Gefängnispsychologin im Männervollzug

Unter Straftätern

29:58 Minuten
Ein junge Frau mit langen, glatten blonden Haaren und weinrotem Blazer steht vor einem Gefängnisgebäude.
Ohne glaubhafte Distanzierung von der Straftat keine Hafterleichterungen: Gefängnispsychologin Amelie Festag. © Amelie Festag
Von Natalja Joselewitsch |
Audio herunterladen
Gewaltdelikte sind das Fachgebiet der Psychologin Amelie Festag. In der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit entscheidet sie über Hafterleichterungen für Schwerkriminelle. Festag würde sie gerne öfter befürworten. Aber dann zeigt sich: Der Schein trügt.
Amelie Festag durchquert den engen Eingangsbereich der Untersuchungshaftanstalt Moabit. Die Psychologin, blonde glatte Haare, hellblaue Augen, führt durch einen langen, gelb gestrichenen Flur mit massiven Metalltüren. "Wir sind im E-Flügel und laufen jetzt rein. Den Weg, den auch Gefangene das erste Mal gehen, sollten sie ins Haus eins kommen."

"Ich grüße immer zuerst"

Am Ende des Flurs eine hohe kuppelförmige Halle. Das Zentrum der JVA. Strahlenförmig gehen lange Gänge mit Hafträumen von der Halle ab. Zwischen den Gängen führen Metalltreppen bis in die vierte Etage. Inhaftierte mit blauer Arbeitskleidung und Putzeimern sind unterwegs, Beamte in Uniform führen eine Gruppe Männer die Treppen hinunter.
"In den Gängen sind Hafträume", erklärt Festag. "Dann gibt es noch das Gruppen- und Beratungszentrum, das ist hier oben. Ein Stockwerk tiefer ist der Bereich für die Anwälte. Wenn man keine Maske aufhat, ist der stärkste Eindruck hier meistens, dass es so nach Zahnarzt riecht, denn hier direkt vor uns ist die sehr gut frequentierte Zahnarztpraxis."
Amelie Festag grüßt einen Inhaftierten, der auf den Zahnarzt der JVA wartet. Überhaupt grüßt sie diesen und jenen, sie macht keine Unterschiede zwischen Mitarbeitern und Insassen. "Ich grüße auf jeden Fall immer alle", sagt Amelie Festag, "was für mich den Nebeneffekt hat, dass ich die Erste bin, die in die Interaktion geht. Denn so lange man stumm durch die Gegend läuft, wird häufiger gepfiffen oder geschnalzt."
Denn Frauen bekommen die Inhaftierten hier im Männervollzug nur selten zu sehen. Erst seit Anfang der 90er-Jahre ist es überhaupt üblich, dass auch Frauen im Vollzug arbeiten. Bis heute sind sie immer noch in der Minderheit. Nur etwa 20 Prozent der Angestellten hier in Moabit sind weiblich. Viele von ihnen arbeiten als Sozialarbeiterinnen oder wie Amelie Festag im psychologischen Dienst.
Im Flur der Einweisungsabteilung (EWA) holt Festag ihr Funkgerät aus einem gesicherten Schrank und schaltet es ein.
"Das ist das Sicherheitsgerät", erklärt sie, "gleichzeitig ist das aber auch ein Telefon. Hier kommen die Alarme an. Das ist für mich nicht unbedingt relevant, bewegen darf ich mich im Alarmfall sowieso nicht. Aber es gab einen Tag, an dem ich vergessen habe, mir diese Funke zu holen. Dann hatte ich ein Gespräch mit jemanden, der ein ganz ekelhaftes Delikt hatte und der sich total aufgeregt hat. Und der stand dann so aufgestützt auf diesem Tisch drauf und schrie. Da dachte ich: Okay, hätte ich jetzt die Funke, dann würde ich auslösen."

