Oleg Senzow: "Haft: Notizen und Geschichten"

Je näher dem Tod, umso reiner das Herz

05:33 Minuten
Cover von Oleg Senzow: "Haft: Notizen und Geschichten"
© Voland & Quist / Deutschlandradio

Oleg Senzow

Übersetzt von Claudia Dathe

Haft: Notizen und GeschichtenVoland & Quist, Leipzig 2021

431 Seiten

26,00 Euro

Von Olga Hochweis |
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Während der Fußball-WM in Russland befand sich der prominenteste Häftling des Landes, der ukrainische Regisseur Oleg Senzow, monatelang im Hungerstreik. Sein Tagebuch aus dieser Zeit besticht durch Wahrhaftigkeit und große geistige Freiheit.
Kurz vor Beginn der Fussball-Weltmeisterschaft in Russland begann der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow im Mai 2018 einen Hungerstreik, um die Freilassung ukrainischer politischer Gefangener zu erzwingen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits vier Jahre lang in Labytnangi am Polarkreis inhaftiert – verurteilt zu 20 Jahren Lagerhaft wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten.
Erstmals in seinem Leben begann er, Tagebuch zu schreiben und bewusst auf Beschreibungen über das Wach- und Sicherheitssystem zu verzichten, um seine Aufzeichnungen nicht verstecken zu müssen. Nach langen 145 Tagen brach Oleg Senzow seinen Hungerstreik ab. Die Entscheidung markiert die letzten Zeilen des Tagebuchs:

„Ich fühle mich sehr mies, im Mund der widerwärtige Geschmack des Scheiterns. So unehrenhaft endet die Chronik eines Hungerstreiks.“

145 Tage unerbittlich festgehalten

Es sind bezeichnende Worte für den Grundton des Tagebuchs und die Haltung Senzows während dieser viereinhalb Monate. Ausnahmslos jeder einzelne dieser 145 Tage wird unerbittlich festgehalten – egal wie sehr Ohnmacht, Übelkeit, Kälte oder Schmerzen auch peinigen.
Senzow protokolliert tagtäglich seinen körperlichen Zustand - unpathetisch und nicht selten selbstanklagend: „Meine schlimmste Sünde sind die Medikamente, seit vier Wochen kriege ich ununterbrochen irgendwelche Infusionen.“ Hinzu kommen Wetter-Beschreibungen, die Senzow als Stimmungsbarometer seines Befindens interpretiert als auch Begegnungen mit Ärzten, die ihn permanent von seinem Hungerstreik abbringen möchten.

Rockmusik, Träume, Bücher

Jenseits von solchen „Realien“ ist dieses Tagebuch vor allem eine intellektuelle Selbstvergewisserung und eine Kommunikation mit der Welt  – so sehr sie auch durch die Umstände eingeschränkt sein mag. Senzow schreibt über die Rockmusik von Viktor Zoi, die ihn seit seinem 13. Lebensjahr geprägt hat. Er hält seine Träume fest, die eindringlicher und klarer im Gedächtnis bleiben als jemals zuvor in der Freiheit.
Senzow beschreibt die Inhalte und Besonderheiten der Bücher, die er im Gefängnis liest - von Haruki Murakami über Nabokov bis hin zu John Steinbeck. Er schaut mit seinen Mithäftlingen einige der Fußballspiele und kommentiert sie ausführlich. Und er schreibt selbst Geschichten. Unter dem Titel „Viereinhalb Schritte“ sind dem Tagebuch acht Erzählungen beigefügt, die nüchtern, fast protokollhaft am Beispiel einzelner Häftlinge die Strukturen und Hierarchien des russischen Gefängnisalltags abbilden.

Mehr tot als lebendig

Eine auffällige Rolle spielen in diesen Geschichten die Mütter, wie übrigens auch im Tagebuch Senzows eigene Mutter, die sich während seiner Haft um seine Kinder kümmert. Über mehrere Seiten hinweg erinnert sich Senzow selbstmotivierend an seinen Einsatz auf dem Maidan im Februar 2013. Daraus entwickelt er Handlungsmaximen, die ihn buchstäblich von Woche zu Woche tragen.  
Noch am 120. Tag, knapp einen Monat vor Beendigung seines Hungerstreiks und mehr tot als lebendig, schreibt Senzow: „Heute habe ich für mich vier Hauptregeln formuliert, nach denen ich lebe: Mach das, was du willst, hab keine Angst, gib nie auf, verlass dich nur auf dich selbst.“
Die geistige Freiheit, die aus diesen Worten spricht, macht dieses Tagebuch einzigartig und bewegend. Trotz der omnipräsenten Dramatik liest es sich nicht nur deprimierend, sondern inspiriert durch Entschlossenheit und Kraft – schon deshalb, weil man von Anbeginn um das „Happy End“ weiß. „Je näher die Leute dem Tod sind, um so reiner ist ihr Herz.“ Auch das macht diesen Text so lesenswert.

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