Das lange Warten
32:18 Minuten
Geflüchteten, die keine Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen, bleibt oft nur das Kirchenasyl. Doch selbst hier, im geschützten Raum, harren Familien in Angst und Ungewissheit. Manche warten Jahre darauf, ein ganz normales Leben führen zu können.
Mit in den Gerichtssaal darf ich nicht, wegen Corona. In den kurzen Verhandlungspausen aber schickt mir Pfarrerin Josefine Soltau kurze Textnachrichten. Sie begleitet das Ehepaar Siyahat im Gericht: "Die Verhandlung läuft noch. Kommen Sie gerne vorbei."
Hinter der weißen Fassade des schmucken, historischen Gebäudes inmitten der Potsdamer Innenstadt entscheidet sich an diesem 23. Februar 2021 das Schicksal einer Familie. Wird ihrem Asylantrag stattgegeben oder muss das Ehepaar samt Kleinkind zurück in den Iran?
Gleich hinter dem Pförtner, die alte Steintreppe hinauf, sitzen drei Frauen. Die Anspannung ist ihnen trotz Maske von den Gesichtern abzulesen. Seit den Morgenstunden sitzen sie hier vor Verhandlungssaal Nummer Null-Fünfzehn auf harten Bürostühlen und warten. Es sind die Taufpatinnen des Ehepaars Siyahat. Endlich öffnet sich die schwere Tür, Pfarrerin Josefine Soltau blickt den Gang hinunter. Sie wirkt weder gestresst noch ungeduldig. Hinter der Pfarrerin tritt der Anwalt der Siyahats in schwarzer Robe in den Flur, gefolgt von Massoud Siyahat und seiner Frau Minu.
Massoud Siyahat sieht müde und verwirrt aus, seine Frau hat Tränen in den Augen. Beide stecken kurz die Köpfe mit ihrem Anwalt zusammen. Ein Kind könne nur Asyl bekommen, wenn die Eltern dieses schon erhalten haben, erklärt er:
"Ein Kind kann nur Familienasyl bekommen, wenn die Entscheidung der Eltern bestandskräftig ist, wenn sie rechtskräftig ist. Da muss jetzt einfach abgewartet werden, was er macht. Ob er es abpfeffert, abtrennt und das Kind liegen lässt, bis es bestandskräftig ist, oder ob er das Kind abweist. Dann müssen wir einen Folgeantrag stellen."
Schon im Iran zum Christentum konvertiert
Die Siyahats sind Christen und schon im Iran zum christlichen Glauben konvertiert. Aufgrund ihrer Weltanschauung droht ihnen dort Verfolgung und wahrscheinlich der Tod. Die Ausübung der eigenen Religion aber gehört zu den Menschenrechten. Verfolgung aufgrund von Religionszugehörigkeit kann ein Grund sein, in Deutschland Asyl zu bekommen – sofern der Glaube identitätsstiftend ist. Das Gericht genau davon zu überzeugen, das haben Massoud Siyahat und seine Frau Minu heute versucht.
"Der Richter hat das mit anderen Fällen durcheinandergebracht, wo die Leute immer viel aus der Bibel zitiert haben. Das hat Massoud auch gemacht, er hat viel aus der Bibel zitiert, und das hat ihm gar nicht gefallen. Und deshalb hat er immer wieder ganz genau nachgehakt, hat sehr provoziert mit seinen Fragen. Und ihr seid ganz schön emotional drauf eingestiegen. Aber im Prinzip hat er keine Zweifel, dass ihr Christen seid, hierbleiben müsst und wenn ihr zurückkehrt in den Iran, dass ihr dort mit ganz schlimmen Konsequenzen rechnen müsst."
Massoud Siyahat wirkt erleichtert, als die Gruppe das Gerichtsgebäude verlässt. Josefine Soltau holt eine Thermoskanne aus dem Kofferraum ihres Autos, schenkt Kaffee ein. Minu Siyahat lehnt höflich ab – sie ist noch zu aufgeregt, mit ihren Gedanken noch im Gerichtssaal.
"Wie lange haben Sie denn jetzt gewartet? Also nicht heute, sondern insgesamt – seitdem Sie nach Deutschland gekommen sind?"
