Gefährdete Welternährung

Wie Konzerne die Lebensmittelproduktion kapern

34:18 Minuten
Ein Landwirt bringt das Pflanzenschutzmittel Glyphosat auf einem Feld aus.
Noch immer werden Pflanzenschutzmittel privater Firmen weltweit eingesetzt. Trotz bekannter Risiken. © imago images / Sven Simon
Von Thomas Kruchem |
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Konzerne bestimmen immer mehr, wie Nahrungsmittel produziert werden. Gleichzeitig nimmt der Hunger weltweit wieder zu. Jetzt sollen Firmen noch mehr Einfluss erhalten. Aus Protest boykottieren NGOs wie „Brot für die Welt“ den Welternährungsgipfel.
Madagaskar, Ende Juni 2021. Die Reporterin des Fernsehsenders Al Jazeera berichtet über die schlimmste Dürre seit 40 Jahren; über Kinder mit Blähbäuchen und spindeldürren Armen, die – Insekten und Kakteenblätter essend – dem Verhungern entgegen dämmern.
Hunger. Seit rund fünf Jahren nimmt die Zahl unterernährter Menschen wieder zu. 820 Millionen sind es derzeit, schätzen die UN. Zugleich geht ein Drittel aller Nahrungsmittel verloren; sie verderben oder werden weggeworfen. Und: Die Umwelt- und Gesundheitsschäden durch industrielle Nahrungsproduktion und schlechte Ernährung verursachen inzwischen dreimal so hohe Kosten wie der Kauf von Nahrungsmitteln selbst.

Kurz, das Welt-Ernährungswesen ist völlig aus dem Tritt geraten. Deshalb rufen die UN für Mitte September zu einem Ernährungsgipfel nach New York. Dieser Gipfel jedoch ist umstritten. Er solle die Dominanz der Agrar- und Ernährungskonzerne im Welternährungswesen zementieren, meint der italienische Agrarökologe Stefano Prato. Er leitet die Gesellschaft für internationale Entwicklung – ein in Rom ansässiges Netzwerk von 80 NGOs.
"In den vergangenen Jahren hat der Einfluss transnationaler Konzerne auf die internationalen Ernährungsorganisationen stark zugenommen. Der Grund, dass nach wie vor Menschen hungern, liege auf der Hand, behaupten die Konzerne. Die Welt müsse nur mehr Nahrung produzieren. ‚Nein‘, sagen wir als Zivilgesellschaft. Tatsächlich hungern Menschen auch deshalb, weil weltweit umweltfreundlich arbeitende Kleinbauern benachteiligt werden, obwohl vor allem sie die Menschheit ernähren."
"In welche Richtung soll sich globale Landwirtschaft entwickeln?", lautet die Kernfrage der Auseinandersetzung. Und: Welchen Themen soll sich folglich die Agrar- und Ernährungsforschung widmen? An den Entscheidungen dazu hängen viel Geld und die Zukunft von Milliarden Menschen.

Maximale Produktion von Nahrung durch Grüne Revolution?

Entsprechend erbittert kämpfen die Antagonisten: Agrar-, Agrarchemie- und Lebensmittelkonzerne, ihnen nahestehende Regierungen sowie die Gates-Stiftung setzen auf maximale Produktion von Nahrung mit den Mitteln der Grünen Revolution – Hybridsaatgut, Kunstdünger, Pestiziden. Große Teile der Zivilgesellschaft dagegen fordern eine ökologische Nahrungsmittelproduktion im Einklang mit Umwelt, Klima, Gesundheit und den Rechten armer Menschen in Entwicklungsländern.
Bühne des Kampfes sind primär die Welternährungsorganisation FAO und die mit Ernährung befasste Wissenschaft. Betroffen ist vor allem Afrika – ein Eldorado, einerseits, unerschlossener Böden und Wasserressourcen, wo, andererseits, 85 Prozent der Menschen ständig von Hunger bedroht sind.
Da ist, zum Beispiel, der Norden Sambias: Karge Böden, aus denen über Jahrtausende heftiger Regen alle Nährstoffe ausgewaschen hat. Die natürliche Vegetation nur Gras und Gebüsch. Das Volk der Lamba lebe hier von Brandrodungsfeldbau, erzählt Lesa, die Führerin des Volkes.
"Wir Lamba brauchen viel Land, um unsere Familien zu ernähren. Auf immer ein oder zwei Hektar bauen sie Mais und Maniok an. Aber nach drei, vier Jahren ist das Land erschöpft und muss 30 Jahre brachliegen. Ich muss den Bauern dann neues Land zuteilen – was immer schwieriger wird: Denn mein Volk wächst immer schneller; und vom traditionellen Landbesitz der Lamba ist bald nichts mehr übrig, das ich vergeben könnte."

