Gefährdetes Leben
In der "Geschichte der Familie von Anne Frank" berichtet Mirjam Pressler von den Vorfahren der berühmten Tagebuch-Autorin, die im KZ Bergen-Belsen ums Leben kam. Erste Zeugnisse reichen zurück bis in die Zeit des jüdischen Ghettos in Frankfurt am Main.
Der frühe Tod seines Vaters lag vier Monate zurück, als Otto Frank folgende Zeilen an seine Mutter schrieb:
"Dass Du dich mehr & mehr in Dich zurückziehen willst, finde ich absolut nicht richtig. Du darfst das nicht, Deiner & Deiner Kinder wegen. Ich weiß, dass Du von Natur aus verschlossen bist & lieber alles mit Dir allein abmachst, aber Du darfst zu dieser Natureigenschaft nicht auch noch den Willen treten lassen."
Der Brief datiert vom Januar 1910, und Otto Frank war erst 21 Jahre alt, als er seine Mutter liebevoll, aber auch überraschend direkt dazu aufforderte, ihr Leben wieder aktiv zu gestalten.
"Verschließe Dich nicht, sondern öffne Deine Sicht wieder (…) Arbeite etwas aber nicht rein mechanisch, sondern in der Absicht etwas zu tun, das einen Zweck hat. (…) Kannst Du nicht helfen? Jeder nach seiner Art! Aber helfen & unterstützen kann jeder & wenn Du entgegnest, Du kannst nicht helfen, da Du selbst hilflos bist, so lasse ich das nicht gelten. Weil Du Schmerz fühlen kannst, kannst Du anderer Schmerz verstehen & so auch lindern."
Der Rat des jungen Sohnes charakterisiert die Offenheit in der Familie Frank und ihn selbst als fürsorgliche und reife Persönlichkeit. Auch später ist dieser Mann außerordentlich beeindruckend.
Als Otto Frank 1945 aus Auschwitz nach Amsterdam zurückgekehrt war, fand er das Tagebuch seiner in Bergen-Belsen ums Leben gebrachten Tochter Anne Frank. Die Lektüre überraschte und bewegte ihn zutiefst. Er ließ die Aufzeichnungen drucken und stellte all seine Kraft ganz in den Dienst des rasch weltberühmt werdenden Buches. Sein Einsatz für das Werk seiner Tochter und dessen Wirkung sind ein wichtiger Teil der Familiengeschichte – bis heute.
In Mirjam Presslers "Geschichte der Familie von Anne Frank" begegnen wir jedoch auch vielen anderen Personen. Die Autorin erzählt die Geschichte der Vorfahren vom 18. Jahrhundert an. Erste Zeugnisse reichen zurück bis in die Zeit des jüdischen Ghettos in Frankfurt am Main. Am Anfang des Buches klingen die Beschreibungen gelegentlich etwas betulich und idealisierend. Aber das gibt sich, sobald sich Mirjam Pressler auf tatsächliche Zeugnisse vielfältiger Art und auf die langen Gespräche verlassen kann, die sie mit Nachkommen der Franks geführt hat.
Die Franks waren kultiviert und wurden wohlhabende und weltläufige Bürger der Stadt Frankfurt. Die familiären Bande waren in vielen Fällen überaus stark. Briefe aus vielen Jahrzehnten zeigen auf bewegende Weise, wie sehr man Anteil nahm aneinander, wie selbstverständlich man sich gegenseitig zu helfen suchte und wie groß die Sehnsucht wurde, wenn man sich lange nicht treffen konnte, wie groß die Sorge um die anderen war in der Zeit der Verfolgung und der Ungewissheit. Da lebte die Familie weit verstreut in Europa und Übersee, unter anderem in Deutschland, in Basel, London und Amsterdam.