Alle wollen in den offenen Vollzug

Die Männer, mit denen die 32-Jährige zu tun hat, sind bereits verurteilte Straftäter. Sie haben die U-Haft hinter sich und kommen jetzt in den normalen Strafvollzug. Aber Strafvollzug ist nicht gleich Strafvollzug. Wie es genau weitergeht mit den einzelnen Insassen, darüber entscheiden Amelie Festag und die sogenannte EWA, die Einweisungsabteilung.
Sie planen, welche Behandlungsmaßnahmen die Insassen benötigen, um nicht wieder straffällig zu werden. Und sie treffen schwierige Entscheidungen: Kann ein Inhaftierter vorzeitig entlassen werden? Und wird er im offenen oder geschlossenen Vollzug untergebracht?
Das macht einen großen Unterschied, erklärt die Psychologin im Büro. "Offener Vollzug ist eine Vollzugsform, in der es sehr viel mehr Freiheitsrechte gibt. Bis dahin, dass sie zu Hause wohnen und schlafen können und draußen arbeiten können." Für den offenen Vollzug müsse geprüft werden, ob Fluchtgefahr besteht oder eine Missbrauchsgefahr und ob die persönliche Eignung besteht. "Das machen wir, indem wir herausfinden, warum das Delikt überhaupt passiert ist. Warum hat dieser Mann zu diesem Zeitpunkt das gemacht, was er gemacht hat, und nicht etwas anderes?"
Blick in die Gänge der JVA Moabit
Alle wollen in den offenen Vollzug, doch nicht jeder ist dafür geeignet.© JVA Moabit Mandy Westphal
Um das herauszufinden, haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EWA wenig Zeit. Jeden Tag kommen rund zehn neue Insassen in die JVA und die verurteilten Männer müssen schnell verlegt werden. Festag hat ein straffes Tagesprogramm, muss genau und konzentriert arbeiten und darf nichts übersehen. Seit vier Jahren ist sie in Moabit.
Angefangen hat alles mit einem Praktikum während des Studiums. "Diese Extremzustände haben mich sehr interessiert!", sagt sie. "Das sind solche Ausnahmesituationen, das fand ich total faszinierend. Natürlich ist es auch einfach spannend, sich mit Kriminologie zu befassen."

Mit 27 Jahren 700.000 Euro erbeutet

Ihr Büro liegt im Erdgeschoss der JVA. Vom grauen Behördenschrank hangelt sich eine gut gepflegte Kletterpflanze herunter, in der Ecke neben dem Schreibtisch hängen Postkarten mit Kunstdrucken. Das vergitterte Fenster und die Tür sind geöffnet. So arbeitet sie am liebsten, sagt Festag, lässt sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und fängt an, in einer dicken Akte zu blättern.
"Heute möchte ich beginnen mit einem Inhaftierten, der wegen Betrugs hier ist. Der ist das erste Mal in Haft, Jahrgang 93, er hat eine lange Strafe bekommen, weil eine sehr, sehr hohe Summe erbeutet wurde."
Der Häftling Philipp Lewinski hat rund 700.000 Euro gestohlen. Sein wirklicher Name ist anders. "Es sind vor allem alte Leute gewesen, die angerufen wurden und denen erzählt wurde, ihr Vermögen sei in Gefahr, entweder durch Einbruch bedroht oder durch korrupte Mitarbeiter bei der Bank. Die sollten dann alles, was sie hatten, aus dem Tresor nehmen. Unser Inhaftierter ist dann teilweise auch in die Wohnung reingegangen, um das einzupacken."
Eine Etage weiter oben sitzt Philipp Lewinski in seinem Haftraum. Auffällige Tattoos auf Armen und Hals. "Fuck Fake Friends" steht da zum Beispiel oder "Loyalität". Lewinski ist nervös, er wartet auf das Gespräch mit Amelie Festag. In den nächsten Tagen entscheidet sich, wie er die nächsten sechs Jahre seiner Haftzeit verbringen wird.
Er steckt sich eine Zigarette an, versucht in Worte zu fassen, was vor dem Gespräch mit der Psychologin in ihm vorgeht. "Beschissen ist das, es ist schon dolle", sagt er. "Die Tür ist zu, man hat viel Zeit zum Nachdenken, man hat keine Ablenkung und dann geht einem das durch den Kopf, dann holt einen die Vergangenheit da wieder ein. Es ist ein großes Gefühlschaos, das man durchmacht."
Durch das hohe, vergitterte Fenster fällt ein wenig Licht in den acht Quadratmeter großen Raum. Aus dem kleinen Fernseher vor dem Bett kommt Musik. Lewinski zögert kurz, drückt seine Zigarette aus.
"Favorit wäre natürlich der offene Vollzug, um halt einfach wieder bei meiner Familie sein zu können, wieder ins normale Leben reinzukommen. Ich habe einen Arbeitsvertrag, also ich kann raus und sofort wieder in meinem gelernten Beruf arbeiten. Was für mich halt das Schlimmste wäre, ist das Gefängnis in Tegel." Denn man höre viele schlimme Sachen aus Tegel.

