Die Angst vor einem zweiten Lesbos
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Das einst beliebte Urlaubsziel Gran Canaria ächzt unter der Coronakrise. Es fehlen die Touristen. Gekommen sind andere: Mehr als 11.000 Geflüchtete, die auf das europäische Festland wollen. Spanien lässt das aber nicht zu. Droht ein zweites Lesbos?
Die Flip-Flops schlürfen auf dem Asphalt. Mariame Conde zieht ihre Kapuze weit über die Stirn, so als würde sie sich verstecken wollen. Es ist Mittag und die Hitze hängt über Ingenio. Seit drei Monaten lebt Mariame Conde in der 30.000-Einwohner-Stadt an der Ostküste Gran Canarias, die nach so ganz anderen Regeln funktioniert als ihre Heimat Guinea. Die Hände in den Pullover vergraben läuft die 24-Jährige vorbei an zweistöckigen Häusern. Es sind seltene Spaziergänge:
"Ich kenne hier nichts, ich gehe nicht raus. Ich warte nur, mehr nicht", sagt Mariame Conde, eine junge Frau mit feinen Händen und einem breiten Rücken. In Guinea war sie es gewohnt, hart zu arbeiten. Hier in Ingenio laufen alle Tage immer gleich ab: aufstehen, essen, duschen, essen, schlafen.
Nach der Ankunft heißt es warten
Mariame Conde ist eine von knapp 11.000 Geflüchteten, die dieses Jahr auf Gran Canaria angekommen sind – und die in einer scheinbar endlosen Warteschleife sitzen. Weder in Madrid, noch in Brüssel und schon gar nicht die Provinzregierung hat eine Antwort auf die Frage, wie es mit den Gestrandeten weitergehen soll.
Neun Monate ist es her, dass Mariame Conde mit ihrer fünfjährigen Pflegetochter Aicha geflohen ist. Vier Länder durchkreuzen sie, bis sie Anfang August auf ein Fischerboot steigen. Angekommen auf Gran Canaria hat sie Alpträume:
"In der Nacht habe ich geträumt, wir wären auf dem Wasser. Sie hat mit mir gesprochen, hat meine Hand genommen. Durch das Fenster hat sie mir die Autos gezeigt und hat gesagt: Mama, wir sind nicht mehr auf dem Wasser. Ich habe gesagt: Doch, doch sind wir. Sie hat mich beruhigt: nein, nein."
Mariame Conde kann lange Zeit nicht glauben, dass sie in Sicherheit ist. Aber kaum angekommen wird Aicha von ihr getrennt. Sie ist die Tochter ihrer Schwester. Bis sie eine Geburtsurkunde nachweisen kann, kommt die Fünfjährige zu einer Pflegefamilie. Mariame Conde wird in einem Frauenhaus untergebracht. Eine Hölle des Wartens und des Hoffens.
Wenn sie aus dem Fenster sieht, blickt sie auf das Meer und die Tanker, die vor der Küste Gran Canarias ankern. All die großen Touristenkomplexe liegen auf der anderen Seite der Hügelkette. Auf ihrer Seite, in Ingenio, franst die Stadt in eine kahle Steinlandschaft aus. Wind treibt Müll über Schuttberge. An einer Hauswand steht "Zu verkaufen". Das soll also ihre neue Heimat sein: eine Touristeninsel, die selbst in der Krise steckt.
Seenotretter arbeiten am Limit
Gran Canaria. Für die einen: eine Urlaubsinsel, auf die vor der Pandemie jeden Monat eine Million Touristinnen und Touristen gekommen sind. Für die anderen: ein Sprungbrett Richtung europäischem Festland.
Nirgendwo in Europa kommen gerade so viele Geflüchtete an wie auf den Kanarischen Inseln. Alleine im November haben Boote mit insgesamt über 7000 Personen die Südküste Gran Canarias erreicht. Das hat damit zu tun, dass sich die Fluchtrouten weiter nach Süden verschoben haben.