Afrikas Landwirtschaft sei bis heute geprägt von Ineffizienz und hilfloser Reaktion auf Naturkatastrophen, von Armut und Überalterung – meint Alexander Jones. Er ist Direktor für Partnerschaften bei der Welternährungsorganisation FAO, die Afrikas Landwirtschaft gern auf Vordermann bringen würde. Doch der finanzielle Handlungsspielraum der FAO ist eng. Gerade 500 Millionen US-Dollar Festbeiträge bekommt sie pro Jahr von den Mitgliedsländern und 1,3 Milliarden an freiwilligen, aber zweckgebundenen Zuwendungen. Viel zu wenig, um weltweit Ernährung zu sichern, meint Alexander Jones.
Brandrodung an einem Hang.
Nicht nur in Sambia, auch hier in Mosambik betreiben Kleinbauern noch Brandrodungsfeldbau.© Deutschlandradio / Thomas Kruchem

FAO kooperiert mit privaten Unternehmen

"In großem Stil können wir Ernährung nur mithilfe privater Akteure sichern. Wie können wir solche Akteure mobilisieren und ihr Engagement in die richtige Richtung lenken, fragen wir uns deshalb. Und wie bringen wir den Privatsektor dazu, Regeln zu befolgen, die – von der FAO mitentwickelt – dem Wohl aller dienen? Regeln zu verantwortungsbewussten Investitionen, zum Umgang mit Land, Dünger und Pestiziden. Kurz: Wie erreichen wir, dass mehr Investitionen zu besserer Entwicklung beitragen?"
Die FAO kooperiert mit zahlreichen NGOs, mit Wissenschaftlern – und mit Unternehmen, die besonders erpicht sind auf eine formelle Partnerschaft. Aus guten Gründen: Das positive Image der FAO färbt auf den Partner ab. Er hat Zugang zu FAO-Entscheidungsträgern und arbeitet in FAO-Gremien mit. Er hat folglich indirekten Einfluss auch auf die Gesetzgebung von Staaten, die die FAO berät. Weiche Umweltgesetze dort; Subventionen für Produkte des Unternehmens; Normen, die dessen Technik zum nationalen Standard machen: All das ist bares Geld wert.
Vor einer Partnerschaft prüft die Welternährungsorganisation das betreffende Unternehmen nach Kriterien, die für alle UN-Organisationen gleich sind: Wer in Kinderarbeit verwickelt ist, Frauen diskriminiert oder Verbrechen gegen die Umwelt begeht, wird zurückgewiesen.

Danone in Babymilch-Skandal verwickelt

Die FAO kooperiert jedoch mit einigen Unternehmen, deren Geschäftsziele elementaren FAO-Anliegen widersprechen – den Anliegen etwa, umweltfreundliche Landwirtschaft zu fördern und gesunde Ernährung: Der französische FAO-Partner Danone etwa war bereits in zahlreiche Babymilch-Skandale verwickelt und verkauft Kindern stark zuckerhaltige Joghurts als gesund. Und, wie Danone, schürt der Mars-Konzern mit seinen Süßwaren die globale Diabetespandemie – insbesondere auch in armen Ländern wie Indien. Sieht FAO-Direktor Alexander Jones da keine Interessenkonflikte für seine Organisation? "Nein!", sagt Jones:
"Mit Mars kooperieren wir bei der Bekämpfung von Mikroorganismen wie Pilzen. Ein wachsendes Problem, mit dem sich Mars bei der Produktion von Kakao und Pflanzenölen auseinandersetzt. Wir müssen einfach mit Mars zusammenarbeiten – was ja nicht heißt, dass wir zu allen Themen dieselbe Meinung haben. Ich meine, wir heiraten Mars ja nicht; wir haben nur eine Partnerschaft mit ihnen – was etwas völlig anderes ist."

