im heute ukrainischen Czernowitz geborene und 1970 in Paris gestorbene Dichter, dessen Dichtung so sehr von den deutschen Verbrechen der Shoa geprägt ist, hielt an der deutschen Sprache, am „schmerzlichen deutsche Vers“ fest und adelte ihn durch seine Gedichte.
Deutschland konnte nach 1945 zurückkehren in die Gemeinschaft zivilisierter Staaten – wegen seiner Kultur in allen Facetten. Russland ermordet und vernichtet heute durch seine Armee. Aber es gab und gibt auch das andere Russland, so wie es immer das innere, das poetische Deutschland gab.

Gerettet durch russische Liebesgedichte

Karl Dedecius, der große Übersetzer aus dem Polnischen und Gründer des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, wurde in russischer Kriegsgefangenschaft durch Gedichte gerettet, durch das Russische in Gedichten, die der romantische Dichter Michail Lermontow geschrieben hatte.
Liebesgedichte, durch die er das Russische lernte, dem Polnischen verwandt. Und das nicht irgendwo an sanften Flüssen oder in hellen Räumen, sondern im sibirischen Gulag. In den eisigen Sterbe-Jahren nach dem 2. Februar 1943, wo er als Stalingrad-Kämpfer bis 1950 Zwangsarbeit leistete und von einer russischen Ärztin angesprochen wurde. Sie gab ihm im Gefangenenlager ein Lermontow-Heftchen, zerschlissen schon, aber weiterhin innige Kunst, die auch im Russischen wohnt.

Wort- und Musik-Welten haben kein Territorium

Nein, wir sollten nicht die Sprache der Russen verurteilen. Sie lebt weiter in Gedichten und die umspannen wie Musik und Kunst Territorien, die weiter sind als alle Kriege.
Sie sind uneinnehmbar und tägliches Brot. Das Geliebten-Russisch hält die Welten zusammen. Gedichte sind stärker als Putin. Karl Dedecius wurde von einer Russin gerettet, mit Gedichten. So überlebte er die sieben Jahre in Gefangenschaft.
Setzen wir auf die Internationalität der Dichtung und Musik. Sie verkehrt nicht die Begriffe. „Schwanensee“ muss weiter unsere Kinder verzaubern wie alles Schöne. Es hat keine Territorien. Da wir wissen: Die zärtlichen Wort- und Musik-Welten gehören allen.

Matthias Buth wurde 1951 in Wuppertal geboren und veröffentlicht seit 1973 Lyrik und Prosa. Zuletzt erschienen von ihm 2021 der Essay-Band „Der Himmel über Rösrath“ und 2022 die Sammlung von Prosaminiaturen „Im Zwischenland“. Der promovierte Jurist war bis Ende 2016 Justiziar im Kanzleramt bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Er ist Vorsitzender des „Philomena Franz-Forums“ e.V..

Porträt des Schriftstellers Matthias Buth
© Heiko Löffler
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