Gefangen im bayerischen Wirtshausmilieu
Der Schauspieler Josef Bierbichler debütiert mit einem Generationenroman rund um eine Bauern- und Gastwirtsfamilie am Starnberger See. 80 Jahre deutsche Geschichte hebt er auf die belletristische Bühne. Ein ebenso sperriges wie gelungenes Werk.
Eigentlich hätte der junge Pankraz Opersänger werden wollen, nicht Land- und Seewirt. Doch als dem älteren Bruder ein Geschoss im Ersten Weltkrieg nicht das Leben, wohl aber den geraden Verstand nimmt, muss er wohl oder übel die Gaststätte in Seedorf und die dazugehörigen Ländereien übernehmen. Ein verfluchtes Erbe, allerdings in einer Zeit, in der die Landliebe der Städter die Seedorfer bereits zu erfolgreichen Touristikunternehmern gemacht hat. Wenn nicht steinreich, so zumindest mittelreich.
Grund, Boden und See geben mit der Jahrhundertwende plötzlich mehr her als Getreide, Milch und Fisch, sie bringen die Sommerfrischler und Wirtshauseinkehrer, die sich im gelben Bauernrenaissanceschlösschen des Seewirts gütlich tun an Kuchenplatten und Frischgezapftem unterm Ebereschenbaum. "Langsam sickerte die Welt hinein, wo vorher Dunst und Erde war", und diese Welt stattet den Wirtssohn Pankraz mit der Seifenblase aus, er könne als Künstler leben.
Bierbichler selbst ist im bayerischen Wirtshausmilieu, im "Fischmeister" am Starnberger See aufgewachsen, war ursprünglich als Erbe von Hof und dazugehörigem Gasthaus bestimmt und hat sich diesem Fatum durch den Sprung auf die Theaterbühne entzogen, eine Wendung, die er seinem Protagonisten Pankraz nicht gönnt. Der muss den Wirtslebensweg bis zum Ende gehen, ebenso wie sein Vater, dem Weihnachten 1943 das Herz stehenbleibt. Erst der Sohn Semi, der die Geschichte größtenteils erzählt und dem wir bis in die 80er-Jahre folgen, wird sich lösen - allerdings nicht durch ein Künstlerdasein, sondern durch mörderische Gewalt: Zerstückelt wird der an ihm pädophil gewordene Pater Ezechiel, zu Tode geküsst die verhasste Mutter.
Im Mittelreich zwischen Gut und Böse, Diesseits und Jenseits - auch so lässt sich der Titel lesen - geschehen Dinge, die in ihrer Grausamkeit keiner klassischen Sage nachstehen. Es wird gemordet, geschlachtet, geliebt, es treten Hermaphroditen, tragische Helden und Chöre auf. Doch geordnet nach klassischem Maßstab ist hier nichts. Auch wenn chronologisch einigermaßen stringent 80 Jahre Deutschland erzählt werden: Die Handlung erinnert an die braun getönten Wimmelgemälde von Bosch und Breughel, denn die Szenen stehen um kein Zentrum, sondern spielen auf vielen kleinen Bühnen ihre Tragödien durch.
Und sie erspielen sich Mitgefühl: So wie das ostpreußische Fräulein von Zwittau, das erst am Ende ihres Lebens erkennen wird, weshalb ihr Verlobter vor fünf Jahrzehnten schreckerfüllt Reißaus genommen hat, nachdem er ihren Unterhosenbund gelupft hat. Oder die alte Mare, die sich während der Papstansprache im Fernsehen empfiehlt und zum Himmel auffährt. Neben den fantastischen Elementen der Geschichte ist es immer wieder die deutsche, katholisch-bayerische Petrischale, in die zurückgeführt wird, und in der sich latenter Antisemitismus, Bigotterie und Geschäftssinn gegenseitig befruchten, in dem sich das bäuerliche Leben zugunsten der rationalisierten Landwirtschaft auflöst.
Es fällt nicht gerade leicht, sich dem wechselnden Rhythmus hinzugeben, in dem die Erzählung vorangetrieben wird. Ab und an dialektal-suadenhaft fließend, dann wieder stockend kommt sie daher, im Wechsel der Tempusformen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Jeder Person die eigene Stimme: Hier schreibt der Theatermann Bierbichler, der sich jede der vielzähligen Figuren erarbeitet, und es ist über weite Strecken eine Wonne, seinen dunstig-poetischen, krachenden und tragikomischen Ausfällen zu folgen.