Kooperation der FAO mit größten Pestizid-Konzernen

Mit ähnlichen Argumenten verteidigt Jones eine noch brisantere Kooperation: Am 2. Oktober 2020 unterschrieb FAO-Generaldirektor Qu Dongyu ein Partnerschaftsabkommen mit Croplife International, dem Verband der weltweit größten Pestizid- und Gentechnikkonzerne – wie BASF, Bayer Crop Science, Corteva und Syngenta. Ziel der Partnerschaft sei aus Sicht der FAO, mit den Pestizidherstellern den Anbau nachhaltiger Ernährungssysteme voranzutreiben und bei ihnen umweltfreundliches Verhalten einzufordern.
"Wir müssen den Unternehmen in manchen Fällen sagen, dass wir ernsthaft besorgt sind wegen einiger ihrer Praktiken. Da geht es zum Beispiel darum, wie ihre lokalen Händler hochgiftige Pestizide auf den Markt drücken. Häufig informieren sie auch die Bauern nicht über den sicheren Umgang mit Pestiziden und die ordnungsgemäße Entsorgung. Ja, wir müssen Einfluss ausüben auf die Konzerne, verantwortungsbewusst mit Pestiziden umzugehen. Davon abgesehen erörtern wir mit ihnen das große Bild der globalen Landwirtschaft."
UN-Weltenernährungsgipfel: "Lobbyisten erzwingen Lösungen"
Es gibt wieder mehr Hunger in der Welt. Dennoch hat Francisco Marí, Referent für Welternährung bei Brot für die Welt, seine Teilnahme am Welternährungsgipfel im September 2021 abgesagt. Seine Begründung: Die Nähe zur Privatwirtschaft sei zu groß. "Rechte von Kleinbauern und Interessen der Industrie dürfen nicht auf gleicher Stufe stehen", so Marí.

UN-Weltenernährungsgipfel: "Lobbyisten erzwingen Lösungen" [AUDIO] Es gibt wieder mehr Hunger in der Welt. Dennoch hat Francisco Marí, Referent für Welternährung bei Brot für die Welt, seine Teilnahme am Welternährungsgipfel im September 2021 abgesagt. Seine Begründung: Die Nähe zur Privatwirtschaft sei zu groß. "Rechte von Kleinbauern und Interessen der Industrie dürfen nicht auf gleicher Stufe stehen", so Marí.

Drei Frauen und ein Baby in indischer Kleidung stehen für eine Essensspende an.
© picture alliance / robertharding / Tim Graham
Doch das reicht vielen Konzernen nicht. Sie kooperieren deshalb mit einem zweiten Partner, der ähnlich hohe Glaubwürdigkeit wie die FAO genießt – mit der internationalen Wissenschaft.
Außerhalb der indischen Großstadt Hyderabad liegt das weitläufige Anwesen des Internationale Instituts für Nahrungsmittelpflanzen der halbtrockenen Tropen, kurz ICRISAT. Es zählt zu den 15 Instituten der Arbeitsgemeinschaft für internationale Agrarforschung so wie das Internationale Institut für Reisforschung auf den Philippinen, ein Kartoffel-Institut in Peru, eins für tropische Viehhaltung in Kenia. Die Institute der Arbeitsgemeinschaft gehören zu den führenden Einrichtungen der Agrarforschung weltweit.
In Hyderabad zeigt ICRISAT-Gentechnik-Experte Kiran Sharma dem Besucher seinen Arbeitsplatz – zugänglich nur durch eine Luftschleuse, die Tür gesichert mit einem Code.

