Sinnsuche zwischen Gut und Böse
10:36 Minuten
Mit der Coronakrise kamen die Verschwörungsmythen. Erschreckend viele Menschen sind bereit, hinter der Seuche das Wirken dunkler Mächte zu vermuten, teilweise auch mit genauem Namen und Adresse. Warum findet so etwas Glauben?
Im Online-Clip kommt erstmal dramatische Musik, dann ein ganz harmloses Bild: ein mittelalter Herr mit Anzug, Brille und grauen Haaren steht an einem Lesepult. "Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen."
Die Predigt hat ihren Weg gefunden auf diverse Kanäle, die sich alternativen Fakten verschrieben haben, deshalb die dramatische Musik zum Auftakt. Jakob Tscharntke ist Pastor der evangelischen Freikirche Riedlingen.
Prediger spricht von Teufelswerk
Sein Predigtthema Anfang Mai: Wie gehen wir als Christen mit dem "Corona-Wahnsinn" um? Tscharntke predigt: "Ich hätte derart satanisch-bösartige Eingriffe in das Leben christlicher Gemeinden und unseres ganzen Volkes vor dem Offenbarwerden des Antichristen nicht erwartet."
In diesem Stil geht es weiter, über eine Stunde lang: Eine saubere Trennung zwischen uns und "den Herrschenden". Diese hätten einen dritten Weltkrieg begonnen. "Ein dritter Weltkrieg, der die totale Unterjochung der Menschheit unter die totale Überwachung und Herrschaft einer Elite anstrebt, die wir nicht einmal kennen."
Das ist die klassische Sprache des Verschwörungsglaubens: die und wir, geheime Mächte, verborgene Interessen – im Netz findet man das in allen Farben und Schattierungen, von der Kanzel hört man es nicht so oft. Es gab Kritik an der Predigt, sogar aus frommen evangelikalen Kreisen. Jakob Tscharntke entgegnet darauf auf seiner Website: "Wer heute kein ‚Verschwörungstheoretiker‘ ist, hat in der Regel das eigene Denken eingestellt."
In der Krise blühen die Mythen
"Derzeit ist eine Blütezeit für Verschwörungsmythen aus dem einfachen Grund, weil eine Krise da ist", sagt der Religionswissenschaftler Michael Blume. "Wenn einschneidende Erlebnisse da sind, dann müssen die gedeutet werden. Wir müssen die irgendwie in unser Weltbild reinkriegen. Die meisten Menschen versuchen es mit Vernunft oder Gottvertrauen, Wissenschaft. Aber wer vorher schon an Verschwörungen geglaubt hat, der kippt jetzt natürlich ins andere Extrem, deswegen haben wir da derzeit ein massives Anwachsen von Verschwörungsmythen."
Natürlich gibt es Verschwörungsmythen nicht erst, seit Menschen und Regierungen weltweit darum ringen, angemessene Antworten auf die Bedrohung durch den Coronavirus zu finden. Aber Corona hat dieser Art des Nachdenkens über die Welt einen neuen Popularitätsschub gegeben.
Verschwörungsglaube spaltet Familien
Für manche ist das nur ein Spaß, nur Popkultur. Haha, Leute mit Aluhüten – gegen die Strahlung –, die an eine hohle Erde glauben und daran, dass hinterm Mond Hitlers Reichsflugscheibe parkt.
Aber die Sache kann auch ernst werden, sagt Giulia Silberberger. "Angehörige wenden sich an uns und sagen: Ich hab jemanden im Familienkreis oder im Freundeskreis, oder ich bin mit der Person verheiratet, die glaubt an Chemtrails, glaubt an Reichsbürgertum, ist in die rechte Szene abgerutscht – irgend so was in der Art."
Giulia Silberberger ist verantwortlich für eine der wenigen Anlaufstellen für Angehörige von Verschwörungsgläubigen. Unter dem Namen "Der goldene Aluhut" ist sie auf allen einschlägigen Social Media-Kanälen erreichbar. "Es geht nicht darum, dass wir den Leuten die Informationen bereitstellen, diese Verschwörungstheorien zu widerlegen, die haben die schon selbst. Sondern das Zwischenmenschliche ist zerstört. Zwischen dem Gläubigen und der Person, die sich an uns wendet."