"Vier, fast vier Jahre, seit 2017. Wir hatten ein Interview mit Frankfurt/Oder und dann haben wir negative Antwort bekommen. Dann hatten einen Termin mit Potsdam. Dann sind wir hierhin, hatten acht Stunden Interview und dann war das positiv. Wir haben hier Sprachkurse gemacht, B1 und B2. Wir machen gerade eine Ausbildung als Medientechniker in Berlin. Wir haben jetzt Hoffnung, dass wir weitermachen können." (*)
Eine gute Stunde Fahrt liegt noch vor der Gruppe – zurück in den Oderbruch, an die östliche Grenze Brandenburgs, in die rund 5000-Seelen-Gemeinde Seelow.
Die neuen Nachbarn kennen das Leben unter einem Regime
Vier Wochen später, März 2021, Besuch in Seelow bei Familie Siyahat im sechsten Stock einer Plattenbausiedlung inmitten der Ortschaft. Der kleine Farzad ist heute zu Hause geblieben, der Lockdown wurde verschärft, die Kita ist zu. Draußen ist es windig. Die Gegend wirkt trist. Wir laufen die Häuserreihe entlang, Richtung Hauptstraße. Eine junge Frau mit Hijab leert ihre Mülltonne, von einem Fenster im ersten Stock aus winken uns zwei Kinder zu.
"Viele Flüchtlinge wohnen hier. Keine Iraner wohnen hier, aber zum Beispiel Syrer. Wir sind freundlich miteinander, haben Kontakt – aber mit Abstand."
"Gibt es große Unterschiede? Also jemand, der in Syrien lebt, hat was ganz anderes erlebt."
"Ja, sie waren sehr traurig, weil sie dachten, Iran würde in Syrien auch Krieg machen. Aber ich habe gesagt, wir sind unschuldig, wir sind nur Menschen. Unser Land macht vielleicht in anderen Länder Krieg. Ich habe gesagt, wir sind nicht gleich wie unser Regime." Massoud will nur Frieden, Ruhe und die begonnene Normalität weiterleben.
Begegnen ihm hier Ausgrenzung, Rassismus? Den gebe es in Seelow nicht, meint er. Umso mehr fürchtet er die Repressalien des iranischen Regimes. Er hat Angst um seine zurückgebliebene Familie. Die Eltern hat er seit seiner Flucht nicht mehr gesprochen. Und sogar hier, in Deutschland, fürchtet er das mörderische Regime.
"Wenn wir mit jemand in Seelow über Politik in Iran sprechen - sie sind in der DDR geboren, aber sie haben immer gesagt, wir haben keine Vorstellung vom Iran. Iran ist schwieriger als die DDR, weil islamisch und Diktatur zusammenkommen. Vielleicht ist ein Land eine Diktatur, aber islamisch plus Diktator ist sehr schwer."
Überzeugte Christen organisieren Hilfe für Geflüchtete
Auf dem Platz vor der Kirche haben sich einige wenige Menschen versammelt. Das Welcome-Café der Gemeinde lädt wie jede Woche zum gemeinsamen Kaffeetrinken. Organisiert hat das Ganze Pfarrerin Josefine Soltau. Für viele Geflüchtete auch aus den umliegenden Unterkünften ist es eine der wenigen Möglichkeiten des Austauschs.
Im Obergeschoss der Kirche, dem Gemeindesaal, sind Tische in einen weiten Kreis gestellt, viele Sprachen gehen durcheinander. Eine der Taufpatinnen von Massoud und Minu schenkt Kaffee nach und verteilt Gebäck auf kleinen Tellern. Heute wirkt sie deutlich entspannter als am Tag des Gerichtsentscheids. Der kleine Farzad löst sich von der Hand seiner Mutter und spielt mit zwei Mädchen, die ausgelassen zwischen den Stühlen hin und her rennen. Ganz hinten sitzt Taufpatin Regina Fischer und lächelt den Hereinkommenden zu. Sie sei jeden Dienstag hier, erzählt sie.
"Der Gemeindekirchenrat hat zugestimmt, dass dieses Café eröffnet wurde für Geflüchtete. Jetzt sind wir hier vier Frauen, die jeden Dienstag zwischen 16 und 18 Uhr die Türen öffnen. Wir kommen miteinander ins Gespräch und aus diesen Gesprächen ergeben sich dann oft konkrete Hilfsangebote."
Nicht ausgelassen, aber freudig ist die Stimmung – trotz der angespannten Situation, in der sich alle hier befinden.
