Freigänger mit Rollator
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Krumme Wege, langes Leben: Wie werden Strafgefangene hinter Gittern alt? Die Zahl Inhaftierter, die in deutschen Gefängnissen ins Rentenalter kommen, steigt. Für viele von ihnen ist Seelsorge wichtig.
JVA Senne bei Bielefeld, die Abteilung für "lebensältere Gefangene". Frank Baucke, uniformierter Mitarbeiter der größten offenen Justizvollzugsanstalt Europas, gewährt zuerst einen Blick in die Nasszelle: "Hier sind jetzt nur die Duschen und Gemeinschaftstoiletten, die ja nicht auf den Hafträumen sind."
Breite Flure für Rollatoren
In den letzten Jahren haben immer mehr Bundesländer Abteilungen in ihren Gefängnissen eingerichtet, wo auf die speziellen Bedürfnisse älterer Menschen eingegangen werden kann. Die zwei Etagen in der JVA Senne mit ihren 87 Haftplätzen sind die bundesweit größte Abteilung für Gefangene ab sechzig Jahren. Auf den Fluren gibt es genug Raum für Rollatoren, neben den Toiletten sind Haltegriffe angebracht, in den Duschen stehen Sitzhocker und die Zellenfenster haben keine Gitterstäbe. Die Betreuung der Häftlinge ist hier besonders arbeitsintensiv, nicht zuletzt auch, weil sie verletzungsanfälliger sind.
Frank Baucke öffnet die Tür der Zelle des Gefangenen Bruno Hesse. Der Mann in weißem Unterhemd sitzt auf seiner Bettkante. Ein großer Bluterguss ziert sein Gesicht. Zwei Tage zuvor ist er während eines Ausgangs gestürzt.
"Die Wunden sind aber noch grün und blau", sagt Baucke. "Naja, die haben mir ja Blut abgenommen, und Katheter gesetzt", erwidert Hesse. "Die wollten wissen warum. Haben aber nichts gefunden."
Würdige Behandlung für ältere Gefangene
Das Gefängnispersonal hat die Aufgabe, eine menschenwürdige Behandlung der älteren Männer sicherzustellen. "Hier sind lebensältere Gefangene", sagt der 75-jährige Bruno Hesse, "aber viele sind schon wieder am Verkindlichen. Ja, die werden nen bisschen kindischer wieder. Hier kann man sich mit den Wenigsten unterhalten."
Seitdem die zweite Frau des Bankräubers vor einem Jahr gestorben ist, verbringt er die meiste Zeit allein in seinem Haftraum, obwohl die Tür jeden Morgen um sechs Uhr aufgeschlossen wird. Tagsüber können sich die Männer auf dem weitläufigen Gelände der Haftanlage frei bewegen. Abends um neun wird nachgezählt. Dann ist Einschluss.
"Ich habe Angst, depressiv zu werden"
Bruno Hesse aber hat keine Lust auf Kontakte zu Mithäftlingen. "Ich hab Angst davor, depressiv zu werden", sagt er. "Ich hab ja keine Ansprechpartner mehr. Nur noch eben die Knackis. Und mit denen sich zu unterhalten is' für mich unakzeptabel. Ich bin ein Einzelgänger, weil ich hab über dreißig Jahre Knast um. Dat ist natürlich nicht was zum Angeben, aber es ist nun mal mein Leben. Ich hab noch zweieinhalb Jahre vor mir. Hab jetzt 'nen jutes Jahr um."
Nicht wenige Häftlinge der Abteilung haben alterstypische Beschwerden: erste Anzeichen von Demenz, Diabeteserkrankungen, Kreislauf- und Herzprobleme. Notwendige Behandlungen übernimmt ein eigens dafür angestellter Arzt sowie ein Krankenpfleger. Um die psychische Gesundheit der Männer kümmern sich zwei Seelsorgerinnen.
Seelsorge ermutigt zum Rückblick
"Ein bisschen hat da die evangelische Seelsorgerin Frau Biermann mir geholfen", erzählt Bruno Hesse. "Wöchentlich oder alle 14 Tage mittlerweile, führe ich mit der so 'ne gute Stunde ein Gespräch."
Pastorin Elisabeth Biermann arbeitet seit zwei Jahren im Vollzug. "Mit Herrn Hesse hat sich der Kontakt entwickelt über das sich Begegnen auf dem Weg, auf dem Flur, im Café nach und nach", sagt sie. "So ist es dann zu einem Gesprächskontakt gekommen, und dann hat er von seinen vielen, reichhaltigen Erfahrungen erzählt."
Lebensbilanz und die Frage nach dem Ende
Im Haftraum haben die Gefangenen viel Zeit, über ihr Leben nachzudenken. Dabei kann eine mitfühlende Gesprächspartnerin sehr wertvoll sein. "Das ist eine Frage der Lebensbilanz", sagt Elisabeth Biermann. "Das ist häufig in unseren Gesprächen auch Thema. Wir von der Seelsorge bringen ja das große Kapital mit, dass wir Zeit haben und dann den Leuten auch die Zeit geben können, sehr weit auszuholen und über ihr Leben nachzudenken und das mit jemandem zu teilen."