Der Reiz des schnellen Geldes

Es klopft an der Tür, das Mittagessen kommt. Reis mit Hähnchenbrust und Soße. Essen will Lewinski aber erst später. Zu groß ist die Nervosität vor dem Gespräch. Er wirkt offen und sympathisch. Immer wieder betont er, kein schlechter Mensch zu sein, sondern nur an die falschen Leute geraten zu sein.
Lewinski zeigt seine Fotos, die an einer Pinnwand über dem schmalen Bett hängen. Er ist ein Hundefreund. "Das ist meine Prinzessin gewesen", zeigt er auf eines der Bilder, "und das ist meine Frau mit ihrem neuen Hund", erklärt Lewinskiy. "Ich hatte ja auch noch Bilder von meiner Familie, aber die wurden mir rausgenommen bei einer Haftraumkontrolle, weil ich zu viele Fotos hatte."
Blick über den Natozaun an der JVA Moabit
So mancher, der hier inhaftiert ist, ist dem Reiz des schnellen Geldes erlegen.© JVA Moabit Mandy Westphal
Eine Stunde später im Flur der Einweisungsabteilung. Amelie Festag empfängt Philipp Lewinski für das Einweisungsgespräch. Die beiden begegnen sich zum zweiten Mal und begrüßen sich freundlich.
Festag schließt die Tür hinter sich, setzt sich mit überschlagenen Beinen auf ihren Schreibtischstuhl. Vor ihr sitzt Lewinski an einem kleinen Tisch. Er hat sich umgezogen. Ein schwarzer Kapuzenpullover verdeckt jetzt seine Tattoos. In den Händen hat er einen kleinen Notizblock.
Amelie Festag beginnt: "Ich hatte ja beim letzten Gespräch schon gesagt, dass wir herausfinden wollen, warum Ihnen das passiert ist, warum Sie entschieden haben, dabei sein zu wollen. Erzählen Sie mir doch noch einmal, wie Sie dazu gekommen sind?"
Lewinski versucht sich zu erklären. Es sei ihm alles gar nicht so klar gewesen. "Die ersten Male wusste ich gar nicht, was man da macht. Dann hat man mir gesagt, die Alten würden ihr Geld rausgeben, aber längst nicht alles. Die hätten noch genug auf dem Konto. Der Reiz nach diesem schnellen Geld war halt einfach zu groß und dadurch war meine Denkweise auch so extrem eingeschränkt."
"Warum war der Reiz so groß an schnellem Geld?", hakt Amelie Festag nach. Lewinski windet sich etwas. "Weil ich sowieso Geldprobleme hatte und auch keine Arbeit mehr. Man muss ja trotzdem seine Kosten zahlen und auch so generell lebt man ja nicht von Luft und Liebe."
Amelie Festag macht sich Notizen mit ihrem roten Füller. Sie wirkt konzentriert und zugewandt, zwischendurch verschränkt sie ihre Hände, spielt mit einem kleinen Ring an ihrem Finger. Sie will wissen, wie er den Prozess erlebt hat.
"Das war tierisch aufregend, man weiß ja nicht, was passieren wird. Aber im Laufe des Verfahrens wurde ich das erste Mal damit konfrontiert, was wirklich mit den Geschädigten passiert ist. Da war ich entsetzt und geschockt, dass ich ein Teil davon war, und es ist teilweise so, dass ich noch davon träume, wieviel Leid man denen zugefügt hat."
"Was träumen Sie denn da?", will Amelie Festag wissen. "Wie die da saßen und geweint haben, wie die zusammengebrochen sind. Dann auch die Vorstellung: Können die danach überhaupt noch weiterleben?"