Missionarischer Eifer
"Dann kriegt sie sowas Bestimmtes", berichtet eine Frau über ihre verschwörungsgläubige Schwester, "ein bisschen Drängendes, so ein bisschen fast Missionarisches, und dann geht bei mir der Rolladen runter, ich sag ihr dann auch: 'Stopp'. Und dann sagt sie: 'Jetzt hab ich wieder was gesagt, was du nicht hören willst, oder?'"
Ihren Namen möchte die Frau nicht im Radio hören, zu heikel ist der Konflikt, der die ganze Familie spaltet. "Solche kruden Fantasien, dass da irgendwelche bösartigen, unerreichbaren, allmächtig scheinenden Kräfte sind, die uns bedrohen", berichtet die Frau weiter über ihre Schwester. "Und sie und ein paar andere haben das durchschaut und retten jetzt uns. Sie ist eigentlich dabei, die Welt zu retten."
Die Sache mit den Verschwörungsmythen ist vertrackt. Denn sie lassen sich zwar kaum beweisen, aber auch kaum widerlegen. Schwieriger noch: Fehlende Beweise sind Teil jeder Verschwörungserzählung – zeigen sie doch den Überzeugten, wie gut die finsteren Mächte hinter den Kulissen gearbeitet haben.
Und, um die Sache noch ein bisschen komplizierter zu machen: Es gibt ja auch echte Verschwörungen, die aufgedeckt wurden und werden – in der Regel allerdings nicht von Verschwörungsgläubigen, sondern von Journalistinnen und Journalisten.
Massiver Antisemitismus
"An allem sind die Juden schuld!
Die Juden sind an allem schuld!
Wieso, warum sind sie dran schuld?
Kind, das verstehst du nicht, sie sind dran schuld."
Die Juden sind an allem schuld!
Wieso, warum sind sie dran schuld?
Kind, das verstehst du nicht, sie sind dran schuld."
Der jüdische Komponist Friedrich Hollaender schrieb dieses Revuelied 1931 als eine bittere Summe von über 1000 Jahren jüdischer Geschichte in Europa.
Egal, wie komplex ein Problem ist: Verschwörungsmythen benennen Schuldige. In der Vergangenheit waren das am Ende oft: die Juden.
"Verschwörungsglauben ist vieles, aber nicht kreativ", sagt Michael Blume. "Die Leute greifen immer wieder auf die gleichen Mythen zurück, die teilweise Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende alt sind."
Deswegen beschäftigt sich auch Blume als Beauftragter gegen Antisemitismus von Baden-Württemberg immer wieder mit Verschwörungsmythen. Zum Beispiel aktuell mit dem vom Adrenochrom. Das sei eine Droge, glaubt zum Beispiel ein ehemaliger Popstar, die aus gefolterten Kindern gewonnen wird.
"Das ist ein Mythos aus dem 15. Jahrhundert, wo Juden und Frauen vorgeworfen wurde, sie begehen den Hexensabbat, sie töten christliche Kinder und gewinnen aus denen Hexensalbe", erläutert Michael Blume.
Umgedrehte Religion
Aber nicht nur Inhalte und Sprache von Verschwörungsmythen stammen häufig aus dem religiösen Umfeld.
"Das Thema Verschwörungsglauben kann man sich tatsächlich vorstellen wie eine umgedrehte Religion", sagt Blume. "In einer Religion oder Weltanschauung lernen wir eigentlich, an gute Mächte zu glauben: Götter, Engel, Vernunft, Menschenrechte. Im Verschwörungsglauben glauben Leute an die Weltherrschaft böser Mächte."
Manchmal tun das sogar Kardinäle. Anfang Mai veröffentlichte eine Gruppe römisch-katholischer Kardinäle unter Federführung von Erzbischof Carlo Maria Viganò einen Aufruf zur Kirche in Corona-Zeiten, betitelt: "Veritas liberabit vos", "Die Wahrheit wird euch befreien."
