Gefährliche Reise in die Vergangenheit
Als der Englischlehrer Jake Epping eine unsichtbare Treppe in die Vergangenheit entdeckt, fasst er einen Entschluss: Er will die US-Geschichte manipulieren - und den Mord an John F. Kennedy verhindern. Stephen Kings neuer Roman ist ein Meisterwerk intelligenter Unterhaltungsliteratur.
Irgendwo in diesem ungeschlachten Roman steht der Satz: "Ich bin Englischlehrer. Ich liebe Geschichten. (...) Fantastische Geschichten aus dem Stegreif sind meine Spezialität." Die Hauptfigur von "Der Anschlag", die das sagt, ist eine Art junges alter Ego des heute 64-jährigen Stephen King - auch der unterrichtete in der Schule, bevor ihm als Autor der Durchbruch gelang.
Jake Epping, 35, geschieden, muss gar keine fantastischen Geschichten erfinden, er erlebt sie am eigenen Leib: 2011 wird er unversehens zum Zeitbeduinen und reist zurück in das Jahr 1958. Ermöglicht hat ihm das ein im Sterben liegender Freund, der durch Zufall in seinem Vorratsraum eine unsichtbare Treppe entdeckt hat, über die der Trip in die Vergangenheit beginnen kann. So oft man sie hinuntersteigt, man landet stets in Lisbon Falls, Maine, am 9. September 1958 um exakt 11:58 Uhr. Und egal, wie lange man dort bleibt: Kehrt man in die Gegenwart zurück, sind dort lediglich zwei Minuten verstrichen.
Wie Alice durch einen Kaninchenbau ins Wunderland fällt, so gelingt Jake die Reise ins "Land des Einst". Als Zeitreisender ist er zunächst nur fasziniert, sich in der Welt lange vor seiner Geburt bewegen zu können. Rasch fasst er einen Entschluss: den Wunsch seines Freundes zu erfüllen und einen entscheidenden Moment der amerikanischen Geschichte zu manipulieren.
Im Original heißt Kings Roman "11/22/63" - das Datum des Attentats auf John F. Kennedy in Dallas. Können die tödlichen Schüsse auf den Präsidenten verhindert werden? Kann Jake Epping, ein Mensch des 21. Jahrhunderts, fünf Jahre in der Vergangenheit leben und einen lang zurückliegenden Mord aus dem Buch der Geschichte streichen, indem er Lee Harvey Oswald tötet? Wird dadurch nicht das ganze Raum-Zeit-Kontinuum beschädigt? Zweifel melden sich: "Wer bin ich, dass ich auf der Schwelle der Geschichte sitzen sollte?" Und war Lee Harvey Oswald überhaupt der Täter oder doch, wie Verschwörungstheoretiker nicht müde werden zu behaupten, ganz andere Kräfte?
Als Test beschließt Epping, ein Verbrechen des Jahres 1958 zu verhindern - ein Familienmassaker, von dem er durch einen seiner Schüler weiß. Es gelingt, wenn auch mit Mühen. Denn die Vergangenheit sträubt sich dagegen, verändert zu werden: "Wenn man die Vergangenheit ändern will, beißt sie zu. Sie ist unerbittlich." Wie unerbittlich, muss Jake Epping dann feststellen. Er nimmt eine falsche Identität an und fängt an, Lee Harvey Oswald zu beobachten, startet einen Lauschangriff auf ihn und seine Familie, lauert ihm auf: dem "dämonischen Gespenst", das er nur aus Geschichtsbüchern und Filmen kennt.
"Der Anschlag" ist ein Meisterwerk intelligenter Unterhaltungsliteratur, das auch an Komik (und gelegentlicher Kritik an unserer Zeit) nicht spart. King gelingt es auf famose Weise, die flotten 50er und verrauchten sensationellen 60er wiederauferstehen zu lassen. In ihnen bewegt sich der Mann, der die Zukunft kannte, immer sicherer, wobei ihm sein einzigartiges Vorauswissen nicht nur Vorteile bringt, sondern auch ziemliche Probleme bereitet - zum Beispiel wenn er 1960 "Honky Tonk Women" von den Rolling Stones pfeift, obwohl dieser Song noch gar nicht komponiert ist.