Psychologin und Sozialarbeiter tauschen sich aus

Nach dem Gespräch macht sich Festag auf den Weg, um Lewinskis Sozialarbeiter auf dem Hof zu treffen. Er betreut den 27-Jährigen, weiß, wie der Mann sich im Alltag verhält. Wichtige Eindrücke. Vor jeder Entscheidung spricht sie deshalb nicht nur mit den Sozialarbeitern, sondern auch mit betreuenden Psychologen und Werkstattleitern, sofern die Männer im Gefängnis arbeiten.
Festag wirkt nachdenklich, spricht über die ersten Eindrücke nach dem Gespräch. "Ich finde ihn sehr jung. Der lässt sich einspannen für das Business von anderen Leuten. Das sind Rollenvorbilder, die für ihn stark erscheinen. Ich glaube, er eifert dem nach. Er will stark sein, ein erwachsener Mann sein, und dabei werden moralische Vorstellungen, die in seinem Alter durchaus reif sein sollten, völlig über Bord geworfen."
Im Vordergrund ein Beet mit Tulpen, im Hintergrund das Gefängnisgebäude
"Die Menschen, die in Haft sind, haben es verdient, gut betreut zu werden", sagt Gefängnissozialarbeiter Lars.© JVA Moabit Mandy Westphal
Die Sonne scheint. Festag geht an gepflegten Beeten vorbei, daneben ein eingezäunter Bereich mit einigen Sportgeräten. Zwei Männer stehen an ihren Fenstern, unterhalten sich quer über den Hof auf portugiesisch. Festag öffnet und schließt mehrere Metalltore.
Sie erzählt, dass die Entscheidungen für sie keineswegs einfach sind. "Das ist total schwer. Ich kenne das Urteil, ich kenne seine Geschichte und ich hab ihn da vor mit sitzen und ich muss ja beides zusammenbringen. Ich gönne jedem eine Hafterleichterung und jegliche Lockerung. Aber es kann dennoch sein, dass ich ihn jetzt frustrieren muss."
Bei einer Bank trifft sie Sozialarbeiter Lars. Er trägt einen kurzen dunkelblonden Irokesenschnitt und Piercings an beiden Ohren. Die beiden setzen sich und unterhalten sich über den Fall Lewinski.
"Der kann sehr charmant sein", findet der Sozialarbeiter. "Und er versucht einen auch gerne um den Finger zu wickeln, um zu zeigen, dass er ein guter Inhaftierter ist. Ich glaube, der weiß genau, wie die Regeln hier im Knast funktionieren, und er reizt die Regeln aus, um zu schauen, wie weit er gehen kann."
Festag und Lars kennen sich bereits aus der Haftanstalt Tegel, sie verstehen sich gut. Lars ist ein wichtiger Ansprechpartner für die 30 Männer auf seiner Station. "Die Menschen, die in Haft sind, haben es verdient, gut betreut zu werden. Und ich bin jemand, der sich gerne kümmert, der gerne berät. Ich hatte schon immer ein Hang zu Menschen mit ziemlich krummen Lebensläufen."

Betrugsdelikte und Organisierte Kriminalität

Plötzlich ertönt ein lautes Alarmsignal. Eine Durchsage folgt. Alarmstufe 1. Jetzt darf sich niemand mehr in der Anstalt bewegen. Man hört jemanden schreien. Sind das Angstschreie? "Es gibt Tage, da gibt es drei, vier Mal Alarm", erklärt Festag. "Und dann ist wieder eine Woche nichts."
"Meistens geht es sehr schnell wieder vorbei", hofft Lars. Aber dieses Mal sitzen Festag und Sozialarbeiter Lars rund eineinhalb Stunden auf der Bank im Hof. Was genau passiert ist, wissen sie nicht. Ab und zu kommen Männer in blauen JVA Uniformen vorbei. Draußen fährt ein Krankenwagen vor. Später erfährt Festag: Ein Insasse hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Er wurde noch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht. Das passiert nicht oft, ist aber kein Einzelfall in einer Untersuchungshaftanstalt.
Der nächste Arbeitstag. Amelie Festag sitzt in ihrem Büro, den Telefonhörer am Ohr. Das Fenster zum Hof steht offen, draußen ist gerade Freistunde für einige Insassen.
Die Entscheidung über Philipp Lewinski wird in den nächsten Tagen in einer Konferenz getroffen. Heute hat sie einen anderen Fall auf dem Tisch, dieses Mal aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität. Es geht um einen Auftragsmord:
"Das Gericht ist davon ausgegangen, dass der Beschuldigte an der Verabredung beteiligt war, auf jemanden schießen zu lassen. Das Gericht ist deshalb davon ausgegangen, weil er der Besitzer des Lokals war, in dem das stattgefunden hat. Und die Indizien belegen, dass er vorher davon wusste."
Der Mann wurde wegen versuchten Totschlags zu mehr als neun Jahren mit Bewährung verurteilt. Auf einem Whiteboard gegenüber von ihrem Schreibtisch hat Festag den Grundriss des Cafés aufgezeichnet, sie will sich so besser orientieren.
"Das ist der große Schankraum, hier die Tür zur Straße. Der Geschädigte kam hier rein und ist begrüßt worden von dem Mann, den wir einweisen. Und dann sind zwei mit AK 47 bewaffnete Männer in dieses Kaffee gekommen, hintereinander. Erst der eine, der hat versucht zu schießen, hat aber eine Ladehemmung gehabt. Daraufhin ist der zweite quasi als Backup gekommen, der von der Mitte des Lokals aus stehend wirklich einmal so rumgeballert hat."
Wie durch ein Wunder ist niemand verletzt worden. Jussuf Ademie, der Name ist ausgedacht, hat das Opfer sogar freundlich in Empfang genommen, ihm also Sicherheit vorgegaukelt. Festag hat sich schon vier Mal mit ihm getroffen. Jetzt steht die finale Entscheidung an. Richtig zufrieden ist sie mit den Gesprächen aber nicht.
"Er hat das gewusst, er ist in diesem Milieu drin. Er spricht nicht darüber. Er hat vor Gericht nicht darüber gesprochen und er hat hier mit mir nicht darüber gesprochen. Also er hat insgesamt sehr, sehr viel gesprochen und es ist wirklich nett, mit ihm zu sprechen. Das ist ja das Schizophrene an diesem Job. Aber er hat nichts gesagt, was helfen könnte, dass ich die Tat besser verstehe."