Puerto Rico, einer dieser Hafenorte an der Südküste: Zwei Mitarbeiter putzen das Deck einer Luxusjacht. Viele Restaurants haben ihre Stühle hochgestellt, als würden sie gar nicht mehr mit Gästen rechnen. Rund um den Hafen ragen mehrstöckige Hotelkomplexe in den blauen Himmel. Wegen der Corona-Pandemie stehen viele dieses Jahr leer.
"Die Bewohner nennen Gran Canaria schon ein neues Lesbos", sagt Manuel Capa und meint damit jene griechische Insel, die zum Symbol der europäischen Migrationskrise geworden ist.
Manuel Capa, 49 Jahre alt, rotes T-Shirt und Havaianas, sitzt in einem Café und blickt hinüber zum Hafen, wo sein Rettungsboot ankert. Seine Haut ist sonnengegerbt, die zusammengekniffenen Augen zeichnen tiefe Falten in sein Gesicht. Müde verrührt Capa Zucker in seinem Kaffee. Nur kurz Pause machen.
Mit einem Holzboot aus dem Senegal
Manuel Capa arbeitet für Salvamento Marítimo: eine staatliche Seenotrettungsorganisation, die auch Mariame Conde und ihre Tochter Aicha gerettet hat. Griffbereit liegt sein Handy auf dem Tisch. "Vor etwa 24 Stunden waren wir hier am Dock, und plötzlich gab es eine Meldung: Patera. Ganz in der Nähe. Tatsächlich lag das Boot etwa 13 Meilen südöstlich von hier, etwa 26 Kilometer."
Bekommt er den Funkruf Patera, weiß Manuel Capa, dass es sich um ein kleines Holzboot handelt. Dann kommen die Geflüchteten aus Marokko. Melden sie Cayuco, so heißen die bunt bemalten Fischerboote, dann kommen die Geflüchteten meist aus Guinea, Mali, Mauretanien oder Senegal.
"Es sind 450 bis 500 Personen alle 24 Stunden. Du gehst um zwölf Uhr nachts raus, kommst um acht Uhr morgens zurück, hast fünf oder sechs oder zehn Pateras abgeholt, je nach Schicht. Irgendwann verändert sich der Schlafrhythmus. Die Essenszeiten sind unregelmäßig. Letztlich vergisst du, welcher Wochentag gerade ist. Es spielt keine Rolle, ob es Montag oder Sonntag ist. Wir verlieren das Zeitempfinden, selbst das Gefühl für die Zahl der Boote, die wir Tag für Tag retten."
Kamen bis August 2019 noch durchschnittlich zwei Personen täglich an, sind es im November über 300 Personen.
Radiomusik schallt aus Lautsprechern. Delphintouren werden auf einem Werbeschild aus besseren Zeiten angeboten. Dahinter schaukelt Manuel Capas orangefarbenes Rettungsboot. Seit wenigen Wochen ankert er an dem Hafen, der sonst eigentlich für Freizeit und Tourismus vorgesehen war. Capa klappt seinen Terminkalender auf. In den Buchdeckel hat er die Distanzen von den Orten aufgeschrieben, an denen die Geflüchteten ablegen.
"Tarfaya, 50 Meilen, 100 Kilometer. Und Dakhla ist ein bisschen weiter unten. Das sind 240 Meilen, fast 500 Kilometer. Und letztlich von Saint-Louis, Nordsenegal, sind es 730 Meilen. Das sind 1400 Kilometer. Sogar mit dem Auto wäre das ermüdend!"
Seine Augenbrauen schieben die Stirnfalten nach oben. Das bedeutet: Mit dem Boot aus Marokko drei Tage, aus Mauretanien fünf Tage und dem Senegal sieben Tage, erklärt Manuel Capa und steckt den Terminkalender wieder unter seinen Arm.
Retten, unterbringen, weitermachen
Demnach waren Mariame Conde und ihre Tochter Aicha drei Tage auf einem Holzboot, weiß Capa. Er holt Tag für Tag die Menschen aus dem Meer, an Einzelne wie Mariame und Aicha kann er sich nicht erinnern und will es vielleicht auch nicht. Er muss weitermachen.
Der Funkruf Cayuco bedeutet für Manuel Capa auch immer eine Vorwarnung, dass die Geflüchteten schon einen langen Weg hinter sich haben, dass sie hier seekrank, dehydriert und hungernd, manche auch verletzt oder tot ankommen. So wie am Tag zuvor:
"Wir haben die Leute rausgezogen, und als das Boot fast leer war, sind drei Personen hinten im Boot übriggeblieben. Sie waren in schlechter Verfassung. Zwei oder drei Männer aus Subsahara haben uns geholfen, die Menschen herauszuholen. Wir haben für sie gesorgt, haben ihnen etwas Wasser und Thermodecken gegeben. Wir haben das Rote Kreuz gerufen und sie an Land gebracht. Danach kehren wir hierher zurück, zum Hafen und beginnen den normalen Alltag hier am Pier, so wie jetzt."
Die Geretteten bringt Manuel Capa nach Arguineguín: ein Nachbarort von Puerto Rico. Es ist meist der erste Ort, an dem die Geflüchteten Europa betreten. Seit diesem Sommer ist er zweigeteilt.
Rechts: ein heller Strand, auf den die Fischer schauen, wenn sie Pause machen. Segel- und Fischerboote aneinandergereiht wie auf einer Postkarte. Es riecht nach Fisch.
Links ragt der asphaltierte Pier in den Hafen wie ein Arm. Darauf das Erstaufnahmelager, abgeschirmt vom Atlantik mit einer meterhohen Mauer. Eine gelbe Absperrung davor. Nur von weitem sieht man die Dixi-Klos, Warteschlangen, weiße Zelte.
Am zweiten August haben die Rettungshelfer auch Mariame Conde und ihre Tochter hier abgesetzt.
"Wir sind angekommen und wurden an Land gebracht, wurden in ein Zelt gesteckt. Sie haben uns Klamotten gegeben. Danach haben sie unsere Fingerabdrücke genommen und uns registriert. Wir haben Kaffee, Kekse und Wasser bekommen. Später haben wir auf dem Boden geschlafen, uns wurden Decken gegeben."
Die Tochter vor Genitalverstümmelung beschützen
Drei Monate später in Ingenio, eine Ausfahrt an der Autobahn, die die Südküste mit der Hauptstadt verbindet. Die geparkten Autos blitzen in der Sonne. Die Augen über der hellblauen Atemschutzmaske zusammengekniffen schlendert Mariame Conde den Hügel hinauf. Immer wieder bleibt sie stehen, hält eine Hand in der anderen und schaut auf den Boden. Eigentlich wollte sie ihre Heimat nicht verlassen, sagt sie.
Aufgewachsen ist sie in Conakry, der Hauptstadt Guineas – ein kleiner Staat in Westafrika mit gerade einmal 13 Millionen Einwohnern. Um ihrer Mutter auf dem Markt zu helfen, bricht Mariame Conde die Schule ab.
Als der Vater stirbt, wissen sie nicht mehr, von was sie leben sollen: sie, ihre drei Geschwister, die Mutter und die fünfjährige Aicha, ihre Nichte, die sie wie ihre eigene Tochter aufzieht. Denn Aichas Mutter stirbt während der Geburt. An den Folgen der Genitalverstümmelung, glaubt Mariame Conde.
Sie lässt sich auf eine Parkbank fallen, faltet ihre Hände im Schoß und blickt über den Spielplatz. Ein großer Baum in der Mitte wirft Schatten auf den Park. Ihre Flip-Flops streift Mariame Conde neben sich ab. Sie sagt, Anfang des Jahres sei die Sorge um die Pflegetochter einer der Gründe gewesen, warum sie geflohen ist.
"Ich habe Aichas Vater angerufen und ihm gesagt, Aichas Mutter habe nicht gewollt, dass Aicha beschnitten wird. Ich würde das nicht zulassen. Das sei nichts Gutes. Wir alle wurden beschnitten. In der Familie ist das Pflicht. Es passiert in der Kindheit. Deshalb will ich Aicha nicht irgendwem überlassen, ich will sie beschützen."
"Ich wollte ihn nicht heiraten"
Über 90 Prozent aller Mädchen in Guinea werden beschnitten. Nach Somalia ist Guinea das Land mit den meisten Genitalverstümmelungen, obwohl sie gesetzlich verboten sind. Fast zwei Drittel aller Mädchen werden zwangsverheiratet, meistens das letzte Mittel, um in Armut lebende Familien zu entlasten. Die Zahlen der Zwangsehen ist in Guinea so hoch wie nirgendwo sonst südlich der Sahara.
"Wenn du erwachsen wirst, wollen sie dass du heiratest. Aber wenn du nicht heiraten willst, machen sie dir Druck, wegen der Religion. Wenn du bei uns stirbst, ohne einen Muslim geheiratet zu haben, beerdigen sie dich nicht. Sie werden nicht für dich beten. Sie werden sagen, dass du eine Prostituierte warst."
Kurz vor ihrer Flucht habe sie einen Partner gehabt, erzählt Mariame Conde. Ihre Mutter mochte den Mann, er hat sie unterstützt. Eigentlich wollten sie heiraten, aber ihre Onkel waren dagegen.
"Sie haben mir einen anderen vorgeschlagen. Ich wäre seine dritte Frau gewesen. Seine älteste Tochter ist 30 oder noch mehr. Sie ist älter als ich. Sein Alter kenne ich nicht, aber alles war schon weiß: sein Bart, alles. Ich wollte ihn nicht heiraten."
Mariame Conde knetet ihre Handinnenflächen. Keine Erinnerungen, über die sie gerne spricht. Sie ist mit Aicha gegangen, ohne ihrer Mutter noch einmal Lebewohl zu sagen.
Sie überlebt, weil sie ihre Periode hat
In jeder Stadt und an jeder Grenze wechseln sie das Auto. Sie durchkreuzen das Konfliktgebiet Mali, die Wüste und Wälder, bis sie den Norden Marokkos erreichen. Von hier trennt das Mittelmeer den afrikanischen Kontinent nur durch wenige Kilometer von Europa. Mariame Conde erinnert sich gut an die Angst:
"Dort war es kalt, sehr kalt. Morgens um fünf sind wir immer los, um in den Wald zu gehen, weil die marokkanische Polizei nach Menschen suchte. Wir sind dort bis 18 Uhr geblieben und haben nichts gegessen."
Was Mariame Conde vorher nicht gewusst hat: Dass Militärschiffe der spanischen Küstenwache und Frontex die Mittelmeer-Passage überwachen. Für sie und die anderen Geflüchteten bedeutet das: kein Durchkommen. Sie wählen die südliche Route und versuchen, über den Atlantik die Kanarischen Inseln zu erreichen.
Beim ersten Versuch werden sie von der marokkanische Küstenwache abgefangen. Während draußen Ramadan gefeiert wird, sitzt sie in Haft, erzählt Mariame Conde. Eine der düstersten Erinnerungen. Eine schönere hat sie auf ihrem Handy gespeichert.
Mariame Conde zückt ihr Smartphone. Das Video zeigt ein paar Männer und Frauen, voller Euphorie posieren sie am Strand in der Nähe von El Aaiún in Westsahara. Es ist April und die jungen Menschen bereiten sich darauf vor, auf ein Boot Richtung Kanaren zu steigen.
Sie waren Teil des selben "Programms", so nennt Mariame Conde die Überfahrt. Sie leben alle zusammen in einem Haus. Die einzige weitere Frau unter ihnen heißt Mariame, wie sie. Sie schlafen nebeneinander, Mariame flicht Aicha Zöpfe, sie freunden sich an.
In dem Video sind sie kurz davor aufzubrechen. Nur Mariame Conde darf nicht mit. "Wenn du deine Periode hast, darfst du als Frau nicht aufs Boot. Das Blut auf dem Wasser ist nichts Gutes." Sie hat es ihrer Periode zu verdanken, dass sie noch am Leben ist. Ihre vier Freunde sterben bei der Überfahrt. Aber das erfährt sie erst später.
Die Überfahrt ist ein Alptraum
Mariame Conde versucht es noch einmal, noch weiter südlich. An Bord: 42 Personen. Es ist ein Donnerstagabend, als sie mit Aicha hoffnungsvoll auf das Boot steigt. Anfangs ist das Wasser ruhig.
"Am Freitag um neun Uhr war klar, dass wir auf spanischem Gewässer sind. Das marokkanische Wasser ist schwarz. Wenn du das Wasser komplett blau siehst, ist es das spanische Wasser. Das ganze Wasser war blau. Ich war glücklich. Ich habe zu den Fahrern gesagt, dass sie anrufen sollen, damit sie uns die Küstenwache schicken. Sie haben gerufen: Nein, nein, wir fahren bis Amerika! Wir sind schnell gefahren, weil wir das blaue Wasser erreicht haben. Ich habe gesagt: Hey Bruder, ich will nicht nach Amerika fahren, ich will nach Spanien! Ruft endlich an, ich will nach Spanien! Sie haben gerufen: Nein, nein, nein, benimm dich! Du bist nicht die Einzige hier, da sind noch mehr Frauen, sie sind alle still! Du bist die Einzige, die spricht. Benimm dich! Dann habe ich die Klappe gehalten."
Freitagabend dann sei das Meer turbulenter geworden. Sie habe Angst bekommen, sagt sie etwas leiser. Die Bootsführer sprechen untereinander Malinke, eine der über 20 Landessprachen Guineas. Nur Mariame Conde kann verstehen, was sie flüstern: Dass sie nicht mehr wissen, wohin das Boot steuert. Sie ist diejenige, die es ausspricht.
"In der Nacht habe ich gewusst, dass wir verloren waren. Ich haben den anderen gesagt: Wir werden alle auf dem Wasser sterben. Am Samstag wurde das Wasser noch wilder. Wir haben nicht einmal gewusst, wo wir waren, und das war es. Dann haben wir drei Boote gesehen, große Boote. Aber sie haben uns nicht gerettet und nicht aufgenommen. Niemand hatte mehr Hoffnung. Alle haben Gottes Namen gerufen."
Das Beten scheint zu helfen. Am Tag drei der Überfahrt, Samstagnacht, kreist ein Helikopter über ihnen. Panisch paddeln sie mit den Händen. Sie schalten ihre Handys an, um mit Lichtzeichen auf sich aufmerksam zu machen. Wenig später erscheint das orangefarbene Schiff von Salvamento Marítimo. Zuerst holen sie die Frauen und Kinder vom Boot. Sie habe den ganzen Sonntag vor Freude geweint, sagt Mariame Conde.
Aber angekommen in der vermeintlichen Sicherheit, wird ihr Aicha weggenommen. Bis sie belegen kann, dass sie ihre Nichte ist, kann sie die Fünfjährige nur besuchen. Es sind schwere Tage, wenn sie Aicha vermisst. Aber es gibt auch gute Tage.
"Migration ist kein Verbrechen"
Einer davon ist ein bewölkter Vormittag, Mitte November. Mariame Conde hat sich schick gemacht. Im Wind flattert ihr Leoparden-Kleid. Breitbeinig steht sie auf dem Gehsteig, vor der großen Kurve und wartet. Mit ihr viele andere junge und ältere Menschen. Sie hält ein Plakat in der Hand. "Migration ist kein Verbrechen", steht darauf.
Neben Mariame steht ihre Freundin Mabinty Toure. Sie ist auch aus Guinea geflohen und lebt auch im Frauenhaus. Sie hält das Megafon fest in der Hand. "Es ist das Leiden, das uns von unserem Zuhause vertrieben hat! Wir sind gegangen, um dieser Armut zu entfliehen!"
Mariame Conde lacht und wirft den Kopf nach hinten. Sonst haben die Freundinnen das Gefühl, zu laut zu sein, sich ducken zu müssen, bloß nicht zu sehr auffallen. Jetzt sind sie ausgelassen. Sie haben etwas zu sagen.
Immer mehr Autos drehen hupend eine Schleife auf dem Parkplatz, bis sie vor den Versammelten stehen bleiben. Am Morgen ist die Karawane aus der Hauptstadt Las Palmas gestartet. Eine Demonstration in Zeiten von Corona. Im Auto und so mit genug Abstand fahren sie die Ostküste entlang. Die Plakate haben sie an die Fensterscheiben geklebt. Das Ziel: die Südküste, dort wo die meisten Geflüchteten ankommen.
Demonstration und Gegendemonstration
Hinter ihrem Lenkrad versinkt Koldobike Velasco, Outdoorhose und kurzer Pony. Die Haare mehr grau als schwarz, reckt sie sich aus dem Fenster, um den Demonstrierenden zu winken. Fast jeder kennt sie. Sie hat den Protest mitorganisiert, erzählt sie und manövriert ihr Auto aus der Menge.
"Wir fordern, dass die Menschen Papiere bekommen und damit legalisiert werden und sichere Migrationswege, damit sie weiterkommen, dorthin, wo sie hinwollen, und nicht hier gefangen bleiben. Die wenigsten wollen auf den Kanaren bleiben. Was viele Menschen brauchen, ist ein Sprungbrett zum Kontinent."
Koldobike Velasco ist Sozialwissenschaftlerin an der Universität Las Palmas. Nebenbei leitet sie das Bündnis für Flüchtlingshilfe. Sie ist auf Gran Canaria aufgewachsen, in einer Familie, in der ihr mitgegeben wurde, dass Migration normal ist: ein universelles menschliches Bedürfnis.
"Wir müssen uns daran erinnern, dass Gran Canaria vor der Pandemie jeden Monat über eine Million Touristinnen und Touristen empfangen hat. Deshalb ist die touristische Infrastruktur enorm. Wenn die ankommenden Personen weiß sind, wenn sie reich sind, würden ihnen sicherlich die besten Konditionen angeboten werden. Aber weil sie schwarz sind und arm, sind sie formal in einem illegalen Status. Sie werden verhaftet und eingesperrt, an irgendwelchen Orten unter prekärsten Bedingungen. Es fehlen Rechtsbeistand, Gesundheitsversorgung, soziale Zuwendung, Übersetzung."
Eine Paradies der Ungleichheit, nennt Koldobike Velasco die Situation, auch für die Bevölkerung Gran Canarias. Jede vierte Person auf den Kanarischen Inseln ist arbeitslos, über 60 Prozent der Jugendlichen. Im Vergleich liegt im spanischen Durchschnitt die Arbeitslosenquote bei 16 Prozent. Die Leute hier leben in ständiger Abhängigkeit vom Tourismus.
"Es ist eine permanente Schieflage, sie ist strukturell. Zu dieser Schocksituation, die wir auf den Kanaren erleben, kommt hinzu, dass es keine gesteuerte Migrationspolitik gibt."
Aber die Reaktionen sind unterschiedlich. Im Schritttempo fährt die Karawane in Arguineguín ein, vorbei an einer Palmenallee. An den Fenstern und Balkonen sitzen die Bewohner.
"Sucios" schreien sie aus den Fenstern, zu Deutsch: "Ihr Dreckigen". Koldobike Velasco biegt links ab, zum letzten Treffpunkt der Demonstration. Am Rande des Parkplatzes wartet schon die Gegendemonstration auf sie. Sie ist vorbereitet. Nur nicht auf die Provokation eingehen.
Eine spanischen Flagge weht über den Köpfen von etwa 20 Personen. Sie stehen am Rande der Kundgebung und brüllen in die Menge. Mit ausgestrecktem Finger schreitet einen Frau auf die Demonstration zu. "Nehmt sie mit nach Hause und beherbergt sie alle!", ruft sie wütend. Als Steine fliegen, schreitet die Polizei ein.
Gran Canaria fühlt sich alleingelassen
Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, im Schatten ihres Hauseingangs, sitzt Maria Dolores und beobachtet die Szenerie. Den Kopf hält sie in die Hand gestützt.
"Ich weiß nicht, was hier gerade passiert. Hier kamen immer Boote an. Aber niemals so viele wie jetzt: diese Lawine, mit so einer Frequenz, Tausende von Menschen."
Eigentlich ist Maria Dolores Putzfrau. Wegen der Corona-Pandemie hat sie gerade keine Arbeit. Und auch ihrem Mann und ihren Kindern wird das Leben schwergemacht. Sie sind Seemänner. Normalerweise ankern sie im Hafen. Aber dort sind jetzt die Geflüchteten. Das geht so nicht, findet sie, möchte aber nicht falsch verstanden werden.
"Als aller Erstes: Wir sind keine Rassisten. Jeder, der auf die Kanarischen Inseln gekommen ist, wurde willkommen geheißen. Viele leben hier, viele Ausländer, viele Norweger, Deutsche. Ich arbeite mit Touristen in der Hotelbranche, und wir haben sie alle sehr gut aufgenommen. Aber das wird hier gerade zu viel! Tausende von Menschen sind eingetroffen. Das bedeutet: Ihnen muss geholfen werden! Das können wir nicht."
Etwa 2000 Einwohner leben in Arguineguín: ein Fischerort auf einer Landzunge, die engen Gassen führen sternförmig Richtung Meer. Die Bewohner leben vom Fisch und vom Tourismus. An diesem Novembermorgen gibt es mehr Geflüchtete als Einwohner in dem Ort, eingesperrt im Erstaufnahmelager.
Fast alle leben vom Tourismus
Mitarbeiter des Roten Kreuzes, Anwälte, die Polizei, sie alle passieren den Parkplatz vor dem Erstaufnahmelager. Durch die Menge schiebt sich eine Frau mit schnellem Schritt und roten kurzen Haaren.
"Ich bin Bürgermeisterin einer touristischen Region, in der eine Migrationskrise beginnt, und ich habe keinen Einfluss. Im Gegenteil, wenn ich Einfluss hätte, würde das hier an diesem Hafen nicht existieren."
Onalia Bueno ist wütend. Vorbei an Kamerateams schlängelt sie sich nach vorne, gebeugt sich bis zur gelben Absperrung. Dahinter: eine Gruppe Anwälte, die sich ein Bild von der Lage machen wollen.
Onalia Bueno kontert die Vorwürfe. Was kann sie dafür? Von der EU und von der spanischen Regierung fühlt sie sich alleingelassen. Aus Madrid heißt es, die Geflüchteten werden nicht auf das Festland gebracht, um keine Anreize zu schaffen.
Aber wohin mit den über 7000 Geflüchteten, die alleine in diesem Monat angekommen sind? Leerstehende Hotels zu nutzen, das ist für die Bürgermeisterin keine Alternative auf Dauer. Die Insel lebt vom Tourismus, nicht von der Migration. "Der Tourismus ist also für uns die wichtigste wirtschaftliche Quelle. Wir müssen also eine Balance zwischen beiden Dingen finden."
Kein Festland in Sicht
Alle hier möchten eigentlich das Gleiche: die Bürgermeisterin, die Männer und Frauen im Dorfzentrum, die Seenotretter, die Geflüchteten: Die Regierung auf dem spanischen Festland soll helfen und die Gestrandeten aufnehmen. Mariame Conde geht sogar mit den anderen auf die Straße dafür. Sie will weiter, bloß nicht hier festsitzen. Aber die Euphorie, die sie Tage zuvor bei der Demonstration gepackt hat, ist schnell wieder verflogen.
Langsam geht sie vorbei an einem Spielplatz, auf dem sich scheinbar glückliche Familien tummeln, vorbei an Frauen, die ihre Hunde ausführen, vorbei an Kindern, die das Fahrradfahren üben. Das ganz normale Leben – für sie noch weit entfernt.
"Ich musste gehen, ich habe die Entscheidung getroffen. Wenn meine Mutter gewusst hätte, dass ich fliehen würde, hätte sie Nein gesagt."
Der Vater ihrer Pflegetochter Aicha aber habe damals gesagt, nimm sie mit. Überall dort, wo du bist, wird Aicha es gut haben. Hat er recht gehabt?
Mariame Conde vergräbt ihre Hände in dem viel zu großen blauen Kapuzenpulli. Nach ihrer Rettung hat sie ihn vom Roten Kreuz bekommen. Sie erinnert sich, wie glücklich sie war, überlebt zu haben. Fast 2000 Kilometer liegen zwischen ihrer alten Heimat Guinea und dem Frauenhaus, in dem sie jetzt wohnt. Für ein besseres Leben für sich und Aicha ist Mariame Conde einen weiten Weg gegangen. Sie wird nicht aufgeben. Sie hofft und demonstriert und wartet weiter.