"Wir brauchen dich auf jeden Fall!"
Wie können geflüchtete Fachkräfte sinnvoll integriert werden? Für Lehrerinnen und Lehrer gibt es in Brandenburg eine neue berufliche Perspektive: Mit dem "Refugee Teachers Program" werden sie zu Assistenzlehrkräften ausgebildet und als kulturelle Mittler eingesetzt.
Ende September an der Universität Potsdam. Die ersten Absolventinnen und Absolventen des "Refugee Teachers Program" erhalten in einer feierlichen Zeremonie ihre Teilnahme-Zertifikate. In dem Projekt werden geflüchtete Lehrerinnen und Lehrer zu "Assistenzlehrkräften" fortgebildet.
Anderthalb Jahre lang paukten die jungen Frauen und Männer Deutsch und pädagogische Didaktik, ab dem zweiten Semester hospitierten sie zusätzlich einmal wöchentlich an Schulen im Land Brandenburg. Initiatorin des Projekts ist die Bildungswissenschaftlerin Miriam Vock. Ihr Kollege Frederik Ahlgrimm vom Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung der Universität Potsdam entwickelte gemeinsam mit ihr das Konzept:
"Wir haben gedacht, wir öffnen eines unserer Seminare. Und laden 15 von unseren Studenten ein und nehmen 15 geflüchtete Lehrer dazu, damit die mal ins Gespräch kommen. Das war der Ausgangspunkt. Und das fand sehr schnell den Weg in die überregionale Presse. Und wir hatten plötzlich 700 Bewerbungen auf dem Tisch. Wir waren sehr, sehr überrascht über den Erfolg dieser Idee und den Anklang, den es gefunden hat."
Eine Win-win-Situation
Auf Zuspruch stieß die Idee auch bei den zuständigen Ministerien sowie bei Schulämtern und Schulen. Vor allem außerhalb der Hauptstadt Potsdam werden händeringend Lehrkräfte gesucht. Die Landesregierung stellt daher für das "Refugee Teachers Program" bis einschließlich 2018 rund 770.000 Euro zur Verfügung. Bei der Abschlussfeier in Potsdam unterstrich Wissenschaftsministerin Martina Münch, welche Win-win-Situation es sei, aus dem Kreis der Kriegsflüchtlinge qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen.
"Wenn man zu uns kommenden Menschen solche Wege eröffnet, in denen sie sich weiterqualifizieren können, werden sie schnell Teil der aufnehmenden Gesellschaft."
Die Assistenzlehrkräfte werden vor allem an Grundschulen eingesetzt. Sie sollen zunächst ein Jahr lang die regulären Lehrkräfte bei der Integration geflüchteter Kinder unterstützen - und erst selbstständig unterrichten, wenn sie fest übernommen werden. Insgesamt 28 Frauen und Männer haben als Erste das Programm absolviert. Doch nur zwölf haben auch die Deutschprüfung der Stufe C1 bestanden. Muath ar-Rifai hat das nicht geschafft. Dennoch hat der Englischlehrer nach eigenen Angaben mit dem Schulamt in Cottbus einen Vertrag unterzeichnet.
"Und gestern war ich in der Schule, in einer Grundschule, und alle meine Kollegen haben mir gesagt: Du bist herzlich willkommen! Wir brauchen dich auf jeden Fall."
"Die Idee war jetzt, vielleicht ist es doch sinnvoll, auch wenn die Leute diese Hürde noch nicht genommen haben, sie doch in einer Schule arbeiten zu lassen, weiter zu qualifizieren und diese Prüfung nachzuholen. Statt zu sagen: "Ihr holt nochmal ein ganzes Semester nach und geht erst dann in die Schule". Wo die Verträge vorbereitet waren, die Schulen sich auf sie freuen – und die Teilnehmer natürlich auch unbedingt in die Schulen wollen."
Sagt Frederik Ahlgrimm von der Universität Potsdam.
Zwölf unterschiedliche Nationen in einer Schule
Eine, die die Deutschprüfung geschafft hat, ist die Syrerin Hend Al Khabbaz. Seit Oktober unterrichtet die 34-jährige im sogenannten Co-Teaching Erstklässler an der Sigmund-Jähn-Grundschule in Fürstenwalde. Eine zierliche Frau mit moderner Pagenfrisur, dunkelrotem Pullover und Jeans. Ihre Partnerin und Mentorin beim Co-Teaching ist Klassenlehrerin Solveig Reichardt.
"Manchmal mache ich mit Frau Reichardt was zusammen, wenn es braucht zwei Lehrerinnen. Und wenn sie macht etwas nicht so schwierig, sie kann alleine, ich nehme eine kleine Gruppe und mache ich was, kann ich mehr konzentrieren."
Die dritte Stunde ist an diesem Tag Mathematik. Hend Al Khabbaz sitzt an einem Tisch zusammen mit Sara, Nour und Ghazan aus Syrien, Abdou aus Tschetschenien und André aus der Ukraine. Jedes Kind soll laut sagen, welche Zahl es gewürfelt hat.
Die Sigmund-Jähn-Grundschule, benannt nach dem ersten Deutschen im Weltall, liegt in einer Wohnsiedlung mit grauen Plattenbauten. Das gelb gestrichene Schulgebäude bildet darin einen fröhlichen Farbklecks. Fast die Hälfte der 285 Kinder an der Schule hat einen Migrationshintergrund. 85 sind geflüchtete Kinder, 45 von ihnen allein aus Syrien. Insgesamt zwölf Nationen drücken hier die Schulbank, sagt Schulleiterin Ines Tesch.