Persönliche Gefühle sind tabu

Festag ist ruhig und gelassen, als sie das erzählt. Gibt es Straftaten, die sie aus der Ruhe bringen? Sie zögert kurz, denkt nach. "Was mich wirklich wütend macht, das sind so Fälle von Menschenhandel, die ich hatte. Wo Vater und Sohn gemeinsam Mädchen angeworben haben aus dem Heimatdorf und dann nach Deutschland verschleppt haben und sie hier auf den Strich geschickt haben. Auch ‚eingeritten‘, wie das im Jargon genannt wird. Und bei so frauenfeindlichen Einstellungen bin ich einfach persönlich betroffen, das finde ich schwer, damit umzugehen. Da werde ich wütend."
Eine junge Frau mit langen blonden Haaren und weinrotem Blazer geht an einer Gefängnismauer entlang auf ein großes offenes Tor zu.
Persönliche Gefühle spielen bei Amelie Festags Entscheidungen keine Rolle.© Amelie Festag
In solchen Fällen tauscht sie sich immer mit Kollegen aus, erzählt Festag. Das ist ihr wichtig, damit keine persönlichen Gefühle die Einweisung beeinflussen. Auch die Entscheidung offener oder geschlossener Vollzug wird in einer Konferenz getroffen, gemeinsam mit anderen der Abteilung. Das entlastet und nimmt ihr den Druck bei den Entscheidungen, besonders bei so komplizierten Fällen wie dem von Jussuf Ademie.
Ademie arbeitet in der Bibliothek der JVA. In den engen Räumen stehen hohe Regale aus hellem Holz. In einem separaten Zimmer sitzt eine Gruppe Männer bei der Pause. Vor vier Jahren ist er nach Moabit in Untersuchungshaft gekommen. Und die hat sich gezogen. Das Gerichtsverfahren war lang und kompliziert, mehrmals ist er in Revision gegangen. Ademi, blaue Arbeitshose, schwarzes T-Shirt, führt durch die Bibliothek, zeigt ein ganzes Regal mit fremdsprachigen Büchern und weiß inzwischen, dass die Russen viel lesen.
Er selbst liest am liebsten Bücher mit Deutschübungen, erzählt Ademie vor einem Regal mit Sprachkursen. Vor fast 30 Jahren ist er wegen seiner kranken Mutter aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen. Sein Start hier war aber alles andere als einfach: "Ich bin mit 16 Jahren mit meiner Familie hierhergekommen. Aber ich wurde nicht an der Schule angenommen. Man sagte mir, ich sei zu alt. Ich konnte auch kein Deutsch."