Seit den späten 1940er-Jahren bis heute ist die Familiengeschichte in besonderer Weise von Anne Franks Tagebuch mitbestimmt. Zunächst war es Otto Frank, der über Jahrzehnte so eng damit verbunden war, auch, indem er den Anne Frank-Fonds gründete. Heute sind es Annes Cousin Buddy Elias und dessen Frau Gerti, die das Erbe Anne Franks lebendig erhalten und über den Fonds wachen, der friedensfördernde und völkerverbindende Projekte in aller Welt unterstützt, Projekte die den Anliegen Anne Franks entsprechen.
Buddy Elias machte als Junge großen Eindruck auf seine vier Jahre jüngere Cousine Anne Frank. Seine Fähigkeiten als Eiskunstläufer hatten es ihr angetan, und sie eiferte ihm nach. Im Januar 1941 schrieb sie an ihren Cousin, sie sei so oft wie möglich auf der Schlittschuhbahn:
"Ich nehme nun regelmäßig Kunstlaufstunden, da lernt man Walzer, Springen und was sonst noch zum Kunstlaufen gehört. (…) Vielleicht können wir später einmal zusammen auftreten, aber dann muss ich sicher sehr hart studieren, um so weit zu kommen, wie du es bist."
Buddy Elias wurde Schauspieler und ein erfolgreicher Eiskunstläufer. 14 Jahre - bis Anfang der 60er-Jahre - zog er mit Holiday on Ice um die Welt. Und um die Welt zog auch das Tagebuch seiner Cousine Anne Frank. Wohin Buddy Elias auch kam in Süd- oder Nordamerika, in Asien oder Europa, erkundigte er sich nach dem Buch und sah sich an vielen Orten der Welt das Stück an, das daraus entstanden war. Und natürlich berichtete er seiner Familie darüber.
Auch seine Briefe gehörten zu dem reichen und seltenen Schatz, den seine Frau erst vor einigen Jahren auf dem Dachboden des Familienhauses in Basel fand: große Mengen von Briefen und vielfältige andere Dokumente aus zwei Jahrhunderten. Sie wurden gesichtet und archiviert und schließlich Grundlage des lesenswerten Buches von Mirjam Pressler.
Mirjam Pressler: Grüße und Küsse an alle. Die Geschichte der Familie von Anne Frank
S. Fischer Verlag, 426 Seiten, 22,95 Euro
"Dass Du dich mehr & mehr in Dich zurückziehen willst, finde ich absolut nicht richtig. Du darfst das nicht, Deiner & Deiner Kinder wegen. Ich weiß, dass Du von Natur aus verschlossen bist & lieber alles mit Dir allein abmachst, aber Du darfst zu dieser Natureigenschaft nicht auch noch den Willen treten lassen."
Der Brief datiert vom Januar 1910, und Otto Frank war erst 21 Jahre alt, als er seine Mutter liebevoll, aber auch überraschend direkt dazu aufforderte, ihr Leben wieder aktiv zu gestalten.
"Verschließe Dich nicht, sondern öffne Deine Sicht wieder (…) Arbeite etwas aber nicht rein mechanisch, sondern in der Absicht etwas zu tun, das einen Zweck hat. (…) Kannst Du nicht helfen? Jeder nach seiner Art! Aber helfen & unterstützen kann jeder & wenn Du entgegnest, Du kannst nicht helfen, da Du selbst hilflos bist, so lasse ich das nicht gelten. Weil Du Schmerz fühlen kannst, kannst Du anderer Schmerz verstehen & so auch lindern."
Der Rat des jungen Sohnes charakterisiert die Offenheit in der Familie Frank und ihn selbst als fürsorgliche und reife Persönlichkeit. Auch später ist dieser Mann außerordentlich beeindruckend.
Als Otto Frank 1945 aus Auschwitz nach Amsterdam zurückgekehrt war, fand er das Tagebuch seiner in Bergen-Belsen ums Leben gebrachten Tochter Anne Frank. Die Lektüre überraschte und bewegte ihn zutiefst. Er ließ die Aufzeichnungen drucken und stellte all seine Kraft ganz in den Dienst des rasch weltberühmt werdenden Buches. Sein Einsatz für das Werk seiner Tochter und dessen Wirkung sind ein wichtiger Teil der Familiengeschichte – bis heute.