"Es war so, dass in Seelow drei Turnhallen mit Menschen gefüllt wurden und diese Menschen liefen mit gesenktem Haupt immer durch die Stadt am Abend oder späten Nachmittag und trauten sich keinen Blickkontakt auf dem Bürgersteig aufzunehmen mit den Menschen von Seelow. Und ich habe das sozusagen nicht mehr ausgehalten und habe gedacht, dagegen muss was getan werden." Regina Fischer ist überzeugte Christin und engagiert sich seit 2015 in ihrer Gemeinde für Geflüchtete.
Kirchenasyl rettet Familie Amiri das Leben
Ein paar Meter weiter an einem Tisch sitzt eine zierliche junge Frau mit Kopftuch. Sie und ihr Mann sind auffallend still. Nur wenn die zwei kleinen Mädchen, die durch den Raum toben, zu ihrem Tisch zurückkehren, hellt sich das Gesicht des Mannes kurz auf. Seine Frau vermeidet jeden Blickkontakt. "Ich heiße Houssein Amiri, ich komme aus Afghanistan. Wir waren fünf Jahre in Schweden, unsere Kinder wurden geboren in Schweden, aber wir haben drei, viermal eine Absage bekommen. Und dann sind wir vor einem Jahr nach Deutschland gekommen. Wir wohnen in Deutschland, einmal wir nach Schweden abgeschoben worden. Wir sind wieder nach Deutschland gekommen, wir sind im Kirchenasyl."
Er spreche nicht gut Deutsch, entschuldigt sich Houssein. Wie auch? Zur eh schon schwierigen Situation der Familie kam der Lockdown, der den Austausch mit anderen so gut wie unmöglich macht. Ein Sprachkurs? Fehlanzeige.
"Jetzt wir haben keinen Ausweis oder Papiere, wir dürfen nicht in den Sprachkurs. Seit sechs Monaten haben wir keine Papiere. Das ist schwer für uns, auch für die Kinder. Die Kinder sind immer zu Hause, das ist ein bisschen langweilig."
Weil Houssein Amiri und seiner Familie die Abschiebung nach Afghanistan drohte und er rechtlich keine Möglichkeiten mehr hatte, sich selbst, seine Frau und die Töchter in Sicherheit zu bringen, entschied die kleine Kirche in Seelow, ihnen Kirchenasyl zu geben. Rein rechtlich ist es kein wirkliches Asyl, vielmehr respektiert der Staat, dass die Kirche Verfolgten und Bedrohten Schutz gewährt – einfach, weil sie dies schon immer tat.
"Aufs Herz hören und machen, was man fühlt"
Familie Amiri wäre ohne das Engagement von Josefine Soltau längst nach Afghanistan abgeschoben worden. Für die kleine Familie hätte das mit großer Sicherheit den Tod bedeutet, sagt Regina Fischer.
"Wir haben schon den unbedingten Wunsch, ihnen helfen zu wollen. Aber wir haben unsere Möglichkeiten nicht als so groß eingeschätzt, weil in der Vergangenheit auch in der Härtekommission der BRD oft negativ entschieden wurde. Die Bitten der Kirchen, einzelne Menschen oder Familien nicht abzuschieben und ihnen hier ein Bleiberecht aus humanitären Gründen einzurichten, wurden abgelehnt."
Es sei das erste Mal, dass die Seelower Kirche Menschen Asyl gewährt. Entscheidet sich eine Gemeinde für diesen Schritt, muss sie dies selbständig finanzieren. Nach einer Frist von sechs Monaten können die Flüchtlinge dann einen Asylantrag in Deutschland stellen und werden nicht mehr automatisch ins Ersteinreiseland abgeschoben. "Wir hatten Sorgen, den Menschen Hoffnung zu machen, eine Bleibe zu bieten, denen wir dann nicht nachkommen können. Aber unsere junge Pfarrerin hat sich durchgesetzt und hat für diese Familie alles eingerichtet."
"Das ist meine erste Pfarrstelle hier. Ich komme eigentlich aus Sachsen, habe da mein Vikariat gemacht, die praktische Ausbildung. Habe aber in Berlin und Leipzig studiert", sagt sie.
"Mein Mann hat aber hier eine Arbeit, deshalb hab ich mich einfach hier bei der Landeskirche beworben, für den Entsendungsdienst, die erste Pfarrstelle."