Entwicklung von Pflanzen durch Gentechnik

"Wir befinden uns in unserem molekularbiologischen Labor, wo wir Pflanzen analysieren, denen wir neue Gene eingepflanzt haben. Wir schauen, ob die Gene die erwünschten Eigenschaften produzieren oder nicht. In unserem Sicherheitsgewächshaus vervielfältigen wir die Pflanzen dann und prüfen, ob sie die neuen Gene auch vererben."
Kiran Sharma leitet auch die Agribusiness & Innovation Platform bei ICRISAT. Solche Plattformen unterhalten die meisten Institute der Arbeitsgemeinschaft für internationale Agrarforschung. Sie dienen der Forschungszusammenarbeit mit der Industrie. Und insbesondere die Pestizidindustrie nutzt die Plattformen gern, sagt Robert Hunter, Sprecher von Croplife International.
"Die Institute der Arbeitsgemeinschaft sind seit vielen Jahren Schlüsselpartner für uns. Corteva und Bayer, zum Beispiel, haben eine Partnerschaft mit dem Internationalen Mais- und Weizenzentrum in Mexiko. Corteva kooperiert in der Sorghum-Forschung mit dem Internationalen Institut für tropische Landwirtschaft in Afrika. Und in der Agrar- und Ernährungspolitik koordinieren wir uns mit dem International Food Policy Research Institute in Washington. Da geht es vor allem um global wirksame politische Entscheidungen, die landwirtschaftliche Entwicklung fördern, und um das richtige Verständnis von Gesetzen dazu."

Pestizidkonzerne beeinflussen die Politik

Kurz: Die Pestizidkonzerne beeinflussen, mithilfe der Wissenschaft, Politik, sie profitieren von öffentlich finanzierter Spitzenforschung; und sie beeinflussen wissenschaftliche Fragestellungen so, wie es ihren Interessen entspricht. Die Folgen tragen seit Jahrzehnten Menschen und die Umwelt weltweit.
Nahe der Stadt Pampa del Indio im Chaco Argentiniens arbeitet vor einigen Jahren der Bauer Julio Fernández in seinem Gemüsegarten. Ein relativ wohlhabender Bauer: 30 Rinder, Ziegen und Hühner; ein schönes Haus aus roten Ziegelsteinen. Dennoch blickt der 60-jährige Bauer melancholisch in die Ferne – hinweg über eine endlose grau-grüne Fläche. "Die Sojaplantage einer großen Firma", sagt er und deutet auf ein in niedriger Höhe vorbeifliegendes Flugzeug, das weißlichen Sprühnebel hinter sich herzieht – Unkrautvernichtungsmittel. Dies Flugzeug gehöre zur Luftwaffe des Satans, sagt Julio bitter.

"In unseren Gemüsegärten verdrehen sich die Blätter der Pflanzen und werden braun. Und wenn etwas nachwächst, schießt es dünn und blassgrün in die Höhe. Bei unseren Tieren haben wir jetzt immer wieder Missgeburten. Unsere Frauen haben auch oft Früh- oder Fehlgeburten. Etliche Babys haben eine Hasenscharte; und so viele Menschen hier sterben an Krebs."


Nach einer neuen Untersuchung des Pestizid-Aktionsnetzwerks PAN International kommt es jährlich weltweit zu fast 400 Millionen Vergiftungen durch Pestizide; über 200.000 Menschen sterben daran; Nutzinsekten wie Bienen sind vielerorts verschwunden.
Angesichts dessen müsse die FAO eigentlich alles tun, ihren Internationalen Kodex für den Umgang mit Pestiziden wirklich durchzusetzen, meint Stefano Prato von der Gesellschaft für internationale Entwicklung. Stattdessen paktiere die FAO mit der Pestizidindustrie.
Spritzen von Pflanzenschutzmitteln ist beim Anbau von Soja Hauptursache für die fortschreitende Zerstörung des Amazonas-Regenwalde.
So wie hier in Brasilien werden auch in Argentinien immer noch große Mengen Pflanzenschutzmittel versprüht. © imago images / imagebroker