In Mirjam Presslers "Geschichte der Familie von Anne Frank" begegnen wir jedoch auch vielen anderen Personen. Die Autorin erzählt die Geschichte der Vorfahren vom 18. Jahrhundert an. Erste Zeugnisse reichen zurück bis in die Zeit des jüdischen Ghettos in Frankfurt am Main. Am Anfang des Buches klingen die Beschreibungen gelegentlich etwas betulich und idealisierend. Aber das gibt sich, sobald sich Mirjam Pressler auf tatsächliche Zeugnisse vielfältiger Art und auf die langen Gespräche verlassen kann, die sie mit Nachkommen der Franks geführt hat.
Die Franks waren kultiviert und wurden wohlhabende und weltläufige Bürger der Stadt Frankfurt. Die familiären Bande waren in vielen Fällen überaus stark. Briefe aus vielen Jahrzehnten zeigen auf bewegende Weise, wie sehr man Anteil nahm aneinander, wie selbstverständlich man sich gegenseitig zu helfen suchte und wie groß die Sehnsucht wurde, wenn man sich lange nicht treffen konnte, wie groß die Sorge um die anderen war in der Zeit der Verfolgung und der Ungewissheit. Da lebte die Familie weit verstreut in Europa und Übersee, unter anderem in Deutschland, in Basel, London und Amsterdam.
Seit den späten 1940er-Jahren bis heute ist die Familiengeschichte in besonderer Weise von Anne Franks Tagebuch mitbestimmt. Zunächst war es Otto Frank, der über Jahrzehnte so eng damit verbunden war, auch, indem er den Anne Frank-Fonds gründete. Heute sind es Annes Cousin Buddy Elias und dessen Frau Gerti, die das Erbe Anne Franks lebendig erhalten und über den Fonds wachen, der friedensfördernde und völkerverbindende Projekte in aller Welt unterstützt, Projekte die den Anliegen Anne Franks entsprechen.
Buddy Elias machte als Junge großen Eindruck auf seine vier Jahre jüngere Cousine Anne Frank. Seine Fähigkeiten als Eiskunstläufer hatten es ihr angetan, und sie eiferte ihm nach. Im Januar 1941 schrieb sie an ihren Cousin, sie sei so oft wie möglich auf der Schlittschuhbahn:
"Ich nehme nun regelmäßig Kunstlaufstunden, da lernt man Walzer, Springen und was sonst noch zum Kunstlaufen gehört. (…) Vielleicht können wir später einmal zusammen auftreten, aber dann muss ich sicher sehr hart studieren, um so weit zu kommen, wie du es bist."
Buddy Elias wurde Schauspieler und ein erfolgreicher Eiskunstläufer. 14 Jahre - bis Anfang der 60er-Jahre - zog er mit Holiday on Ice um die Welt. Und um die Welt zog auch das Tagebuch seiner Cousine Anne Frank. Wohin Buddy Elias auch kam in Süd- oder Nordamerika, in Asien oder Europa, erkundigte er sich nach dem Buch und sah sich an vielen Orten der Welt das Stück an, das daraus entstanden war. Und natürlich berichtete er seiner Familie darüber.
Auch seine Briefe gehörten zu dem reichen und seltenen Schatz, den seine Frau erst vor einigen Jahren auf dem Dachboden des Familienhauses in Basel fand: große Mengen von Briefen und vielfältige andere Dokumente aus zwei Jahrhunderten. Sie wurden gesichtet und archiviert und schließlich Grundlage des lesenswerten Buches von Mirjam Pressler.
Mirjam Pressler: Grüße und Küsse an alle. Die Geschichte der Familie von Anne Frank
S. Fischer Verlag, 426 Seiten, 22,95 Euro