Josefine Soltau steht im Kirchenschiff, das mit seinen weißgetünchten Wänden nüchtern und klar wirkt. Seit meinem Besuch im Welcome-Café sind einige Wochen vergangen, heute ist es still in der Kirche. Die Pfarrerin macht eine ausladende Handbewegung.
"Ich kann hier jeden Sonntag von der Kanzel predigen, was mich bewegt und was ich glaube, das an der Zeit wäre, gesagt zu werden und was ich in der Bibel lese. Das ist schon toll."
"Wie war das mit dem Kirchenasyl? War das etwas, wo Sie schon immer engagiert waren?"
"Nein, ich habe auch vorher noch nie groß drüber nachgedacht, ob das was ist, wo wir mitmachen sollten."
Erst der Brief einer befreundeten Kollegin brachte sie dazu, darüber nachzudenken:
"Manchmal ist es tatsächlich ein bisschen aufs Herz hören und machen, was man fühlt. Man sieht ja, wenn es den Menschen schlecht geht. Genauso muss ich allen Menschen helfen, die fremd sind und hier einfach jemanden brauchen, der sie ein bisschen an die Hand nimmt und sagt: Wir machen das jetzt so und dann wird das gut. Viele Flüchtlinge sind ja auch einfach überfordert mit den ganzen Rechtsvorschriften und Briefen und was sie da alles kriegen."
1000 Euro zahlt die Gemeinde pro Monat
Josefine Soltau kommt noch kurz mit zur Unterkunft von Familie Amiri, einer Wohnung, die sie für das halbe Jahr des Kirchenasyls angemietet hat. 1000 Euro pro Monat zahlt die Gemeinde, um Familie Amiri Asyl zu ermöglichen – täten sie das nicht, wäre das Ehepaar samt seiner drei- und fünfjährigen Töchter heute in Afghanistan. Unterhalb der Zweizimmerwohnung, in der die Familie lebt, befindet sich der Gemeinschaftsraum eines Vereins mit Spielzimmer und einem großen Esstisch. Sharifa Amiri steht an der Spüle der kleinen Küche und wäscht ab, sie legt das Handtuch beiseite und tippt auf ihr Smartphone.
"Das ist meine Mama, mein Bruder Abbas, Hamid, meine Sister Hatice. In Schweden."
Warum sie ihre Großmutter, die Tanten und Cousins nicht sehen dürfen, kann Sharifa ihren Kindern nicht erklären. Warum Schweden ihrer Familie Asyl gewährte, ihr selbst, ihrem Mann und den Kindern aber nicht – das versteht sie nicht. Wie die Mutter und ihre Geschwister floh auch Sharifa über den Iran nach Schweden. Als Angehörige der Volksgruppe der Hasara drohte ihr in Afghanistan der Tod. Nur erreichte sie zusammen mit ihrem Mann Schweden erst zwei Jahre später als die Geschwister und fiel damit unter eine geänderte Asylregelung. Sechs Jahre lang hat sie mit ihrem Mann und den dort geborenen Töchtern in Schweden gelebt – ohne Arbeitserlaubnis, aber mit Familienanbindung. Dabei, sagt Sharifa, wollten sie einfach ein wenig Normalität: die Sprache lernen, Arbeit finden, ihre Kinder in Kita und Schule schicken. Leben und eine Zukunft haben. Wenn nicht in Schweden, dann nun vielleicht in Deutschland?
Ohne Bescheid kein Asylantrag
Die beiden Mädchen strahlen, gleich geht es raus auf den Spielplatz, zusammen mit Heidi. Heidi Buchholz. Die Gymnasiallehrerin besucht und unterstützt die Familie, seitdem sie in Seelow aufgenommen wurde. Sie ist Teil des kirchlichen Netzwerks von Josefine Soltau. Sarah, die ältere Tochter, läuft mit ihrer Mutter vorweg, Houssein Amiri trägt die dreijährige Tahra auf dem Arm hinterher. Der Ausflug die Straße hinunter zum Spielplatz gleich hinter dem Discounter ist das Stück Normalität, das es in Zeiten von Asyl und Lockdown für die Familie gibt.