Fragwürdige Zusammenarbeit mit Konzern

"Die FAO-Partnerschaft mit Croplife International untergräbt das Engagement der FAO gegen die Auswirkungen chemischer Pestizide. Wie, frage ich mich, will die FAO mit diesen Unternehmen kooperieren und zugleich ihren eigenen Kodex zum Umgang mit Pestiziden durchsetzen? Der fordert ja ausdrücklich, dass die Landwirtschaft drastisch weniger chemische Pestizide einsetzt."
Vor diesem Hintergrund operiert in Afrika die Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika, AGRA. Die Initiative versucht seit 2006, die Landwirtschaft Afrikas zu modernisieren. Finanziert wird sie vor allem von der Gates-Stiftung, die – wie im Gesundheitswesen – auch in der Landwirtschaft schnelle und messbare Erfolge anstrebt.
AGRA drängt Afrikas Regierungen, ausländische Investitionen im Agrar- und Ernährungswesen zu fördern. Sie sollen den Markt für Hybridsaatgut, Kunstdünger und chemische Pestizide liberalisieren und solche Agrarinputs subventionieren. Die Bauern wiederum sollen sich, unter Einsatz solcher Inputs, auf ertragreiche Pflanzen wie Mais, Soja und Maniok konzentrieren, die die Industrie exportieren oder zu Pulver für die Nahrungsmittelindustrie verarbeiten kann.
Tim Wise, der an der Tufts University in Massachusetts forscht, hat nach 15 Jahren AGRA die Resultate untersucht – unterstützt aus Deutschland von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Brot für die Welt. Sein Report ist unter dem Titel "Falsche Versprechen" erschienen.

Ernährungsunsicherheit nimmt weiter zu

AGRA wurde 2006 gegründet – mit dem Ziel, bis 2020 Produktivität und Einkommen von 30 Millionen Kleinbauern in 13 afrikanischen Ländern zu verdoppeln und die Rate der Ernährungsunsicherheit zu halbieren. 2020 haben wir geschaut, was von diesen Zielen erreicht wurde – mit ernüchterndem Ergebnis: Eine Steigerung der Produktivität wurde nur bei wenigen Produkten erreicht – vor allem bei Mais. Das allerdings auf Kosten nahrhafterer und widerstandsfähigerer Getreidepflanzen wie Hirse und Sorghum. In der Folge hat die Ernährungsunsicherheit nicht ab-, sondern zugenommen. Nach FAO-Schätzungen ist die Zahl unterernährter Menschen in den 13 AGRA-Ländern zwischen 2006 und 2020 um 30 Prozent gestiegen."
Hinzu komme, sagt Tim Wise: Viele Kleinbauern verschuldeten sich beim Kauf teurer Agrarchemikalien; größere, oft ausländischer Betriebe übernähmen ihr Land. Die Rechnung in Form sozialer Verwerfungen, zerstörter Lebensräume, belasteter Gewässer, reduzierter Biodiversität und des zusätzlich angeheizten Klimawandels müssten künftige Generationen bezahlen.
Ähnliche Sorgen treiben längst auch international führende Wissenschaftler um. Der Bonner Agrarökonom Professor Joachim von Braun, zum Beispiel, ist Chef des wissenschaftlichen Beirats für den bevorstehenden Ernährungsgipfel und Vizepräsident der Deutschen Welthungerhilfe. Von Braun hält, im Gegensatz zu Tim Wise und vielen NGOs, die AGRA-Initiative zwar für recht erfolgreich; zugleich jedoch beurteilt er die von AGRA geforderten Subventionen für Agrarchemie überaus kritisch:

"Subventionen sind ineffizient"

