Geflüchtete Frauen in Italien

Erst Prostitutions-Hölle, dann Abschiebung

Verzweifelte Sprüche auf den Türen des Frauen-Abschiebezentrum "Ponte Galeria" am Stadtrand von Rom.
Sprüche im Frauen-Abschiebezentrum "Ponte Galeria" am Stadtrand von Rom. © Von Jan-Christoph Kitzler
Von Jan-Christoph Kitzler |
Junge Frauen, die aus Westafrika nach Europa geflüchtet sind, stehen in Rom und Mailand an den Ausfallstraßen. Sie verkaufen Sex. Nicht freiwillig: Viele von ihnen sind wegen der Reise verschuldet. Werden sie aufgegriffen, landen sie oft im Abschiebezentrum.
Für viele Frauen ist das hier die Endstation. Im Niemandsland, am Stadtrand von Rom, Richtung Flughafen sind sie eingesperrt. Hinter hohen Mauern, grauen Stahltoren. Innen gibt es abgetrennte Innenhöfe, wie Auslaufgehege, an einer Wand steht: "Fuck Nigeria".
Dort sind auch die Eingänge zu den dunklen Räumen, wo jeweils mehrere Frauen zusammen leben. Die Einrichtung: nackter Beton, Neonlicht.
Eisenzäune und Betonmauern des Frauen-Abschiebezentrum "Ponte Galeria" außerhalb Roms.
Tristes Frauen-Abschiebezentrum "Ponte Galeria" außerhalb Roms.© Jan-Christoph Kitzler
CIE nennt sich dieser Ort im Verwaltungsitalienisch: Centro di identificazione ed esplusione, also Zentrum für Identifizierung und Abschiebung. Endstation für die meisten. Wohl auch für Musa Joy Amina – die junge Frau muss wahrscheinlich zurück nach Nigeria. Für sie ist das die Hölle:
"Ich weiß nicht, wohin. Ich würde gern in mein Land zurück, doch es ist sehr hart dort. Zu viel Krieg. Ich hatte Angst, ich wollte nicht sterben. Meine vier Brüder sind in diesem Krieg gestorben. Mein Vater auch, meine beiden kleineren Brüder. Wenn du die Möglichkeit hast, dann fliehst du. Die Angst ist zu groß. Ich war ein Baby, als das angefangen hat, und ich trage diese Angst noch in mir. Manchmal, wenn ich schlafe, träume ich davon."
Neben anderen sind gerade ein paar Dutzend Nigerianerinnen hier in diesem einzigen Abschiebezentrum nur für Frauen. Sie scheinen eher zufällig hier gelandet zu sein. Von der Polizei aufgegriffen. Die meisten dieser Frauen werden noch einmal zu Opfern. Fast alle waren Prostituierte, ausgebeutet auf einem gnadenlosen Markt standen sie Wochen, Monate, Jahre an den großen Ausfallstraßen der Städte. Hier sind sie nun zusammengepfercht mit anderen Frauen mit anderen Geschichten.

"Diese Lager sind eine Müllhalde"

Luigi Manconi ist heute gekommen. Der stark sehbehinderte Senator vom Partito Democratico ist Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im Senat – und voller Wut:
"Personen, die Opfer des Menschhandels sind, die in Italien für den Markt der Prostitution bestimmt waren und praktisch in Sklaverei gehalten wurden, sind hier zusammengepfercht mit Menschen, die schlimme Straftaten begangen haben. Eingeschlossen wie in einem Gefängnis. Diese Lager sind im Prinzip eine Müllhalde, wo die Unglücklichsten der Unglücklichen, die Ärmsten der Armen, die Schwächsten der Schwachen abgeladen werden."
Fragt man die Frauen, die aus der Hölle der Prostitution hier gelandet sind, dann hört man viel Resignation. Happy Idahosa ist schon seit ein paar Wochen in diesem Abschiebezentrum - sie weiß immer noch nicht, wie ihr geschieht:
"Ich brauche meine Papiere und meine Freiheit. Das hier ist wie Libyen. Da gibt es keinen Unterschied. Ich bin müde. Ich will frei sein. Ich weiß nicht, warum ich hier an diesem Ort bin. Wenn sie mir sagen würden, was ich getan habe, dann wäre ich froh."