Immerhin zeigt sich das Land Brandenburg tolerant und erlaubt, dass sie ihre Unterkunft verlassen. In anderen Bundesländern werden Menschen, sobald sie die Kirche verlassen, mitunter auf der Straße verhaftet und abgeschoben. Housseins jüngste Tochter ist auf eine kleine Schaukel gestiegen, ihr Vater setzt sich daneben. "Meine Kinder, meine Family machen mich glücklich, immer."
Schon seit einer Woche ist die halbjährige Aufenthaltsfrist von Familie Amiri abgelaufen und damit das Kirchenasyl beendet. Die Familie kann jetzt theoretisch in eine reguläre Asylunterkunft ziehen und von dort, so wie jeder Geflüchtete, einen Asylantrag stellen. Sie warten nur noch auf einen Bescheid vom Bundesamt für Migration, dem BAMF, der ihnen das offiziell bestätigt. Der Brief kann jeden Tag eintreffen.
Zwei Monate sind seit dem Spielplatzbesuch vergangen, es ist Anfang Juni. Auch wenn das Kirchenasyl von Familie Amiri formal beendet, die Wartefrist vorbei ist, hat sich nichts getan: Die Familie harrt weiter in Seelow aus und wartet auf das Schreiben vom BAMF. Ohne das haben sie Angst, doch noch abgeschoben zu werden. Die Nerven liegen blank, auch bei Pfarrerin Josefine Soltau:
"Wir warten jetzt seit schon fast zwei Monaten auf einen Bescheid vom Bundesamt, dass die Dublinfrist abgelaufen ist und die Überstellungsfrist in ein anderes Land vorbei ist. Da haben wir bestimmt schon vier, fünf Mails abgeschickt, was geschrieben. Aber wir bekommen einfach keine Antwort und das ist jetzt auch frustrierend für die Familie. Die denken jetzt, es klappt einfach nicht. Gestern war sogar jemand persönlich vor Ort, an der Rezeption. Und die haben doch tatsächlich gesagt, sie hätten gar nichts bekommen. Das kann ich mir nicht vorstellen, weil wir ja auch eine Antwort bekommen haben, dass es bearbeitet wird."
Warten, warten, warten
Der Magnolienbaum im verwunschenen Pfarrgarten blüht, die Pflanzen im Gemüsebeet strecken sich der Sonne entgegen. Pfarrerin Josefine Soltau bemüht sich um Zuversicht. Doch Houssein und Sharifa Amiri, die so lange versucht haben, Hoffnung aufrecht zu erhalten, stehen Tränen in den Augen:
"Ich habe Stress, ich kriege keinen Schlaf. Das ist hart. Ich weiß nicht, Sarah ist sechs Jahre, sie muss in die Schule gehen, aber ich spreche kein Deutsch, ich verstehe kein Deutsch. Ich weiß nicht, ob wir in Deutschland bleiben können oder nicht. Ich muss warten, warten, warten, ob Antwort vom BAMF kommt."
"Sechs Jahre warten wir in Schweden, ohne Papier, ohne Zukunft. Im Camp, Flüchtlingscamp – ohne etwas für die Kinder zu machen, meine Zukunft, alles weg. Jetzt auch. Seit einem Jahr und zwei Monaten sind wir in Deutschland, aber in Deutschland haben wir bis jetzt auch keinen Boden, wir hängen jetzt auch."
Die jüngste Tochter ist weinerlich, spürt offenbar den Stress, den ihre Eltern durchleben. "Aber die Situation, ich kann nicht Deutsch lernen, alles ist Stress. Ich bin immer traurig. Manchmal die Kinder fragen mich, wollte von ich und Mama etwas, aber wir keine geben die Kinder. Sahras Geburtstag ist 28. Juni, die Tahra war 1. Juni, aber ich Geburtstag, ich mache keine. Alles ist Stress. Was passiert morgen? Was passiert für meine Familie? Ohne Papier, ohne Ausweis."
Zu Fuß vom Iran nach Schweden
Houssein Amiri macht sich Vorwürfe für eine Situation die er selbst nicht verschuldet hat. Andererseits versteht nicht, warum ihm und seiner Familie all die Jahre ein normales Leben verwehrt bleibt - seit seiner Flucht aus Afghanistan.
Dort verliert er schon als Achtjähriger seine Eltern und muss sich fortan alleine durchschlagen. Er findet Arbeit als Verkäufer im Laden eines Händlers.