"Diese Subventionen sind von Übel, ineffizient und treiben Agrartechnologien von gestern; und da müssen wir runterkommen."
Außerdem meint Joachim von Braun – wiederum im Gegensatz zur AGRA-Initiative:
"Wir müssen weg von den großflächigen Monokulturen, in denen die Biodiversität keine Chance hat. Wie können wir davon wegkommen? Biolandbau an sich, der auch weiterhin Monokultur auf dem Feld hat, löst das Problem nicht. Wir müssen tatsächlich wieder Biodiversität auf die Felder kriegen – und nicht nur Öko-Inseln am Rand oder Blumenstreifen ums Feld; sondern wir brauchen die Mischkultur im Feld."
Im ugandischen Bezirk Mubende feiert vor einigen Jahren die Tochter des Kleinbauern Edward Ssebufwu ihren 18. Geburtstag. Ssebufwu, ein drahtiger älterer Bauer, führt den Besucher durch seinen dicht bewachsenen Garten voller Mango-, Papaya-, Passionsfrucht- und Jackfruit-Bäume; voller Stauden grüner Bananen, die Kaffeesträucher beschatteten. Ein Dutzend Eukalyptusbäume sichern den Eigenbedarf an Holz; auf den Feldern ringsum wachsen Mais, Maniok und Elefantengras für Edward’s 20 Kühe.
Besonders stolz ist Edward Ssebufwu auf den Vitrinenschrank in seiner Küche.
"In der oberen Reihe sehen Sie Flaschen mit süßem Wein – aus Papaya, Mango und Bananen. Die Flaschen in der unteren Reihe sind voller Passionsfruchtkonzentrat – alles selbst hergestellt aus Fruchtsaft und Zucker."

Erfolgreiche Landwirtschaft durch Mischkulturen

Der Bauer Edward Ssebufwu benutzt keinen Kunstdünger. Stattdessen bepflanzt er seinen Acker mit Mais und Hülsenfrüchten, die natürlichen Dünger liefern. Edward benutzt auch keine chemischen Pestizide. Stattdessen setzt er Pflanzen in seinem Garten, die Schädlinge vertreiben; und seine vier Kinder rupfen morgens vor der Schule Unkraut. Ein Bauer, der verblüffend viel weiß, aber auch zehn Stunden täglich arbeitet und den Agrarberatern einer lokalen Hilfsorganisation Löcher in den Bauch fragt.
Das Beispiel des Edward Ssebufwu zeigt, dass afrikanische Kleinbauern mit Mischkultur und agrarökologischer Landwirtschaft erfolgreich sein können. Der Aufwand allerdings ist hoch: Knochenarbeit von früh bis spät; die Bereitschaft und die Fähigkeit, komplexe natürliche Prozesse zu verstehen und zu nutzen.

30 Prozent der Bauern weltweit arbeiten agrarökologisch; die meisten allerdings nur deshalb, weil sie kein Geld für Agrarchemie haben – und höchst ineffizient. Damit diese Bauern bewusst und erfolgreich ökologisch arbeiten können, brauchen sie Kapital, Zugang zu Märkten und zu Wissen. Und viele Fragen der Bauern hat die Wissenschaft noch nicht beantwortet:
Wie kontrolliere ich mit natürlichen Mitteln und möglichst wenig Aufwand Schädlinge und Unkraut? Wie kombiniere ich, unter meinen lokalen Bedingungen, bestmöglich Getreide, Maniok, Hülsenfrüchte, Sträucher und Bäume? Wie mechanisiere ich umweltverträglich und minimiere mühsame Handarbeit?
Superthemen eigentlich für die Institute der Arbeitsgemeinschaft für internationale Agrarforschung. Deren Geldgeber jedoch – Regierungen, Entwicklungsbanken und die Gates-Stiftung – finanzieren die Institute vorwiegend zu anderen Zwecken. Die 850 Millionen US-Dollar jährlich fließen vor allem in eng umrissene Projekte, die Nahrungsmittelpflanzen produktiver und resistenter gegen Schädlinge machen sollen. Nur allmählich weite sich der Blick, berichtet der niederländische Agrarwissenschaftler Marc Schut. Er leitete bis vor Kurzem das Internationale Institut für tropische Landwirtschaft in Ruanda.
Eine Frau steht an einem Kaffeestrauch
Mischkultur von Kaffee und Bananen: In Uganda betreibt die Familie des Bauern Edward Ssebufwu ökologische Landwirtschaft.© Deutschlandradio / Thomas Kruchem