80 Prozent landen in Prostitution

Man kann nur schätzen, wie viele Frauen aus Nigeria tagein tagaus auf Italiens Straßen stehen. Tausende, Zehntausende, sagen Experten. Das Bild von der Migrationskrise wird geprägt von den jungen Männern, aus Staaten südlich der Sahara, auf den Booten auf dem Mittelmeer.
Flüchtlinge schauen auf einem Schiff durch die Stangen der Reeling
Geflüchtete auf einem Schiff im Hafen von Palermo.© Alessandro FUCARINI / fucarini / AFP
Aber 2016 sind auch rund 11.000 Frauen aus Nigeria in Italien angekommen. Fachleute schätzen, dass 80 Prozent von ihnen in der Prostitution landen. Über 8000. In einem Jahr.
"Das Schicksal praktisch aller ist die sexuelle Ausbeutung. Und das beginnt schon, bevor sie die italienische Küste erreichen. Viele von ihnen werden schon in Libyen sexuell ausgebeutet und selbst die, die das dort nicht erleben, erzählen von schlimmer Gewalt und schwerem Missbrauch während der Reise."
Carlotta Santarossa arbeitet in Rom für die Internationale Organisation für Migration, kurz IOM, und hat gerade einen Bericht zum Menschenhandel veröffentlicht. Sie sagt, dass sich das Problem in den letzten drei, vier Jahren noch einmal deutlich verschärft hat. Der Markt der Prostitution will immer mehr Ware aus Afrika. Und die Menschenhändler haben ein grausames Geschäft aufgezogen:
"Der Weg geht über mehrere Etappen. Die Frau wird in Nigeria rekrutiert, nach Libyen gebracht und von dort nach Italien. In den letzten Monaten sind viele unterwegs festgesetzt und nach Libyen zurückbracht worden. Dort müssen die Mädchen dann jemanden finden, der sie aus dem Lager befreit, wo sie leben. Durch den längeren Aufenthalt in Libyen werden sie immer verwundbarer und dadurch geraten sie leicht ein weiteres Mal in die Hände der Schlepper."
Bei diesem Thema muss man die Dinge beim Namen nennen. Deswegen sind die Frauen das, was sie in der schrecklichen Logik der Menschenhändler sind: eine Ware. Ausbeutung der Frauen meint: sexuelle Ausbeutung. Sex in allen denkbaren und undenkbaren Formen, für sehr wenig Geld:
"Viele Frauen werden auf den Strich geschickt, damit sie die Reise bezahlen können. Einige müssen schon in Libyen anschaffen gehen, andere noch nicht, weil sie - entschuldigt diesen hässlichen Ausdruck - für den italienischen oder europäischen Markt bestimmt sind. Deshalb werden sie während der Reise verschont."

Angelockt mit dem Angebot zu arbeiten

Blessing Okoedion war so ein Fall. Sie kommt aus dem Bundesstaat Edo, im Süden Nigerias. 30 Jahre ist sie alt, seit vier Jahren in Italien. Alles begann für sie mit dem Traum von Europa:
"Sie haben mir gesagt, ich soll hier herkommen und arbeiten. Die Frau, die mir den Vorschlag gemacht hat, hat meinen Lebenslauf gesehen. Die Frau hat gesagt, ich könnte für sie arbeiten und deshalb bin ich hergekommen, um zu arbeiten!"
Die 30-jährige Nigerianerin Blessing Okoedion sitzt in einem Zimmer.
Die Nigerianerin Blessing Okoedion konnte aus der Prostitution in Italien entkommen.© Jan-Christoph Kitzler
Blessing landete in Castelvolturno bei Neapel. Der Ort gilt als einer mit der höchsten Dichte an afrikanischen Migranten in Italien. Und Blessing begriff sofort, dass das, was hier von ihr verlangt wurde, mit ihrem Traum von Europa nur wenig zu tun hatte:
"Auf der Straße fragte ich die Mädchen nach einem Ausweg. Es war auch gefährlich die anderen Mädchen zu fragen. Da war auch die Frau, die mir beibringen sollte, wie man sich prostituiert. Sie ging auch anschaffen. Doch ich konnte nicht still halten. Das Leben, das Nigerianerinnen hier leben, ist nicht das Leben, das wir in Nigeria leben."

Menschenhändler verlangte 65.000 Euro

Sie war verzweifelt, auch wegen der Schulden. Die Menschenhändler verlangten von ihr gigantische Geldsummen für die Reise nach Europa. Das Geld sollte sie in jahrelanger Prostitution auf dem Strich verdienen:
"Als sie mir gesagt, haben: Du musst uns 65.000 Euro bezahlen, war mir klar, dass ich in die Hände von Menschenhändlern gelangt war. Ich habe mich sofort gefragt, wie ich da raus komme, wer mir helfen kann - in einem fremden Land mit einer fremden Sprache - was ich tun konnte, um mich zu befreien."
Blessing ist ein Sonderfall: Während sich viele andere Frauen in Ihr Schicksal fügen und nicht die Kraft haben, sich zu wehren, wollte sie einfach nur weg.
"Als ich hier angekommen bin, haben sie mir gesagt, dass die einzige Arbeit hier die Prostitution sei. Das hatte ich nicht erwartet. Ich wollte nicht in Sklaverei leben. Ich wollte nicht meinen Körper benutzen, um Kriminelle und ihre Familien zu bereichern. Also habe ich Anzeige erstattet."
Das hat sie viel Mut gekostet, dafür hat sie sich in große Gefahr gebracht. Aber am Ende ist sie ausgestiegen. Jetzt ist sie frei.

"Das Geschäft der nigerianischen Mafia"

Auch Isoke Aikptani ist der Hölle entkommen. Seit 17 Jahren ist sie in Italien. Jetzt sitzt sie im Hafen von Genua und erinnert sich an ihren ersten Tag als Prostituierte.
"Die ersten Tage auf dem Strich waren die Hölle. Ein Polizeiauto hielt am ersten Tag an. Ich dachte, das wäre meine Rettung. Doch das war nur eine Illusion. Alle Mädchen liefen weg, als der Polizeiwagen hielt. Ich bin da geblieben. Sie fragten mich: Warum läufst Du nicht auch weg? Ich antwortete nur: "Heute ist mein erster Arbeitstag."
Irgendwann ist sie abgehauen, hat die Flucht ergriffen vor den Menschenhändlern. Leicht war das nicht: Ohne die Sprache gut zu kennen, ohne Geld, ohne Unterstützung. Und die Menschenhändler haben sie gejagt:
"Um dem zu entfliehen, bin ich von der nigerianischen Mafia, die dieses Geschäft in den Händen hat, fast getötet worden. Faustschläge und Fußtritte. Das Gesicht, die Augenlider, fast hätte ich ein Auge verloren. Das Glück im Unglück war, dass ich noch lebte."

Früher Freier, heute Ehemann

Neben Isoke sitzt Claudio, ihr Mann. Claudio und Isoke sind ein ungleiches Paar. Sie, die aufrechte, große Afrikanerin, er der kleine, etwas ältere, kauzige Typ mit dem norditalienischen Akzent.
Die Nigerianerin Soke Aikptani und ihr Ehemann Claudio Mangabosco, den sie als Freier kennen lernte.
Soke Aikptani und ihr Ehemann Claudio Mangabosco.© Von Jan-Christoph Kitzler
Claudio war mal ein Freier, einer der Isoke für Sex bezahlt hat. Inzwischen kämpft er an der Seite seiner Frau dafür, möglichst viele Prostituierte aus der Sklaverei zu holen. In mehreren Städten Italiens hat das Paar Wohnungen angemietet, wo die Frauen untertauchen können. Über 100 haben sie bisher betreut. Als Italiener erlebt Claudio jeden Tag, wie schwer es den Nigerianerinnen gemacht wird:
"In Italien sind die Nigerianerinnen keine normalen Menschen. Nigerianerin ist gleich Prostituierte. Eine nigerianische Psychiaterin in Turin, eine Juristin, die ihren Abschluss an einer Päpstlichen Universität gemacht hat. Eine Vielfältigkeit wie im Rest der Welt, das ist nicht möglich! Deshalb dürfen die Opfer des Menschenhandels auch keine Ausbildung machen. Sie müssen weitermachen. Sie haben keine Alternative, denn sie bekommen keine Anerkennung."
Claudio und Isoke haben die Erfahrung gemacht, dass es oft schwer ist, die jungen Frauen dazu zu bewegen, auszusteigen. Denn das System ist perfide. Die Not, die gewaltigen Schulden von 40, 50, 60.000 Euro abbezahlen zu müssen. Und die meisten Frauen werden mit dem Glauben an den Vodoo-Zauber, den hier in Europa kaum jemand versteht, in Schach gehalten.
"Viele von diesen Mädchen, besonders die kleinen, die jetzt ankommen, werden dem Voodoo-Ritual unterzogen. Das Voodoo-Ritual ist nicht nur ein angsteinflössender Zauber, der sie gefügig macht. Es ist eine regelrechte Gehirnwäsche. Sie kommen an und sind überzeugt, dass sie den Leuten gehorchen müssen, die sie ausbeuten. Sie sind überzeugt, dass sie einen heiligen Schwur abgelegt haben, der sie zu einem bestimmten Verhalten zwingt."

"Vodoo-Zauber" verhindert Ausstieg

Ein Schwur, der bis in die Heimat wirkt. Weil die Menschenhändler genau wissen, wo die Familien der Mädchen wohnen, drohen sie offen damit, den Eltern, Geschwistern, Großeltern in der Heimat etwas anzutun. Auch Carlotta Santarossa von der Internationalen Organisation für Migration hat viele Frauen getroffen, die sich wegen des Vodoo-Zaubers nicht trauen auszusteigen.
"Die Mädchen werden sehr oft diesen Ritualen unterzogen, eigentlich immer bevor sie auf die Reise gehen. Mit diesen Ritualen verpflichten sie sich, ihre Schleuser nicht zu verraten, mit niemanden zu sprechen, nicht zur Polizei zu gehen. Bei den Ritualen werden Schwüre gesprochen, Haare und Nägel abgeschnitten. Und die Mädchen sind verrückt vor Angst den Schwur zu brechen."
Und so bleiben etliche auf dem Strich. Als Sexsklavinnen mitten in Europa. Vor den Augen aller bieten sie sich an. Ihre Körper sind zur Ware geworden, und ihre Seelen sind gebrochen. Carlotta Santarossa hat viele, im wahrsten Sinne des Wortes, kaputte Frauen getroffen.
"Die sexuelle Dienstleistung, die man für 10 Euro auf dem Strich kauft, hat einen enormen menschlichen Preis, auch die Kosten für die Gesellschaft sind hoch. Denn diese Menschen wieder in die Gesellschaft zurückzuholen, ihnen ihre Würde, ihr Vertrauen in sich zurückzugeben, kostet sehr viel."

Hilfshotline für Opfer sexuellen Missbrauchs

Ernesto Caffo zu treffen ist nicht ganz einfach. Der Psychiater ist Professor an der Universität von Modena und Reggio Emilia. Schon vor 30 Jahren hat er in Italien das "Telefono Azzurro" gegründet, eine Hilfshotline für Opfer sexuellen Missbrauchs. Nigerianerinnen rufen kaum an, so seine Erfahrung: mangelnde Sprachkenntnisse, Angst, es gibt so viele Gründe. Dabei brauchen die Opfer der sexuellen Ausbeutung seiner Meinung nach dringend Hilfe:
"Auf der einen Seite verlieren sie alle emotiven Fähigkeiten und auch die kognitiven. Es gibt also kein Interesse mehr zu lesen, sich auszutauschen, über etwas zu sprechen. Es geht darum zu funktionieren und die sozialen Kontakte sind sehr eingeschränkt. Oft organisieren andere die Kontakte. Diese Leute sind nicht selbstständig, sind vom System abhängig. Das ist es, was die Menschenhändler wollen: zerbrechliche Menschen, die manipuliert und benutzt werden können, solange sie nützlich sind. Danach werden sie ausgeschlossen."
… man könnte auch sagen, weggeworfen. Aber Professor Caffo, ein vornehmer, älterer Herr vermeidet solche Ausdrücke.
Man kann sich nur schwer vorstellen, in welchem Zustand die Frauen von Ihren Schleppern freigelassen werden. Denn auch das kommt vor. Immer wieder schaffen es einige Frauen, ihre Schulden abzubezahlen. Nach Jahren auf dem Strich. Dann spuckt sie das kriminelle Netzwerk aus, in die italienische Gesellschaft:
"Das große Problem ist, dass diese Heranwachsenden, diese Frauen nach einigen Jahren schwer zu resozialisieren sind, trotz intensiver Therapien. Es handelt sich tendenziell um Personen mit sehr wenigen eigenen Möglichkeiten, die immer von einem System abhängen und ein Leben voller Leid, Mühe und Schmerz für normal halten. Und das hat Auswirkungen auf ihre Kinder und die Gemeinschaft, in der sie leben."

Auch Minderjährige werden "benutzt"

Caffo spricht von Heranwachsenden. Denn viele der Nigerianerinnen, die auf Italiens Straßen stehen, sind noch halbe Kinder. Gerade in letzter Zeit scheinen die Menschenhändler noch mal mehr Geld zu machen, indem sie immer jüngere Frauen auf den Strich schicken.
"Aus Nigeria kamen als erstes viele sehr junge Mädchen. Sie wurden hier her verschleppt und schon im Herkunftsland und auf der Reise immer wieder geschlagen und vergewaltigt. Sie werden für die Prostitution benutzt, auch als Minderjährige."
Claudio, der Mann von Isoke, war früher selbst Kunde dieses unmenschlichen Marktes. Heute hilft er den jungen Frauen immer wieder in Nacht- und Nebelaktionen bei der Flucht. Und auch er erlebt dabei, wie kaputt sie sind:
"Diese Mädchen sind dermaßen versklavt, dass die Prostitution nur ein Aspekt ihres schlimmen Lebens ist. Diese Mädchen müssen wieder aufgebaut werden. Oft kommen kleine Mädchen, Kinder."
Auch Charlotta Santarrossa, Expertin für den Menschenhandel, hat beobachtet, dass sich der Markt in den letzten Monaten noch einmal verändert hat, noch härter geworden ist:
"Wir wissen nichts über die Nachfrage. Wir bekämpfen die Prostitution in Italien nicht direkt. Wir kümmern uns um die Menschen, die über das Meer ankommen. Wir haben also keinen Überblick darüber, was danach passiert. Wir sehen allerdings "das Angebot" - eine schreckliches Wort! Wir beobachten, dass immer jüngere Mädchen ankommen. Das lässt darauf schließen, dass der Markt immer jüngere Mädchen fordert und das ist dramatisch."

2,5 Millionen Männer in Italien gehen zu Prostituierten

Das liegt an den Kunden: Mindestens 2,5 Millionen Männer in Italien gehen regelmäßig zu Prostituierten. Einige von ihnen verlangen offenbar immer jüngere Ware verlangen zahlen dafür auch mehr Geld. Für die Menschenhändler ist es aber auch einfacher, die ganz jungen Frauen nach Europa zu schleusen und hier unter Kontrolle zu halten, sagt Santarossa:
"Ganz klar sind jüngere Mädchen auch leichter zu manipulieren, sie sind verletzlicher, leichter hinters Licht zu führen. Leider sind die Familien oft in den Handel involviert. Sie überzeugen die Mädchen, sich auf die Reise zu machen - mit Lügen, mit Täuschungen, mit den üblichen Versprechen: zur Schule zu gehen, eine Ausbildung als Friseurin oder Kosmetikerin oder irgendeinen Beruf zu machen. Es ist einfacher, sie zu überzeugen, sie sind jünger und vertrauen der Familie mehr. Und wir haben erlebt, wie schmerzhaft es für sie ist, wenn sie begreifen, dass sie hintergangen und von ihren Familie verkauft worden sind."
Doch wie funktioniert das Kriminelle Netzwerk der sexuellen Ausbeutung? In der Regel haben Banden aus Nigeria die Fäden in der Hand. Von der Rekrutierung der Frauen in ihren Heimatdörfern, über die Reise bis nach Libyen, die Überfahrt nach Italien – bis zur eigentlichen Prostitution am Straßenrand ist alles organisiert.
Eine Schlüsselrolle in Italien spielen die so genannten "Madames". Nigerianische Frauen, die früher oft selbst Prostituierte waren, und die sich dann irgendwann ein paar Mädchen gekauft haben, die sie für sich anschaffen lassen. Blessing Okoedion hat das am eigenen Leib erfahren - die Madame spielt im Leben der Frauen die Schlüsselrolle:
"Es ist die "Madame", die sie ausbeutet, die entscheidet, wann sie frei gelassen wird. Das Mädchen kann nicht sagen: Schau, ich habe meine Schulden abgearbeitet. Das, was das Mädchen sagt, zählt nicht. Was zählt ist, was die "Madame" sagt."
Die "Madames" halten den Betrieb am Laufen. Kümmern sich um die Mädchen, zeigen ihnen, wie das Geschäft läuft und halten sie in ständiger Abhängigkeit, unter Druck, sagt Charlotta Santarossa:
"Die Madames gehören zu der kriminellen Organisation. Manchmal sind sie anfangs selbst Opfer gewesen, haben sich losgekauft und dann die Funktion gewechselt. Die Madame spielt eine Rolle im direkten Kontakt mit den Mädchen. Sie hat manchmal sogar Kontakt zu der Familie zu Hause. Man darf nicht vergessen, die Mädchen haben nicht nur Angst um sich selbst, oft haben sie große Angst um ihre Familie und deshalb wollen sie keine Anzeige erstatten. Die Menschenhändler, wissen, wo sie wohnt, wo sie lebt, wer dazugehört. Die Mädchen haben also starke Angst vor Rache, wenn sie Anzeige erstatten."
Und für Claudio Mangabosco, der vom Freier zum Befreier der Frauen geworden ist, sind die Madames auch einer der Gründe, warum es so schwer ist, den Teufelskreis, dieses perverse Geschäft zu durchbrechen.
"Die meisten Madames waren Mädchen, die selbst ausgebeutet wurden und die, als sie ihre Schulden abbezahlt hatten, weiter auf den Strich gegangen sind oder sich ein Mädchen gekauft haben und es selbst ausgebeutet haben. Diese perverse Mentalität hat sich bei ihnen eingenistet. Sie sehen keine andere, positivere Art zu leben."

Organisation zur Beratung von Frauen

Eine Pressekonferenz in Rom im letzten März. Ein kleines Zeichen dafür, dass sich doch etwas ändern kann. Princess Okokon ist heute gekommen, um zu sprechen. Auch sie war früher auf dem Strich, auch sie ist nur mit Mühe rausgekommen. Sie hat eine Organisation gegründet und versucht mit ihren Mitstreitern, die Frauen zu beraten.
Princess Okokon sitzt auf einem Ledersofa, trägt eine braun-grüne Bluse und lächelt in die Kamera.
Princess Okokon war früher selbst Prostituierte und berät nun geflüchtete Frauen diesen Weg nicht einzuschlagen.© Jan-Christoph Kitzler
Sie geht in die Aufnahmezentren, dorthin, wo die Nigerianerinnen sich treffen und versucht, die Frauen vom Vodoo-Zauber abzubringen, versucht zu erklären, dass die "Madames" nicht wie gute Mütter sind, die sich um die Frauen kümmern, sondern ein wichtiger Teil der Kette der Ausbeutung. Princess Okokon sieht nicht aus, als habe Sie Angst. Aber sie geht ein Risiko ein, immer wieder wird sie bedroht. Sie war schon mal für eine Woche im Krankenhaus, wegen dem, was die Menschenhändler ihr angetan haben:
"Sehr gefährlich. Sehr, sehr. Die Menschenhändler wissen dass ich sie bekämpfe und haben Angst, Geld zu verlieren. Natürlich ist das gefährlich."
Princess träumt davon, den Menschenhändlern das Geld abzugraben. Denn so lange das Geschäft mit der Prostitution ein riesiger Markt ist, ein Millionengeschäft, solange wird es auch weitergehen.
"Meine Aufgabe ist es, die Mädchen zu überzeugen, gar nicht erst mit der Prostitution anzufangen und nicht zu bezahlen. Wenn es mir gelingt, können wir die Mädchen aufhalten und die Menschenhändler verlieren ihr Geld. Wenn du dann keine Ware mehr anbieten kannst, und kein Geld mehr hast, dann musst Du aus diesem Geschäft aussteigen."

Polizei muss über Ländergrenzen kooperieren

Immer wieder fragt sich die großgewachsene, energische Frau, wo die jungen Prostituierten in Sicherheit sind. Auf der Straße, in den Wohnungen, die die Madames anmieten, sind sie es nicht. Aber selbst in den staatlichen Einrichtungen sind die Opfer des Menschenhandels in Gefahr, sagt Princess:
"In den Erstaufnahmezentren gibt es auch Spitzel unter den Mitarbeitern. Die Menschenhändler rufen an und fragen, wen habt Ihr bei euch? Sie zahlen 200 Euro. Und dann lässt man die Mädchen laufen. Im Piemont gehe ich mit meinen Kolleginnen in die Aufnahmezentren, wir sprechen mit ihnen und kären sie auf, dass sie nicht gleich weglaufen dürfen - mit Videos, mit Berichten von Betroffenen, mit Geschichten wie der meinen. Und so bleiben sie dann im Aufnahmezentrum."
Princess kennt die Wege der Menschenhändler, und sie fordert mehr Härte. Die Polizei müsse kooperieren, über Ländergrenzen hinweg, sagt sie. Denn so wie es jetzt läuft, gibt es nur einen Gewinner: die Menschenhändler:
"Die Polizei der einzelnen Länder muss härter vorgehen. Sie müssen sie identifizieren und auch verhaften. Die Menschhändler müssen verurteilt werden. Jetzt ist es so, dass die Menschenhändler die Ware bringen, die Italiener kaufen die Ware. Und die italienische Regierung nimmt die Opfer dann auf - und die Menschenhändler machen den Gewinn."
Mit der italienischen Polizei hat Princess ihre Erfahrungen gemacht. Zuständig für den Bereich Prostitution sind die Ermittler der Antimafia-Polizei. Und die haben oft mehr als genug zu tun. Ein großes Engagement im Kampf gegen die Prostitution sieht Princess jedenfalls nicht.
"Ich glaube nicht, dass die italienische Polizei korrupt ist. Ihnen ist es einfach egal. Es wäre keine große Mühe, die Telefone zu überprüfen, jede Ankunft zu kontrollieren, um zu verstehen, wann sie die Mädchen wegholen."

"Wer Zuhälter anzeigt, wird oft umgebracht"

Luigi Manconi, der Senator, sagt, es gäbe in Italien eigentlich strenge Mittel, mit denen man den Kampf gegen die sexuelle Sklaverei aufnehmen könnte, aber es funktioniert nicht:
"In Italien gibt es seit Jahren ein Gesetz, dass es den Frauen ermöglicht, ihre Zuhälter anzuzeigen. Aber nur wenige machen das. Denn eine nigerianische Frau, die als Sklavin nach Italien kommt, braucht Hilfe, damit sie den eigenen Zuhälter anzeigen kann. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach einer Anzeige vom Zuhälter umgebracht wird, ist hoch."
Der Politiker und Kämpfer für die Menschenrechte in Italien, Luigi Manconi, empfindet es als einen Skandal, dass es nicht gelingt, mehr Frauen aus dieser Hölle zu holen.
"Ein Land wie das unsere muss diesen Menschen doch die Möglichkeit bieten, sich zu befreien. Wir müssen ihnen eine Alternative dazu bieten auf den Strich zu gehen, und ihre Körper an italienische Männer zu verkaufen."

Eine Schande für die Europäische Union

Isoke, die viel zu lange ihren Körper verkaufte, hat viel Wut im Bauch. Sie hat sich befreit, will kein Opfer sein. Sie kämpft darum, so viele Frauen, wie möglich zu retten. Aber eigentlich, so sagt sie, sollte das die Aufgabe des Staates sein.
"Noch heute, wenn da minderjährige Mädchen auf den Strich gehen, passiert gar nichts. Auch die Polizei greift nicht ein. Warum tut keiner etwas? Warum tut die Polizei nichts? Es gibt Gesetze, die die Minderjährigen schützen. Warum werden sie nicht angewandt?"
Der Staat scheint hilflos zu sein. Kaum einer verstünde die Logik des Vodoo, die Rolle der Madames. Kaum einer wisse, wie kaputt die Frauen seien, die durch diese Hölle gehen. Und Einsperren wie im so genannten Zentrum für Identifizierung und Abschiebung am Stadtrand von Rom sei keine Lösung, sagt Claudio, Isokes Mann:
"Wenn du ein Mädchen von der Straße holst und sie in ein Zentrum, ein Gefängnis, praktisch ein Lager steckst, hast du nichts Gutes gemacht. Und was blüht dem Mädchen und seiner Familie dann, wenn es nach Hause geschickt wird? Sie werden geschlagen, weil sie die Schulden nicht bezahlt haben und werden erneut auf die Reise geschickt, um ihre Schulden abzubezahlen. So hast du wirklich niemanden gerettet!"
Man darf bei diesem harten Thema auch nicht den Fehler machen, mit dem Finger auf Italien zu zeigen. Denn viele der Frauen aus Nigeria, die zur Prostitution gezwungen werden, bleiben nicht hier. Deshalb, so sagt Carlotta Santarossa von der Internationalen Organisation für Migration, muss der Kampf für die Frauen, der Kampf gegen die Menschenhändler international geführt werden.
"Man muss das Problem überall angehen: im Herkunftsland, im Transitland und im Bestimmungsland, nicht nur in Italien. Italien ist für diesen Handel das Eingangstor. Doch dann werden die Frauen nach Spanien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich, die Länder in Nordeuropa gebracht. Sie sind, um noch einmal diesen schrecklichen Ausdruck zu benutzen, für den europäischen Markt bestimmt."
Eine Schande, mitten in der Europäischen Union, in der man so gern von Moral und von Werten spricht. Mitten in Europa gibt es für viele Migrantinnen offenbar nur eine Bestimmung. Die Hölle der Prostitution.
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