Statt allein im Haftraum zu sitzen und zu denken: "Was ist jetzt hier am Ende aus meinem Leben geworden und wo bin ich gelandet?" könnten die Gefangenen solche Gedanken im Seelsorge-Gespräch thematisieren, betont Biermann. Dabei werde auch die Perspektive des Lebensendes nicht ausgeblendet.
Für das uniformierte Personal der Abteilung für lebensältere Häftlinge steht nicht die Kontrolle im Vordergrund, sondern die Betreuung und die Vorbereitung auf das Leben nach Verbüßung der Haft. Diesem Anliegen entspricht auch die Infrastruktur des Gebäudes, erklärt Frank Baucke.
"Wir haben nur verminderte Sicherung hier, also keine Mauern", sagt Baucke. "Wir haben Drahtzäune, Maschendrahtzäune rund rum, was aber niemals einen Ausbruch verhindern würde. Das muss man ganz deutlich sehen, das sind eingeschränkte Sicherungsmaßnahmen, die wir hier haben."
Trotz offener Türen: weniger Risiko
Seitdem Pastorin Biermann Tag für Tag ins Gefängnis kommt, macht sie sich auch grundsätzliche Gedanken über die Bedeutung des Strafvollzugs. Wie soll eine Gesellschaft angemessen mit einem Mann umgehen, der straffällig geworden ist?
"Es ist auch eine Frage von Sicherheit", sagt Biermann. "Wenn jemand gut vorbereitetet ist auf ein Leben nach der Haft, dann ist er ein geringeres Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft als jemand, der 23 Stunden am Tag nur weggeschlossen wird und dann wieder vor die freie Tür gestellt wird, und dann heißt es: 'Sieh mal zu, wie du klar kommst.' Ich glaube, das ist ein höheres Sicherheitsrisiko."
Ein Häftling leitet das Kirchencafé
Die Seelsorgerin hat einen breiten Gestaltungsspielraum. So war auch die Einrichtung eines Kirchencafés möglich, das die Häftlinge als Ort der Begegnung nutzen dürfen. Das Café wird von einem Häftling geleitet.
"Herr Hesterkamp ist noch gar nicht so lange hier", sagt Elisabeth Biermann. "Er hat dann recht bald die Arbeit hier im Kirchencafé bekommen, wo er sehr umgänglich und tüchtig für alle Arbeiten gut zur Verfügung steht."
"Das ist ein Treff für Inhaftierte, der gesponsert wird von der Kirche", erklärt Klaus Hesterkamp. "Man will ermöglichen, dass Häftlinge zusammenkommen, Gespräche führen, man kann etwas trinken, relativ preisgünstig essen, und eben auch Kontakt zu Kirchenangestellten haben, die hier in dem Haus tätig sind."
Klaus Hesterkamp zählt sich selbst noch nicht zu den Alten. Er ist Anfang sechzig und kennt die Atmosphäre in anderen Gefängnissen, die oft geprägt ist vom rauen Umgangston der deutlich jüngeren Häftlinge.
Kirche im Knast ist "extrem wichtig"
"Wo die Mischung anders ist, sind die Älteren schon ziemlich isoliert", sagt Hesterkamp, "weil die viele Sachen gar nicht mitmachen können, zum Beispiel Sport. Hier sind sie mehr unter Gleichgesinnten, vom Alter her gesehen. Das tut, glaube ich, den Älteren ganz gut."
Im Gefängniscafé tauschen sich die Gefangenen auch über ihre Erfahrungen mit der Seelsorge aus. Manche animieren sich gegenseitig, Kontakt aufzunehmen, auch wenn sie früher kein Interesse an Kirche gehabt haben. "Ich höre auch von anderen Gefangenen, dass das extrem gut aufgenommen wird", sagt Klaus Hesterkamp. "Und wenn man nur auf den Strafvollzug ausgehen würde, würde was wichtiges fehlen, wenn also die Kirche, also die Seelsorge nicht dabei wäre. Das ist extrem wichtig hier."
Manche haben ein schlechtes Gewissen
Der Gesprächsraum von Pastorin Biermann befindet sich im ersten Stock, direkt über dem Gefängniscafé. "Seelsorgliche Gespräche führen oft in Tiefen und in Sorgen und Nöte hinein", sagt sie. "Hier können die Leute das aussprechen, und es wird hinterher nicht darüber gelästert. Dann ist es wieder so, dass auch in unseren Gesprächen viel gelacht wird. Also, es kommt das Leben in seinen ganzen Facetten zur Sprache."
Viele Häftlinge fühlen sich ungerecht behandelt. Andere tragen schwer an ihrem schlechten Gewissen. Manche verlieren im Gefängnis die Freude am Leben. In diesem Umfeld fühlt sich Pastorin Biermann gebraucht. Auch deshalb kommt sie gerne in die Abteilung für lebensältere Gefangene. "Dass wir hier Menschen in einer krisenhaften Situation begleiten können", sagt Biermann, "gehört zur ureigenen Aufgabe von Kirche."