Landwirtschaft ganzheitlich betrachten

"Ein Bauer braucht nicht nur eine gute Ernte. Er braucht auch Zugang zum Markt und muss wissen, wie er seine Produkte optimal lagert. Und kommen neue Technologien auf dem Markt, braucht er Zugang zu Krediten und das nötige Wissen, verantwortungsbewusst zu investieren. Wir Wissenschaftler und die Bauern müssen also Landwirtschaft ganzheitlich betrachten – als ein komplexes System. Wir müssen verstehen, welche Funktionen die einzelnen Elemente haben und wie sie zusammenspielen."
Seit Kurzem wird die Arbeitsgemeinschaft für internationale Agrarforschung, auf Wunsch der Gates-Stiftung, grundlegend reformiert. Die bisher unabhängigen Institute werden unter zentrale Führung gestellt, die Arbeit koordiniert, das Budget verdoppelt. Marc Schut hilft bei der Neuorganisation. Viel Doppelarbeit, sagt er, werde künftig vermieden werden; Landwirte, die Informationen zu unterschiedlichen Themen brauchen, könnten sich künftig bei einer Stelle informieren. Die längst überfällige Digitalisierung der Landwirtschaft in Entwicklungsländern werde rascher vorankommen.

Wird die Autonomie der Institute untergraben?

Stefano Prato jedoch befürchtet, dass die Zentralisierung einem ganz anderen Zweck dient: Die mit den Konzernen verbundenen großen Geldgeber – die USA, Großbritannien und die Gates-Stiftung – wollten die Autonomie der einzelnen Institute untergraben; sie wollten Forschung, die ihnen nicht passe, aushungern.
"Die Gates-Stiftung und andere Geldgeber wollen aus der Arbeitsgemeinschaft für internationale Agrarforschung eine Art wissenschaftlich-industriellen Komplex formen – mit Fragestellungen und Forschungsergebnissen, die die Landwirtschaft im Sinne der Industrie unterstützen. Digitalisierung und andere Technologie sollen Umwelt- und Gesundheitsprobleme lösen, die die Industrie mit ihren Technologien verursacht hat.
Zugleich wird unabhängige Forschung untergraben; und traditionelles Wissen, wie das Erfahrungswissen von Kleinbauern, Hirten und indigenen Völkern, wird marginalisiert. Solches Wissen passt einfach nicht zu der Wissenschaft, wie sie die Institute der Arbeitsgemeinschaft zunehmend betreiben."

Ethisch geprägte Wissenschaft gefordert

Für NGO-Aktivisten wie Prato verkörpern Ackerbau und Ernährung, Umwelt- und Klimaschutz, die soziale Situation von Bauernfamilien, Kultur, lokale Selbstbestimmung und ein weit gefasstes Recht auf Nahrung ein untrennbares Ganzes. Dieses Ganze müsse Wissenschaft verstehen und Wege suchen, den Rechten der Menschen und des Lebens insgesamt zur Geltung zu verhelfen – gegen die Profitinteressen der Agrarkonzerne.
Ein stark ethisch geprägtes Verständnis von Wissenschaft, das sich beißt mit dem eher analytischen Verständnis eines Marc Schut oder Joachim von Braun: "Wie können wir, unter Einsatz modernster Digitaltechnologie, möglichst pestizidfrei den Ertrag einer ruandischen Mischkultur aus Mais, Buschbohnen und Baumtomaten optimieren?", würden solche Wissenschaftler vielleicht fragen. Die sachliche und ethische Relevanz ihrer Fragen wird oft nicht sichtbar.
Trotzdem dürften auch viele NGO-Aktivisten anerkennen, dass Professor Joachim von Braun als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats für den Ernährungsgipfel ein breites Spektrum von Themen aufbereiten lässt.
Nur: Welche Fragen Wissenschaftler in den kommenden Jahren so intensiv beackern dürfen, dass sie damit Nahrungsmittelproduktion und Ernährung dieser Welt beeinflussen, hängt vom Geld ab. Und das Geld für Agrar- und Ernährungsforschung kommt immer häufiger von Konzernen oder unternehmensnahen Stiftungen mit ihren ureigenen Interessen.
Im Gespräch regt sich Joachim von Braun über solche Dinge allerdings nicht auf. Ihn irritieren eher die Stefano Pratos dieser Welt, die ethisch und wissenschaftlich eine für ihn schwer verständliche Sprache sprechen.
"Viele Kritiker wünschen ja nach wie vor die Verteilung von Hacken an afrikanische Landfrauen, die sie glauben, damit in der Kultur zu halten. Unseres Erachtens ist es enorm wichtig, darauf zu achten, dass Zugang zu Information, zu Digitalisierung, so hergestellt wird, dass er nicht monopolisiert wird durch Firmen und nicht nur für Landwirte zur Verfügung steht, sondern eben für den Kleinbauern, der damit sowohl Produktionstechnik als auch Vermarktung stärken kann."
Für die zweite Hälfte September hat UN-Generalsekretär António Guterres zum Ernährungsgipfel nach New York geladen – in Partnerschaft mit dem Weltwirtschaftsforum, einer Stiftung, die alljährlich Wirtschaftsführer und Politiker im Schweizer Kurort Davos zusammenbringt.

