Gefängnis statt Aufbruch
Drastisch schildern die Geschwister Dorothea und Michael Proksch ihre bewegende Geschichte einer missglückten Flucht aus der DDR. Die beiden Musikstudenten wagen 1983 die Flucht über Bulgarien, werden dort geschnappt und durchleben anschließend eine Leidenszeit in bulgarischen und DDR-Gefängnissen.
Dresden 1981. Die Geschwister Dorothea und Michael Proksch bewohnen mit einem Freund eine Abrisswohnung in der inneren Neustadt. Dort herrschen Verrottung, allmählicher Zerfall: Vom Erdgeschoss kriecht der Schimmel herauf, im obersten Stockwerk - hier wohnen die drei - regnet es rein. Selbst die Außentoilette ist bei Regen besser mit Schirm zu benutzen.
Dorothea Proksch, Studentin in einer Meisterklasse und zu dieser Zeit bereits eine hoffnungsvolle Geigenvirtuosin, wohnt dennoch gern hier. Ihren Mitbewohnern - Bruder Michael, der Klavier studiert und Gerd, ein Kunststudent - geht es nicht anders. Denn über ihrem heruntergekommenen Viertel liegt auch ein Hauch von Freiheit: In keinem anderen Viertel Dresdens gibt es zu DDR-Zeiten so viele winzige Buch-Antiquariate, hört man im Sommer mehr Instrumente aus den Fenstern, wird härter gesoffen und laufen mehr Leute mit wagemutigem Outfit herum als hier.
Was nun veranlasst die drei jungen Leute, zu denen sich bald noch ein vierter gesellt, Fluchtpläne zu schmieden? Hat Dorothea Proksch nicht Chancen, eine große Geigerin zu werden? Ist ihrem Bruder nicht die Aufnahme zum Musikstudium geglückt?
Es klingt richtig und beschreibt doch nur den äußeren Vorgang. Denn der Horizont verschwimmt durch zunehmenden politischen Drill und täglicher Gängelei: Michael belastet es, dass er mehr Unterrichtsstunden in ideologischer Gehirnwäsche absolvieren muss als Klavierunterricht bei seinem Professor.
Dorothea darf mit einem Streicherquartett nach Paris fahren, um auf einer Veranstaltung der kommunistischen Jugend zu spielen, wird aber von der Staatssicherheit aufgefordert, in Paris ihre Musiker-Kollegen zu bespitzeln. Und immer deutlicher signalisiert man ihr, dass die berufliche Entwicklung auch bei Musikern keineswegs nur vom Talent abhängt, sondern auch vom politischen Wohlverhalten.
Paris ist das große Schlüsselerlebnis für Dorothea Proksch. Fast entrückt schildert sie nach ihrer Rückkehr, wie frei die Menschen sich dort bewegen, wie offen sie sich äußern. Sie schwärmt von unzensierten künstlerischen Darbietungen, dem ansteckenden französischen Straßenleben. Paris wirkt elektrisierend auch auf ihre beiden im grauen Dresden zurück gebliebenen Mitbewohner.
Im Frühjahr 1983 beschließt das Geschwisterpaar zu fliehen, gemeinsam mit den beiden Freunden. So ein Entschluss liest sich leicht. Doch was bedeutet Abschied mit der Aussicht, er könnte für immer sein? Michael Proksch quält sich mit dieser existentiellen Entscheidung:
"Abgesehen vom schlechten Gewissen meinen Eltern gegenüber wurde mir auch die Endgültigkeit einer solchen Entscheidung bewusst. Nach einer geglückten Flucht würde es auf Lebenszeit unmöglich sein, nach Dresden zurückzukommen. Was bedeutete es wirklich, alles hinter sich zu lassen?"
Hinzu kommt die Angst, an der Grenze erschossen zu werden oder jahrelang im Gefängnis zu sitzen. Am Ende aber überwiegen die Gründe, die Flucht doch zu wagen und dabei sein Leben zu riskieren. Im August 1983 starten sie. Zunächst wollen sie über Ungarn flüchten, später über Bulgarien.
Insgesamt sechzehn Stunden lang schlagen sich die vier Dresdner durch eine ihnen völlig unbekannte Gebirgswelt, in dunkler Tarnkleidung und vorwiegend nachts. Als der Morgen dämmert - sie klettern gerade einen steilen Hang hinauf - durchbrechen plötzlich Schüsse die Stille und vor ihnen steht ein bulgarischer Grenzsoldat mit einer MP im Anschlag.