Schwierige Lebensläufe, kriminelle Karrieren

Zunächst war er nur geduldet, durfte also auch nicht arbeiten. Dann beging er die ersten Straftaten. Ademi wirkt aufgeregt, redet schnell, fast atemlos. So als hätte er zu wenig Zeit. Diese Rastlosigkeit, erzählt er, habe er erst in den vier Jahren U-Haft entwickelt.
Vor einem Regal mit Bibeln und Koran-Schriften kommt er auf seine Verurteilung zu sprechen. "Das, was mir vorgeworfen wurde, damit bin ich einverstanden. Ich hätte ja die Polizei anrufen können. Ich habe die Bewaffneten ja gesehen. Mein großer Fehler war, dass ich nichts unternommen habe. Das gebe ich zu. Ich habe nichts unternommen. Ich nicht und meine Brüder auch nicht."
Seine zwei jüngeren Brüder waren auch bei der Schießerei dabei. Sie wurden schon vor einigen Wochen in andere Anstalten verlegt, beide in den geschlossenen Vollzug. Ademie hofft trotzdem, dass es bei ihm anders ausgeht. Vor allem wegen seines kleinen Sohnes, der ihn seit über zwei Jahren nicht mehr sehen will.
"Ich bin sehr, sehr, sehr aufgeregt. Ich habe gesagt, dass ich meinen Sohn seit zweieinhalb Jahren nicht gesehen habe. Er sagt: ‚Ich habe Papa lieb, aber ich möchte ihn nicht mehr im Gefängnis besuchen.‘ Und das wäre eben jetzt die Möglichkeit für mich, dass ich ihn wiedersehen kann, und dass ich nicht so viel verpasse, weil ich in den vier Jahren schon so viel verpasst habe."

Professioneller Austausch in der Gruppe

Einige Stunden später ist es soweit. Im Konferenzraum der Einweisungsabteilung wird über Ademies Fall entschieden. Der sitzt vor der Tür auf einer Holzbank und wartet. Insgesamt elf Experten übernehmen in der EWA die Einweisungen, alle aus dem sozialen oder psychologischen Dienst. Bei harten Fällen wie dem von Ademie sind besonders die Psychologinnen gefragt. Heute: Amelie Festag, ihre Chefin Michaela Schätz und als Beisitzerin Psychologin Katharina Behrendt.
Man tauscht sich aus, die Chefin beginnt. "Gab es noch irgendwelche Ergänzungen zu dem, was im Urteil steht von ihm? Hintergründe?", fragt sie. "Woher kannte man sich, aus welchem Grund wurden die beiden tschetschenischen Männer beauftragt? Wurden sie überhaupt beauftragt?"
Amelie Festag klärt auf: "Nein, er sagt, er kannte den Mann, deshalb hat er ihn auch begrüßt, aus Gastfreundlichkeit. Er wusste auch, dass es diesen Streit gibt, aber worüber er mit ihm gesprochen hat, hat er mir nicht gesagt."
Chefin Michaela Schätz macht sich Notizen. Sie hat heute den Vorsitz der Konferenz. Neben ihr sitzt Amelie Festag mit mehreren Stapeln Akten vor sich. Immer wieder blättert sie, sucht Daten aus den Gerichtsurteilen heraus und zitiert: "Seine Gruppenleiterin, die ihn hier sehr lange betreut hat, hält große Stücke auf ihn. Er hat von Anfang an gesagt, er wusste nichts davon und er bleibt dabei. Er besucht hier ganz viele Gruppen, er ist beliebt. 2020 ist mal ein Handy bei ihm gefunden worden, aber sonst war eigentlich nichts."
Blick durch die vergitterten Fenster der JVA Moabit
"Nicht geeignet für den offenen Vollzug." Die Psychologinnen müssen auch harte Entscheidungen treffen.© JVA Moabit Mandy Westphal
Die Frauen wägen ab, heben das Positive hervor, kommen aber immer wieder zu dem Schluss, dass sie von ihm nichts über den Fall erfahren haben. Die Hintergründe der Schießerei konnten vom Gericht nicht vollständig geklärt werden. Wer hat wen beauftragt? Was wusste Ademie genau? Warum hat er in Kauf genommen, dass unschuldige Menschen sterben könnten? Nicht nur vor Gericht, auch mit Amelie Festag wollte er nicht darüber sprechen. "Es könnte um irgendeine Form von Schutzgelderpressung gehen", so ihre Vermutung.
Auch die Rolle der Brüder ist unklar – haben sie von ihm Loyalität verlangt und ihn so mit hineingezogen? "Es gibt zu viele Fragezeichen", schlussfolgert Amelie Festag. "Ich halte ihn nicht für persönlich geeignet für den offenen Vollzug, weil er nicht mit uns spricht und uns nicht sagt, warum er hier ist."
Die drei Psychologinnen müssen abwägen. Auf der einen Seite wirkt Ademie verantwortungsvoll, besucht Gruppen und arbeitet an sich – klare Punkte für den offenen Vollzug. Auf der anderen Seite erklärt er seine Tat nicht, sondern schweigt und zeigt keinerlei Schuldgefühle. So können sie nicht ausschließen, dass er nicht wieder straffällig wird. Dieses Argument ist am Ende für alle drei ausschlaggebend. Eine Distanzierung ist nicht erkennbar, eine Eignung für den offenen Vollzug wird nicht festgestellt.