Darin heißt es: "Lassen wir nicht zu, dass Jahrhunderte der christlichen Zivilisation unter dem Vorwand eines Virus ausgelöscht werden, um eine verabscheuungswürdige technokratische Tyrannei aufzurichten, in der Menschen, deren Namen und Gesichter man nicht kennt, über das Schicksal der Welt entscheiden können."
Klassischer Verschwörungsglauben. Auch in katholischen Kirchenkreisen reagierte man entsetzt. Aber ist nicht doch was dran, denken und argumentieren Religionen nicht von der Struktur her ganz ähnlich wie Verschwörungsmythen?
Spiritualität auf Abwegen
"Es ist eine Mischung aus einem psychologischen und spirituellen Problem, also dass sie, glaube ich, ganz intensiv auf der Suche nach Sinn ist für ihr Leben", erzählt die Angehörige von ihrer verschwörungsgläubigen Schwester.
Beide Schwestern sind spirituelle Menschen. Sie gehören zu einer Generation, in der man noch meist Kirchenmitglied war – aber beide haben eigene Wege gefunden. Die eine Schwester im Yoga, die andere eben: im Verschwörungsglauben.
"Wo sie die Vorstellung hat, dass sie auf einer anderen Ebene sich mit anderen Leuten, die auch spirituell weit entwickelt sind, trifft, und miteinander sorgen sie dafür, dass die Erde aus diesen bösen Mächten befreit wird und gerettet wird. Oder irgend so etwas in diese Richtung."
Verschwörungsglauben ist wie eine Religion? Dazu sagt der Religionspsychologe Michael Utsch: "Sie haben Recht, dass viele Religionen sich auf höhere Offenbarung berufen, und diese Offenbarung ist nicht weiter hinterfragbar."
Sektenhaftes Schwarz-weiß-Denken
Doch die klassischen Religionen bieten trotzdem Raum für die Werte der Aufklärung, das zu betonen ist Michael Utsch wichtig. Er arbeitet für die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.
"Es gibt erstaunliche Parallelitäten zwischen geschlossenen religiösen Gruppen und Verschwörungsdenken, auch bei sogenannten Sekten ist ja dieses krasse Schwarz-Weiß-Denken sehr verbreitet", sagt Utsch. "Dort gibt es eine absolute Antwort, die angeblich alle Fragen lösen soll. Andersglaubende werden abgewertet, rationale Kritik ist verboten."
Auch wenn Verschwörungstheorien nicht unbedingt eine transzendente Botschaft hätten: "Von der Gruppendynamik verläuft es ganz ähnlich wie in klassischen Sekten", sagt Utsch.
Staatliche Beratung oder kirchliche Seelsorge?
Zeigt die gegenwärtige Blüte von Verschwörungsmythen also auch ein Versagen der etablierten Religionsgemeinschaften? Ganz so weit würde Michael Blume nicht gehen: "Tatsächlich würde ich nicht unbedingt von Versagen sprechen, aber ich werde stark gefragt, warum es keine Beratungsangebote gibt."
Giulia Silberberger vom "goldenen Aluhut" sagt: "Das wissen wir als Gesellschaft auch noch nicht, wie wir damit umgehen sollen. Da brauchen wir durchaus mehr Seelsorge." Sie ergänzt: "Das würde mich sehr, sehr freuen, wenn wir endlich staatliche Beratungsstellen bekommen würden, denn es ist auch Aufgabe des Staates, sich darum zu kümmern, und nicht nur Aufgabe der Zivilgesellschaft."
Michael Blume stimmt prinzipiell zu, hat aber einen Einwand: "Seelsorge ist nicht Aufgabe des Staates, das ist tatsächlich eine Aufgabe, die würde ich bei Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sehr viel stärker sehen."
Denn die hätten die meiste Erfahrung mit dem Glauben an sich – und darauf komme es gerade in unsicheren Zeiten viel mehr an als auf die konkreten Inhalte.