"Wir liegen wehrlos auf dem Boden - bäuchlings. Die Soldaten kommen, halten uns ihre Gewehrläufe in den Nacken und mich ergreift das Gefühl, mein Leben sei jetzt zu Ende: Die Todesangst, die ich empfand, als ich erkannte, dass ein Gewehr auf mich gerichtet war und nur abgedrückt werden musste, bleibt wohl in meinem Gedächtnis unauslöschlich haften. Das kalte Eisen des Gewehrlaufs berührt meinen Nacken und meine Hände werden auf dem Rücken mit Lederbändern gefesselt."
In eine bulgarische Haftanstalt überführt, erfasst die junge Geigerin Panik:
"Was ich in Sofia erlebe, übersteigt bei Weitem alles, was ich mir über das Leben hinter Gittern ausgemalt habe. Ich muss mich splitternackt ausziehen, man reicht mir einen Stapel grüner Baumwollfetzen. Mich ekelt beim Berühren der Sachen, sie fühlen sich so schmutzig an."
Haft bei der bulgarischen Staatssicherheit, das ist die Hölle. Wochen später finden sie sich in einem DDR-Gefängnis wieder - in Hohenschönhausen zunächst. Von dort geht der Häftlingstransport nach Dresden, wo die zermürbten Gefangenen schließlich zu 2 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt werden. Zuchthaus Brandenburg und Frauenzuchthaus Hoheneck heißen die quälenden Orte des Wartens auf den Häftlingsfreikauf durch die Bundesregierung.
Nach 16 Monaten ist es soweit. Das Geschwisterpaar entscheidet sich für München - fest entschlossen, alle Chancen der neuen Freiheit zu nutzen. Beide werden erfolgreiche Musiker.
Die Fluchtgeschichte von Dorothea und Michael Proksch ist erschütternd. Und die Schilderungen des quälenden Alltags in bulgarischen und DDR-Haftanstalten sind so präzise, dass viele politische Gefangene, die ebenfalls in die Mühlen von Justiz, Polizei und Staatssicherheit gerieten, sich darin wiederfinden. Jene aber, die noch immer keine Vorstellung von einer Diktatur haben, werden wissender sein nach der Lektüre des Buches.
Dorothea Ebert/Michael Proksch: Und plötzlich waren wir Verbrecher. Geschichte einer Republikflucht
Herausgegeben von Ina-Maria Martens
Mit s/w-Bildteil. dtv premium, München 2010
320 Seiten
Dorothea Proksch, Studentin in einer Meisterklasse und zu dieser Zeit bereits eine hoffnungsvolle Geigenvirtuosin, wohnt dennoch gern hier. Ihren Mitbewohnern - Bruder Michael, der Klavier studiert und Gerd, ein Kunststudent - geht es nicht anders. Denn über ihrem heruntergekommenen Viertel liegt auch ein Hauch von Freiheit: In keinem anderen Viertel Dresdens gibt es zu DDR-Zeiten so viele winzige Buch-Antiquariate, hört man im Sommer mehr Instrumente aus den Fenstern, wird härter gesoffen und laufen mehr Leute mit wagemutigem Outfit herum als hier.
Was nun veranlasst die drei jungen Leute, zu denen sich bald noch ein vierter gesellt, Fluchtpläne zu schmieden? Hat Dorothea Proksch nicht Chancen, eine große Geigerin zu werden? Ist ihrem Bruder nicht die Aufnahme zum Musikstudium geglückt?
Es klingt richtig und beschreibt doch nur den äußeren Vorgang. Denn der Horizont verschwimmt durch zunehmenden politischen Drill und täglicher Gängelei: Michael belastet es, dass er mehr Unterrichtsstunden in ideologischer Gehirnwäsche absolvieren muss als Klavierunterricht bei seinem Professor.
Dorothea darf mit einem Streicherquartett nach Paris fahren, um auf einer Veranstaltung der kommunistischen Jugend zu spielen, wird aber von der Staatssicherheit aufgefordert, in Paris ihre Musiker-Kollegen zu bespitzeln. Und immer deutlicher signalisiert man ihr, dass die berufliche Entwicklung auch bei Musikern keineswegs nur vom Talent abhängt, sondern auch vom politischen Wohlverhalten.