Keine Hafterleichterung für Ademie

Während die drei Frauen die weiteren Behandlungsmaßnahmen planen, sitzt Jussuf Ademie vor der Tür und wartet. Er ist nervös, seine Hände sind verkrampft, trotzdem lächelt er: "Jetzt bin ich richtig aufgeregt, ja. Das ist eine gute Option mit dieser Einweisung von der EWA, aber wir müssen denen beweisen, dass wir wirklich keine Straftaten mehr machen. Ob das gereicht hat von mir, das weiß ich nicht."
Ademie wird hineingerufen, er setzt sich. Ihm gegenüber sitzen die drei Psychologinnen. Als sie ihm ihre Entscheidung mitteilen, wirkt er gefasst, er fragt nach den Gründen. Michaela Schätz redet ihm ins Gewissen. Sie spricht über die Menschen, die im Café hätten umkommen können, fragt nach seinen Schuldgefühlen. Ademies Fassung kommt ins Wanken. Er wirkt nun kleinlaut und nachdenklich. Dann verlässt er den Raum. Noch in derselben Woche wird er in die JVA Plötzensee verlegt. Auch bei Amelie Festag wirkt die Konferenz nach.
"Es war ein sehr langes Gespräch und wirklich auch keine einfache Entscheidung. Ich glaube, was er bisher macht, das ist die ganze Fleißarbeit. Er ist pünktlich, er besucht ständig irgendwelche Gruppen und ist beliebt. Aber im Innersten emotional angegriffen zu sein von seiner Schuld, das ist bei ihm noch gar nicht passiert. Und das brauchen wir. Weil nur von der Basis aus eine Veränderung ausgehen kann. Vorher hat er null Veränderungsdruck, der kann genauso weiter machen wie vorher."

"Es hat sich jemand für mich interessiert"

Auch Philipp Lewinski muss in den geschlossenen Vollzug. Für ihn geht es in die JVA Tegel. Kurz vor der Entscheidung wurden in seiner Zelle Drogen von anderen Insassen gefunden. Für Amelie Festag ein klares Zeichen: Genau wie bei seiner Straftat konnte er wieder nicht nein sagen, hat sich wieder von Männern, die er bewundert, ausnutzen lassen. Mit Hilfe einer Therapie soll er daran arbeiten. Dann könnte er schon zwei Jahre eher entlassen werden. Hat sie trotzdem etwas mit ihren Gesprächen bewirkt?
"Ich fände es schön, wenn ich erstmal transportieren könnte: Jemand hat sich für mich interessiert. Jemand hat mich verstanden und hat trotz allem noch an mich geglaubt. Besonders wichtig ist mir das, wenn ich eine Entscheidung treffe, die dem Inhaftierten erstmal nicht gefällt. Trotzdem soll sich Wertschätzung und Interesse übertragen. Das kann, glaube ich, schon heilsam sein."
Am Ende sollen die Entscheidungen den Männern helfen, sie nicht bestrafen. Jeder Inhaftierte hat die Chance, mit den Behandlungsmaßnahmen der EWA an sich zu arbeiten und seine Prognose zu verbessern. Alle sechs Monate wird das geprüft. Dann könnte der ersehnte Wechsel in den offenen Vollzug doch noch kommen.
Es geht raus aus der JVA. An den Wänden große Wandmalereien. Inhaftierte haben hier Eindrücke aus ihrem Leben gemalt. Ein Kind auf einer Schaukel im Sturm. Ein Männchen, das einen Abhang hinunterstürzt. Über dem Ausgang steht in selbstgemalten Buchstaben: "The measure of our greatness is how we stand up after we fall" – Größe misst sich daran, wie wir aufstehen, nachdem wir gefallen sind.

Dieser Beitrag wurde erstmals am 10. Oktober 2021 gesendet.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema