Gefährlich wohnen in der Villa 31

Von Francisco Olaso |
Die Villa 31 ist der am dichtesten bevölkerte Slum von Buenos Aires. Das Elendsviertel existiert seit 80 Jahren, heute leben dort 30.000 Menschen. Der Stadtrat plant eine "Urbanisierung" der Villa 31, geschehen ist bisher nichts - doch die Bewohner kümmern sich selbst um eine gute Nachbarschaft.
Zweimal in der Woche um 17.45 Uhr geht die Argentinierin Mónica Santino in Buenos Aires vom Bahnhof Retiro aus eine von alten Platanen gesäumte Allee entlang und biegt zwischen zwei unverputzen Ziegelhäusern in eine Gasse ein. Sie gehört zu den wenigen Fremden, die sich das trauen. Denn hier in der Villa 31 beginnt eine andere Welt. Fünf Prozent der Einwohner von Buenos Aires leben in einer Villa miseria, einem Elendsviertel. Es gibt insgesamt 14 in der Stadt. Mit 30.000 Einwohner auf 16 Hektar ist Villa 31 das am dichtesten bevölkerte.

Die großgewachsene, 47-jährige Mónica trägt einen blauen Trainingsanzug und einen Rucksack. Ihr Weg führt an bunt bemalten Häusern vorbei, deren Fenster und Türen vergittert sind. Außentreppen führen auf die Dächer, auf die immer weitere Wohnungen gesetzt wurden, bis zu fünf Stockwerke hoch. Zusammen mit anderen Passanten drängt sie sich an Verkaufsständen und Grills vorbei und weicht Handwagen, Mopeds und Autos aus. Seit fünf Jahren trainiert sie hier ein Frauenfußballteam, das sich auf ihre Initiative hin gegründet hat. Die gelernte Sportlehrerin ist gleichzeitig eine Art Sozialarbeiterin.

Mónica Santino: "Das Fußballtraining bildet den Kern unserer Arbeit. Aber weil uns klar wurde, dass es auch um Gesundheit, Sexualität, Familienplanung und Frauenrechte gehen muss, haben wir zusätzlich einen Raum für Gruppengespräche eingerichtet, der aber von einer gelernten Sozialarbeiterin koordiniert wird."

Villa 31 steht für Armut, Drogen und Kriminalität. Die meisten Bewohner von Buenos Aires halten das Viertel für ein extrem gefährliches Terrain, das sie meiden. Im Hintergrund spiegelt sich die Sonne in den Glasfassaden der Hochhäuser des Nachbarbezirks. Ansonsten ist die moderne schicke argentinische Hauptstadt hier wie vom Erdboden verschluckt.

Eine Gruppe Jugendlicher taxiert die Passanten. Ein Kioskbesitzer schiebt einer Kundin den Einkauf durch ein Gitterfenster hindurch. Im Hintergrund hört man den Verkehr rauschen. Eine Autobahnbrücke führt über das Viertel hinweg. Genau darunter befindet sich das Sport- und Kulturzentrum, aus dem Mónica Santino ein Netz mit Fußbällen holt. Vor dem Fußballplatz wartet bereits eine Gruppe Mädchen mit geschulterten Sporttaschen.

Mónica Santino: "”Der Fußballplatz ist der wichtigste öffentliche Platz in der Villa und hat einen hohen Symbolwert. Es war nicht selbstverständlich, dass unsere Trainingszeiten respektiert werden, und wir haben manchmal noch heute Probleme damit. Dass die Männer runter vom Platz müssen, weil die Frauen dran sind, ist neu. Auch für die Mädchen ist es ungewohnt, mal nicht zu arbeiten. Meistens haben sie eine Menge um die Ohren: Hausarbeit, Geschwister betreuen, wenn nicht sogar schon die eigenen Kinder. Aber es ist toll, dieses Recht einfordern zu können, das der Fußball mit sich bringt, einfach mal Spaß zu haben, es sich gut gehen zu lassen.""

Abwertende Ausdrücke sind sie gewohnt
Rund 30 Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren schießen sich gegenseitig Bälle zu. Der mit Maschendraht eingezäunte Kunstrasenplatz ist die Lunge des dicht bebauten Viertels. Hinter einem der beiden Tore ragt sogar eine aus vier Betonstufen bestehende Tribüne empor. Eine Spielerin wischt sich an der Seitenlinie den Schweiß von der Stirn und nimmt einen Schluck aus einer Wasserflasche. Beide Handgelenke zieren jeweils drei bunte Bänder. Conti Rojas ist 21 Jahre alt. Sie weiß um den schlechten Ruf des Viertels:

"Ich bin abwertende Ausdrücke wie ‚Schwarze‘ oder ‚Villera‘ gewohnt. Das stört mich schon nicht mehr. Wenn du älter wirst, kapierst du, dass im Grunde alle Menschen gleich sind. Außer, dass andere vielleicht mehr Geld haben. An den Vorurteilen sind wir manchmal auch selbst Schuld, wenn zum Beispiel einer von uns da draußen jemanden für ein Handy oder ein paar Pesos umbringt. Ich behaupte gar nicht, dass wir perfekt sind."

Conti Rojas Lebenslauf ist exemplarisch für den vieler Jugendlicher in der Villa 31. Ohne Vater aufgewachsen, brach sie mit neun Jahren zum ersten Mal die Schule ab und geriet schon als Kind auf die schiefe Bahn:

"”Das erste, was ich überfiel, war eine Bäckerei. Da war ich 14. Damals rauchte ich schon Marihuana und trank manchmal Alkohol. Dann folgten, immer zusammen mit Freunden, ein Kiosk, eine Apotheke und ein Restaurant.""
Nach einem Raubüberfall im Zentrum von Buenos Aires, den sie zusammen mit einem Freund beging, wurde Conti zu einem Jahr Haft in einer Jugendstrafanstalt verurteilt:

"”Wir bummelten die Avenida Nueve de Julio runter und bogen in die Lavallestrasse ein. Da ist ein McDonald‘s. Ich sagte: ‚Da gehen wir jetzt rein!‘ Also okay, los. Wir raubten den McDonald‘s aus und machten uns aus dem Staub. Im Taxi sagte ich: ‚Weißt du was? Ich glaube, diesmal werden wir in den Knast kommen.‘ Und tatsächlich … zwei Blöcke weiter stoppte uns eine Polizeistreife. Es war das erste Mal, dass ich den Lauf einer Pistole am Kopf spürte: ‚Raus oder ich schieße!‘ Ich musste aussteigen. Die Waffe, die ich hatte, war eine Spielzeugwaffe.""
Conti Rojas hat es nach der Entlassung vor zwei Jahren geschafft, von den Drogen wegzukommen. Der Rückhalt im Team hat ihr geholfen, und die Erfahrung, dass sie sich auch außerhalb des Fußballfeldes nicht zu verstecken braucht. Jetzt möchte sie die Schule abschließen und eine Ausbildung als Köchin anfangen.

1976: Ein dunkles Kapitel der Geschichte
Plötzlich erklingt ein heller Ton aus der Gasse neben dem Fußballfeld. Ein älterer Herr mit gegerbtem Gesicht zieht in einer Kapelle am Strang eines silberfarbenen Glöckchens. Es ist kaum größer als ein Marmeladenglas und hängt neben dem Türrahmen. Julio Soria läutet zur Abendmesse. Die Kapelle unterscheidet sich von den anderen Häusern lediglich dadurch, dass auf die hellblau gestrichene Mauer Madonnenbilder und die Gestalt eines weiß gekleideten Priesters gemalt sind.

Julio ist hier nicht nur der Küster. Er hat das Gotteshaus en miniature in seiner Freizeit mit den eigenen Händen errichtet. Vor 45 Jahren kam der gelernte Maurer aus Bolivien nach Buenos Aires und landete in der Villa 31. Im März 1976 putschte sich eine Junta von Generälen an die Macht in Argentinien. Eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des Landes begann. Damals sollte die Villa 31 mit Gewalt geräumt werden. Julio Soria gehörte zu den wenigen, die sich dagegen wehrten:

"”Wir waren 47 Familien, die hier blieben. Alle anderen haben sie weggebracht. Sie kamen mit Lastwagen und verkündeten: ‚Ihr bekommt woanders ein Haus!‘ Sie räumten alles aus den Häusern, luden es auf und demolierten die Häuser anschließend. Nur Trümmer blieben zurück. Ich hab es mit eigenen Augen gesehen, ich war dabei, deswegen kann ich das sagen.""

Die Räumung wurde durch einen Appell von Priestern, dem eine richterliche Verfügung folgte, im Jahr 1979 gestoppt. Und mit der Rückkehr zur Demokratie fünf Jahre später wurde das Viertel wieder besiedelt. Und noch einmal 30 Jahre später, im Dezember 2009, beschloss der Stadtrat die Urbanisierung der Villa 31. Das heißt, die Öffnung von Straßen für den Autoverkehr, die Anlage von Grünflächen, die Modernisierung vorhandener Gebäude und den Anschluss an Kanalisation, Gas-, Strom- und Telefonnetz. Bisher sind die Leitungen provisorisch verlegt und illegal. Bei starkem Regen laufen die Sickergruben des Viertels über, und es stinkt bestialisch.

Heute, vier Jahre nach dem Beschluss der Urbanisierung, steht die abschließende Zustimmung zum Bauplan immer noch aus. Argentiniens Staatspräsidentin Cristina Kirchner wirft dem konservativen Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, vor, das Projekt zu verzögern. Macri seinerseits fordert von der Staatsregierung, die Grundstücke, auf denen die Villa 31 errichtet wurde, der Stadt Buenos Aires zu übertragen. Denn sie gehören immer noch der staatlichen Eisenbahn. Die Urbanisierung des Elendsviertels nur einen Steinwurf entfernt von der Plaza de Mayo würde das Milliardengeschäft zunichte machen, für das die mächtige Immobilienbranche seit Jahren Lobbyarbeit betreibt. Auf dem 16 Hektar großen Gelände könnten wie im Nachbarbezirk Puerto Madero exklusive Hochhäuser entstehen mit Blick auf den Río de la Plata.

Eine in ihrem Scheitelpunkt 15 Meter hohe Brücke der Stadtautobahn teilt das Viertel. Die darunter geduckten dreistöckigen Häuser sind das Erste, was Ruth Torrico sieht, wenn sie aus der Haustür tritt. Die 40-Jährige mit modischer Kurzhaarfrisur und lachsfarbener Brille ist Stadtteilsprecherin:

"”Wir rufen Versammlungen ein und fragen, was am dringendsten benötigt wird. Zum Beispiel müsste unsere Straße neu asphaltiert werden oder der Spielplatz renoviert oder es fehlt Beleuchtung und Kanalisation. Wenn es regnet, steht die ganze Ecke hier unter Wasser.""

Ruth Torrico zeigt auf eine 40 mal 20 Meter große betonierte Freifläche im Schatten der Autobahnbrücke. Keine Spielgeräte, kein Grün. Zwei Fußballtore aus Metall sind die einzige Einrichtung.

Ruth Torrico: "”Wir Stadtteilsprecher sind die Stimme der Bewohner der Villa sowohl gegenüber der Stadt- als auch gegenüber der Staatsregierung. Wir legen denen unsere Forderungen vor, und sie müssen sich damit auseinandersetzen.""

Der erste TV-Kanal für eine Villa
Auch einige bunte Häuser mit fünf aufeinander getürmten Stockwerken lehnen an beiden Seiten der Autobahnbrücke. Von ihren Dächern aus sind schon einige Male Bewohner des Viertels auf die Autobahn gestiegen und haben den Verkehr blockiert. Sie haben zum Beispiel dagegen protestiert, dass Krankenwagenfahrer sich weigern, in die Villa zu fahren. Der Spielplatz unter der Autobahnbrücke trägt den Namen des Mannes, mit dem Ruth Torrico verheiratet war, und mit dem zusammen sie 1997 aus Bolivien eingewandert ist: Adams Ledezma.

2009 gründete Adams Ledezma Mundo Villa TV, den ersten Kabelfernsehkanal in einer argentinischen Villa, der heute 1500 Haushalte erreicht. Weil im Haus der Ledezmas mehrfach eingebrochen worden war, schlief Adams alleine im Erdgeschoss, wo sich auch das Fernsehstudio befindet. Ruth und die Kinder im ersten Stock. Am 4. September 2010 ging sie spät schlafen:

"”Ich bin vorher noch mal runter gegangen und sah, dass mein Mann schon schlief. Später kam unser Nachbar und klopfte an meine Tür im oberen Stockwerk. Er sagte: ‚Frau Ruth... ihr Mann...‘ – ‚Der schläft‘, sagte ich. Und mit Tränen in den Augen schluchzte der Nachbar: ‚Nein, der schläft nicht.‘ Das Herz krampfte sich mir zusammen, und ich rannte runter.""

In seinem Fernsehprogramm hatte Adams Ledezma offen den Drogenhandel angeprangert und angekündigt, er würde die Besitzer der teuren Autos filmen, die in die Viertel fuhren, um Drogen zu kaufen. Der Konsum von Crack hat die Kriminalität in den Villas empor schnellen lassen, denn Süchtigen ist jedes Mittel recht, um an die nächste Dosis zu kommen.

Ruth Torrico: "”Das Bett war noch warm. Mein Mann war rausgegangen. Irgendjemand hatte ihn abgeholt und muss gewartet haben, bis er sich angezogen hatte. Ich war so verzweifelt, dass ich das Schloss kaputt machte, um rauszukommen. Ich merkte erst gar nicht, dass mein ältester Sohn mir folgte. ‚Dein Papa ist nicht da‘, sagte ich. Ich rannte genau hier lang, drehte mich um und da sah ich ihn liegen… da hinten, wie hingeworfen … ich kann es immer noch nicht begreifen.""

Ledezma wurde morgens um halb vier unter einem Vorwand geweckt und aus dem Haus gelockt. Angeblich sei bei einem Nachbarn die Stromleitung unterbrochen. Draußen stach der damals 19-jährige Christian Espínola zweimal mit einem Messer auf ihn ein. Espínola ist einer der Drogendealer, die Ledezma immer wieder aus dem Viertel vertrieben hatte. Er wurde 2012 zu 18 Jahren Haft verurteilt. Vielleicht hätte Adams Ledezma sogar gerettet werden können.

Er verblutete neben dem Spielplatz. Der Krankenwagen des städtischen Notdienstes traf erst vier Stunden später ein. Ruth Torrico zeigt auf das Schild, das ihr Mann vor vier Jahren an den Gittern vor dem Haus angebracht hat. "Mundo Villa" steht da mit blauen gotischen Buchstaben auf weißem Hintergrund, die Villa, das war seine Welt. Die kleine Frau schaut entschlossen. Sie will das Werk ihres Mannes fortsetzen:

"”Es geht darum, der Welt draußen zu zeigen, wie wir leben und wie wir wirklich sind. Wir sind ja nicht alle Verbrecher und Mörder, nur weil wir in der Villa leben. Es gibt hier anständige, ehrenwerte Menschen, die vorankommen wollen.""