Paris ist das große Schlüsselerlebnis für Dorothea Proksch. Fast entrückt schildert sie nach ihrer Rückkehr, wie frei die Menschen sich dort bewegen, wie offen sie sich äußern. Sie schwärmt von unzensierten künstlerischen Darbietungen, dem ansteckenden französischen Straßenleben. Paris wirkt elektrisierend auch auf ihre beiden im grauen Dresden zurück gebliebenen Mitbewohner.
Im Frühjahr 1983 beschließt das Geschwisterpaar zu fliehen, gemeinsam mit den beiden Freunden. So ein Entschluss liest sich leicht. Doch was bedeutet Abschied mit der Aussicht, er könnte für immer sein? Michael Proksch quält sich mit dieser existentiellen Entscheidung:
"Abgesehen vom schlechten Gewissen meinen Eltern gegenüber wurde mir auch die Endgültigkeit einer solchen Entscheidung bewusst. Nach einer geglückten Flucht würde es auf Lebenszeit unmöglich sein, nach Dresden zurückzukommen. Was bedeutete es wirklich, alles hinter sich zu lassen?"
Hinzu kommt die Angst, an der Grenze erschossen zu werden oder jahrelang im Gefängnis zu sitzen. Am Ende aber überwiegen die Gründe, die Flucht doch zu wagen und dabei sein Leben zu riskieren. Im August 1983 starten sie. Zunächst wollen sie über Ungarn flüchten, später über Bulgarien.
Insgesamt sechzehn Stunden lang schlagen sich die vier Dresdner durch eine ihnen völlig unbekannte Gebirgswelt, in dunkler Tarnkleidung und vorwiegend nachts. Als der Morgen dämmert - sie klettern gerade einen steilen Hang hinauf - durchbrechen plötzlich Schüsse die Stille und vor ihnen steht ein bulgarischer Grenzsoldat mit einer MP im Anschlag.
"Wir liegen wehrlos auf dem Boden - bäuchlings. Die Soldaten kommen, halten uns ihre Gewehrläufe in den Nacken und mich ergreift das Gefühl, mein Leben sei jetzt zu Ende: Die Todesangst, die ich empfand, als ich erkannte, dass ein Gewehr auf mich gerichtet war und nur abgedrückt werden musste, bleibt wohl in meinem Gedächtnis unauslöschlich haften. Das kalte Eisen des Gewehrlaufs berührt meinen Nacken und meine Hände werden auf dem Rücken mit Lederbändern gefesselt."
In eine bulgarische Haftanstalt überführt, erfasst die junge Geigerin Panik:
"Was ich in Sofia erlebe, übersteigt bei Weitem alles, was ich mir über das Leben hinter Gittern ausgemalt habe. Ich muss mich splitternackt ausziehen, man reicht mir einen Stapel grüner Baumwollfetzen. Mich ekelt beim Berühren der Sachen, sie fühlen sich so schmutzig an."
Haft bei der bulgarischen Staatssicherheit, das ist die Hölle. Wochen später finden sie sich in einem DDR-Gefängnis wieder - in Hohenschönhausen zunächst. Von dort geht der Häftlingstransport nach Dresden, wo die zermürbten Gefangenen schließlich zu 2 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt werden. Zuchthaus Brandenburg und Frauenzuchthaus Hoheneck heißen die quälenden Orte des Wartens auf den Häftlingsfreikauf durch die Bundesregierung.
Nach 16 Monaten ist es soweit. Das Geschwisterpaar entscheidet sich für München - fest entschlossen, alle Chancen der neuen Freiheit zu nutzen. Beide werden erfolgreiche Musiker.
Die Fluchtgeschichte von Dorothea und Michael Proksch ist erschütternd. Und die Schilderungen des quälenden Alltags in bulgarischen und DDR-Haftanstalten sind so präzise, dass viele politische Gefangene, die ebenfalls in die Mühlen von Justiz, Polizei und Staatssicherheit gerieten, sich darin wiederfinden. Jene aber, die noch immer keine Vorstellung von einer Diktatur haben, werden wissender sein nach der Lektüre des Buches.
Dorothea Ebert/Michael Proksch: Und plötzlich waren wir Verbrecher. Geschichte einer Republikflucht
Herausgegeben von Ina-Maria Martens
Mit s/w-Bildteil. dtv premium, München 2010
320 Seiten