"Wir legen Wert darauf, dass hier deutsch gesprochen wird. Aber wenn Kinder etwas nicht verstehen, gerade Mathematik oder so, dass man dann die Möglichkeit hat, das nochmal in der Heimatsprache zu erfahren - das ist toll für die Kinder. Oder wenn Kinder überhaupt den ersten Schultag hier haben, sechs-, siebenjährige Kinder, und die sind so ängstlich und gucken hinter der Mama vor - und dann spricht Frau El Khabbaz sie auf Arabisch an. Dann strahlen die und freuen sich dann doch auf die Schule."
Als Brückenbauerin in Fürstenwalde
In ihrer Heimatstadt Homs unterrichtete Hend Al Khabbaz Englisch in einer Grundschule, bis sie vor zwei Jahren vor dem Bürgerkrieg nach Berlin floh. Das dort für Flüchtlinge zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales – kurz LaGeSo - schickte sie weiter nach Fürstenwalde. Ihr Praktikum machte Hend Al Khabbaz dann an der Sigmund-Jähn-Schule, wo sie nun Assistenzlehrerin ist.
"Gibt es natürlich so viele Schwierigkeiten, das System zu verstehen, das ist klar. Aber Probleme mit x Leuten gibt es nicht. Die Kollegen auch hier sind sehr nett. Ich habe zum Beispiel in die erste Tage für mich hier in der Schule eine Zuckertüte bekommen - als Einschulung. Ja."
Hend Al Khabbaz‘ Funktion ist die einer "Brückenbauerin", wie es im Refugee Teachers Program heißt. Die junge Araberin vermittelt und übersetzt nicht nur zwischen Schülern und Lehrern, sondern auch zwischen Schulleitung und Eltern. Mentorin und Klassenlehrerin Solveig Reichardt:
"Wir sind dann ganz oft zu den Eltern nach Hause gefahren, entweder in die Wohnung oder in die Flüchtlingsheime, und haben dann mit ihnen Gespräche geführt, um ihnen auch nochmal zu sagen, welche Sachen brauchen die Kinder für die Schule. Viel läuft auch übers Telefon. Sie hat die ganzen Nummern der Eltern gespeichert. Ich habe dann auf Deutsch gesagt, welche Informationen ich für die Eltern habe – und sie hat die Eltern angerufen. Es hat immer gut funktioniert, sie ist da absolut zuverlässig."
Kopftuch - ja oder nein?
Wäre die Begeisterung für die arabische Assistenzlehrerin auch so groß, wenn sie ein Kopftuch trüge? Solveig Reichardt und Schulleiterin Ines Tesch antworten beide mit einem klaren "Ja". Auch die Landesregierung will geflüchteten Lehrerinnen das Kopftuchtragen im Unterricht nicht verbieten. Ein Verstoß gegen die Neutralitätspflicht von Schulen läge erst vor, wenn eine Lehrerin zum Beispiel verbal für den Islam werben würde. Für Rebecca Sommer, Leiterin der Arbeitsgruppe Flucht und Menschenrechte in Berlin, wird damit vernachlässigt, welchen Einfluss Lehrerinnen auch indirekt ausüben.
"Eine Lehrerin mit Kopftuch ist wie ein stummes, aber beredetes Zeichen, dass die islamischen Normen Geltung haben für sie. Wollen wir diese Form von Weltanschauung, wo man die Evolutionsgeschichte komplett in Frage stellt? Wo eigentlich alles, was der Koran sagt, höher gestellt ist als alles Wissenschaftliche? Wollen wir das wirklich als Lehrer? Wie gehe ich darauf ein, wenn diese Lehrerin so religiös ist, dass sie zum Beispiel eben auch keinem Mann die Hand geben würde?"
Bislang wirbt die Universität Potsdam auf ihrer Homepage für das "Refugee Teachers Program" auch mit Fotos, auf denen Frauen Kopftuch tragen. Nach Ansicht von Rebecca Sommer weckt dies nicht nur falsche Anreize, sondern eventuell auch falsche Hoffnungen. Tatsächlich wurde einer Absolventin des Programms bei einem Vorstellungsgespräch eröffnet, dass sie nur ohne Kopftuch unterrichten dürfe. Frank Quella vom Schulamt Brandenburg an der Havel erklärt: Dies sei ein Ausnahmefall. Die betreffende Schule liege in einer Brennpunktregion:
"Also im Prinzip müssen wir gucken in dieser Brennpunktregion hier in Potsdam, wo sehr weit rechts gewählt worden ist, die Lehrkraft vor eventuellen Übergriffen zu schützen. So dass wir da nach Alternativen gucken müssen."
Mit seinem Pilotprojekt kann das Land Brandenburg Weichen stellen. Insbesondere, da es seit einem halben Jahr zwei Nachahmer-Projekte an den Universitäten Bielefeld und Göttingen gibt. Im nächsten Jahr wird entschieden, welche Assistenzlehrkräfte fest an Schulen übernommen werden. Hend Al Khabbaz würde sich über eine feste Stelle freuen. Sie überlegt, noch ihr deutsches Staatsexamen zu machen. Wie es danach weitergeht, steht für sie in den Sternen.
"Das ist nicht klar, was passiert in Zukunft. Syrien hat einen Krieg. Ich habe keine Ahnung, wie das zu Ende in unserem Land. So bleibe ich hier, solange ich kann bleiben."