Fachorganisationen nicht Veranstalter des Ernährungsgipfels

Erstmals zählen die in Rom sitzenden Fachorganisationen nicht zu den Veranstaltern eines Ernährungsgipfels. Die FAO, das Welternährungsprogramm und der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung, IFAD, dürfen nur mitmachen. Auch das Komitee für globale Ernährungssicherheit, das als weltweit wichtigste Plattform für Ernährungsdebatten natürlicher Veranstalter eines Ernährungsgipfels gewesen wäre, wurde marginalisiert. All das habe großes Befremden ausgelöst in Rom – berichten Insider, die nicht genannt werden wollen.
NGO-Vertretern wie Stefano Prato stößt zudem auf, dass der UN-Generalsekretär eine besonders profilierte Vertreterin der industrienahen Landwirtschaft zur Leiterin des Gipfels ernannt hat: Agnes Kalibata, die Chefin der AGRA-Initiative. Technische Fortschritte wie Präzisionslandwirtschaft, Digitalisierung und Gentechnik dürften deshalb eine überproportional wichtige Rolle spielen auf der Gipfel-Agenda.
"Der Gipfel wird in höchst undurchsichtiger Manier organisiert – ohne dass die UN-Mitgliedstaaten an den Entscheidungen dazu beteiligt sind. Stattdessen entwerfen nun Vertreter der Wirtschaft eine Strategie gegen den Hunger, bei der die Industrie und ihre Technologien die Hauptrolle spielen. Dies, obwohl die Ernährungsdiskussion seit Jahren in eine andere Richtung geht: Sie berücksichtigt auch den Schutz von Umwelt und Gesundheit, den Lebensunterhalt von Kleinbauern und die Gleichberechtigung der Frau. Solchen Anliegen und nicht mehr bloßer Produktivität sollten sich Politik und öffentliche Investitionen widmen. Genau das aber wollen die Konzerne verhindern, indem sie den Ernährungsgipfel und seine Agenda kapern."
200 NGOS, unter ihnen deutsche Organisationen wie Brot für die Welt und Misereor, haben beschlossen, den Welternährungsgipfel zu boykottieren und Gegenveranstaltungen zu organisieren. Die UN müssten endlich wieder zu ihrem ureigenen Selbstverständnis zurückkehren, fordern die NGOs. Regierungen müssten wieder über die wichtigen Fragen dieser Welt entscheiden – und nicht Versammlungen von Interessenvertretern, die doch nur die gesellschaftlichen Machtverhältnisse spiegelten.

Regie: Roman Neumann
Technik: Jan Fraune
Redaktion: Carsten Burtke
Sprecherin: Nadja Schulz-Berlinghoff
Sprecher: Joachim Schönfeld, Romanus Fuhrmann, Rosario Bona

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