Nicht alle der inwendig und auswendig vernarbten Gestalten werden dabei plastisch. Aber es ist auch kein bäuerlicher Familienroman, kein biologisch-dynamisches Sittengemälde, das Bierbichler hier vorlegt, es ist vielmehr der Versuch einer Chronik, die man sich wiederum lesend erarbeiten muss. Sein Debüt: Es ist ein erdschweres Seestück, das ebenso sperrig wie gelungen ist.
Besprochen von Kathrin Schumacher
Josef Bierbichler: Mittelreich
Roman, Suhrkamp, Berlin 2011
480 Seiten, 24,90 Euro
Grund, Boden und See geben mit der Jahrhundertwende plötzlich mehr her als Getreide, Milch und Fisch, sie bringen die Sommerfrischler und Wirtshauseinkehrer, die sich im gelben Bauernrenaissanceschlösschen des Seewirts gütlich tun an Kuchenplatten und Frischgezapftem unterm Ebereschenbaum. "Langsam sickerte die Welt hinein, wo vorher Dunst und Erde war", und diese Welt stattet den Wirtssohn Pankraz mit der Seifenblase aus, er könne als Künstler leben.
Bierbichler selbst ist im bayerischen Wirtshausmilieu, im "Fischmeister" am Starnberger See aufgewachsen, war ursprünglich als Erbe von Hof und dazugehörigem Gasthaus bestimmt und hat sich diesem Fatum durch den Sprung auf die Theaterbühne entzogen, eine Wendung, die er seinem Protagonisten Pankraz nicht gönnt. Der muss den Wirtslebensweg bis zum Ende gehen, ebenso wie sein Vater, dem Weihnachten 1943 das Herz stehenbleibt. Erst der Sohn Semi, der die Geschichte größtenteils erzählt und dem wir bis in die 80er-Jahre folgen, wird sich lösen - allerdings nicht durch ein Künstlerdasein, sondern durch mörderische Gewalt: Zerstückelt wird der an ihm pädophil gewordene Pater Ezechiel, zu Tode geküsst die verhasste Mutter.
Im Mittelreich zwischen Gut und Böse, Diesseits und Jenseits - auch so lässt sich der Titel lesen - geschehen Dinge, die in ihrer Grausamkeit keiner klassischen Sage nachstehen. Es wird gemordet, geschlachtet, geliebt, es treten Hermaphroditen, tragische Helden und Chöre auf. Doch geordnet nach klassischem Maßstab ist hier nichts. Auch wenn chronologisch einigermaßen stringent 80 Jahre Deutschland erzählt werden: Die Handlung erinnert an die braun getönten Wimmelgemälde von Bosch und Breughel, denn die Szenen stehen um kein Zentrum, sondern spielen auf vielen kleinen Bühnen ihre Tragödien durch.
Und sie erspielen sich Mitgefühl: So wie das ostpreußische Fräulein von Zwittau, das erst am Ende ihres Lebens erkennen wird, weshalb ihr Verlobter vor fünf Jahrzehnten schreckerfüllt Reißaus genommen hat, nachdem er ihren Unterhosenbund gelupft hat. Oder die alte Mare, die sich während der Papstansprache im Fernsehen empfiehlt und zum Himmel auffährt. Neben den fantastischen Elementen der Geschichte ist es immer wieder die deutsche, katholisch-bayerische Petrischale, in die zurückgeführt wird, und in der sich latenter Antisemitismus, Bigotterie und Geschäftssinn gegenseitig befruchten, in dem sich das bäuerliche Leben zugunsten der rationalisierten Landwirtschaft auflöst.
Es fällt nicht gerade leicht, sich dem wechselnden Rhythmus hinzugeben, in dem die Erzählung vorangetrieben wird. Ab und an dialektal-suadenhaft fließend, dann wieder stockend kommt sie daher, im Wechsel der Tempusformen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Jeder Person die eigene Stimme: Hier schreibt der Theatermann Bierbichler, der sich jede der vielzähligen Figuren erarbeitet, und es ist über weite Strecken eine Wonne, seinen dunstig-poetischen, krachenden und tragikomischen Ausfällen zu folgen.
Nicht alle der inwendig und auswendig vernarbten Gestalten werden dabei plastisch. Aber es ist auch kein bäuerlicher Familienroman, kein biologisch-dynamisches Sittengemälde, das Bierbichler hier vorlegt, es ist vielmehr der Versuch einer Chronik, die man sich wiederum lesend erarbeiten muss. Sein Debüt: Es ist ein erdschweres Seestück, das ebenso sperrig wie gelungen ist.
Besprochen von Kathrin Schumacher
Josef Bierbichler: Mittelreich
Roman, Suhrkamp, Berlin 2011
480 Seiten, 24,90 Euro