Dass King bei all dem den Schrecken nicht zu kurz kommen lässt, versteht sich fast von allein. Interessant, dass in diesem Werk einige Male der Name von Charles Dickens erwähnt wird - womöglich ist King mit seinem Imaginationsreichtum der Dickens unserer Tage. Man will dieses Buch einfach nicht aus der Hand legen. Doch das, steht darin, ist der "Fluch der lesenden Klasse". "Eine gute Geschichte konnte uns selbst zur unrechten Zeit verführen."
Besprochen von Knut Cordsen
Stephen King: Der Anschlag
Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wulf Bergner
Heyne, München 2012
1056 Seiten, 26,90 Euro
Jake Epping, 35, geschieden, muss gar keine fantastischen Geschichten erfinden, er erlebt sie am eigenen Leib: 2011 wird er unversehens zum Zeitbeduinen und reist zurück in das Jahr 1958. Ermöglicht hat ihm das ein im Sterben liegender Freund, der durch Zufall in seinem Vorratsraum eine unsichtbare Treppe entdeckt hat, über die der Trip in die Vergangenheit beginnen kann. So oft man sie hinuntersteigt, man landet stets in Lisbon Falls, Maine, am 9. September 1958 um exakt 11:58 Uhr. Und egal, wie lange man dort bleibt: Kehrt man in die Gegenwart zurück, sind dort lediglich zwei Minuten verstrichen.
Wie Alice durch einen Kaninchenbau ins Wunderland fällt, so gelingt Jake die Reise ins "Land des Einst". Als Zeitreisender ist er zunächst nur fasziniert, sich in der Welt lange vor seiner Geburt bewegen zu können. Rasch fasst er einen Entschluss: den Wunsch seines Freundes zu erfüllen und einen entscheidenden Moment der amerikanischen Geschichte zu manipulieren.
Im Original heißt Kings Roman "11/22/63" - das Datum des Attentats auf John F. Kennedy in Dallas. Können die tödlichen Schüsse auf den Präsidenten verhindert werden? Kann Jake Epping, ein Mensch des 21. Jahrhunderts, fünf Jahre in der Vergangenheit leben und einen lang zurückliegenden Mord aus dem Buch der Geschichte streichen, indem er Lee Harvey Oswald tötet? Wird dadurch nicht das ganze Raum-Zeit-Kontinuum beschädigt? Zweifel melden sich: "Wer bin ich, dass ich auf der Schwelle der Geschichte sitzen sollte?" Und war Lee Harvey Oswald überhaupt der Täter oder doch, wie Verschwörungstheoretiker nicht müde werden zu behaupten, ganz andere Kräfte?
Als Test beschließt Epping, ein Verbrechen des Jahres 1958 zu verhindern - ein Familienmassaker, von dem er durch einen seiner Schüler weiß. Es gelingt, wenn auch mit Mühen. Denn die Vergangenheit sträubt sich dagegen, verändert zu werden: "Wenn man die Vergangenheit ändern will, beißt sie zu. Sie ist unerbittlich." Wie unerbittlich, muss Jake Epping dann feststellen. Er nimmt eine falsche Identität an und fängt an, Lee Harvey Oswald zu beobachten, startet einen Lauschangriff auf ihn und seine Familie, lauert ihm auf: dem "dämonischen Gespenst", das er nur aus Geschichtsbüchern und Filmen kennt.
"Der Anschlag" ist ein Meisterwerk intelligenter Unterhaltungsliteratur, das auch an Komik (und gelegentlicher Kritik an unserer Zeit) nicht spart. King gelingt es auf famose Weise, die flotten 50er und verrauchten sensationellen 60er wiederauferstehen zu lassen. In ihnen bewegt sich der Mann, der die Zukunft kannte, immer sicherer, wobei ihm sein einzigartiges Vorauswissen nicht nur Vorteile bringt, sondern auch ziemliche Probleme bereitet - zum Beispiel wenn er 1960 "Honky Tonk Women" von den Rolling Stones pfeift, obwohl dieser Song noch gar nicht komponiert ist.
Dass King bei all dem den Schrecken nicht zu kurz kommen lässt, versteht sich fast von allein. Interessant, dass in diesem Werk einige Male der Name von Charles Dickens erwähnt wird - womöglich ist King mit seinem Imaginationsreichtum der Dickens unserer Tage. Man will dieses Buch einfach nicht aus der Hand legen. Doch das, steht darin, ist der "Fluch der lesenden Klasse". "Eine gute Geschichte konnte uns selbst zur unrechten Zeit verführen."
Besprochen von Knut Cordsen
Stephen King: Der Anschlag
Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wulf Bergner
Heyne, München 2012
1056 Seiten, 26,90 Euro