"Ich weiß nicht, was die Erwachsenen, mein Arbeitgeber machen, aber ich sage, okay, okay, ich verkaufe das. Aber ich wusste nicht, ist das Öl, ist das Wasser oder ist das Alkohol."
Unwissentlich verkauft der Junge Alkohol und bricht damit das Gesetz der Scharia. Er wird dafür halb tot geprügelt. Schwer verletzt wird der damals Elfjährige vom prügelnden Mob liegen gelassen, der ihn am kommenden Tag exekutieren will. Doch in der Nacht gelingt Houssein die Flucht, fortan aber ist er in seiner Heimat nicht mehr sicher.
Im Iran schlägt sich Houssein als illegaler Flüchtling durch, arbeitet auf einer Farm, lernt dort Jahre später seine Frau Sharifa kennen. Beide gehören zur Minderheit der in Afghanistan verfolgten Hasara. 2015 machen sich beide auf den Weg nach Schweden, wohin zwei Jahre zuvor bereits Sharifas Familie geflohen ist. "Von Iran bis in die Türkei sind wir zu Fuß gekommen. Von der Türkei nach Griechenland auch zu Fuß, mit Bus, mit anderen. Und von Griechenland nach Mazedonien, Serbien, Ungarn, alles zu Fuß, mit Auto."
Am schwersten aber wiegen nicht die Erinnerungen, sondern die Angst, nach all den Jahren doch nach Afghanistan zurückkehren zu müssen. Seine eigene Familie nicht schützen, ihr Leben nicht selbstbestimmt leben zu können – all das lastet schwer auf Houssein und seiner Frau Sharifa.
Pfarrerin Josefine Soltau, die mit ihrer Gemeinde schon die iranische Familie Siyahat während des Asylverfahrens begleitet hat, kennt die Nöte Geflüchteter gut. Ungewissheit, Angst und das lange Warten sei für alle zermürbend.
"Dadurch, dass sie sich so schlecht ausdrücken können, ist ein ganz großes Problem da oder eine ganz große Lücke, dass die wirklich psychisch Hilfe bekommen. Auch was Medikamente angeht, zum Beispiel gegen Depressionen. Jetzt sitzen wir hier, die Sonne scheint – aber die schlimme Zeit, dieser erste Lockdown, da ging’s ganz vielen ganz, ganz schlecht. Ich hab auch eine Familie, wo man gemerkt hat, eigentlich wollen die nur noch sterben, eigentlich wollen die nicht mehr hier leben. Sämtliche Hoffnungen verflogen."
Plötzliche Umsiedlung nach Berlin
Weitere Tage verstreichen. Und dann geht auf einmal alles ganz schnell. Am 10. Juni die Nachricht: "Endlich haben wir einen Bescheid bekommen, wir sind sehr glücklich. Morgen Nachmittag wollen wir nach Eisenhüttenstadt fahren." Dahinter: Ein Smiley. Freude darüber, in die Asylunterkunft umzuziehen und dort einen regulären Antrag stellen zu können. Eine Flüchtlingsorganisation soll vor Ort dabei beraten und eine Anwältin vermitteln. Wie auch schon im Fall der iranischen Familie Siyahat wird am Ende ein Gericht darüber entscheiden, wie und wo das Leben der Amiris weitergeht. Einige Tage später eine neue Nachricht: Familie Amiri wurde umgesiedelt, in eine Unterkunft nahe Berlin. Ich treffe sie das nächste Mal bei Anwältin Inken Stern.
Schon eine Dreiviertelstunde vor dem Termin steht das Ehepaar mit den zwei Töchtern vor dem Altbau der Kreuzberger Kanzlei. Sie wirken gelöst, zuversichtlich. Es bewegt sich was, endlich. Inken Stern hat sich auf Asylrecht spezialisiert. Eine vereidigte Dolmetscherin übersetzt.
"Sie wurden ja schon vom Bundesamt aufgefordert zu sagen, warum Sie nicht nach Afghanistan zurück können, darüber würde ich tatsächlich auch heute mit Ihnen sprechen, um das dem Bundesamt ein bisschen klarer vorzutragen."
"Das erste ist, jeder weiß besser als ich, wie die Situation in Afghanistan ist zur Zeit, ich kann meine Familie nicht schützen. Das zweite: Wir sind Hasara." Sharifa berichtet von der Ermordung des Vaters und der eigenen Bedrohungssituation als Angehörige der Hasara. Houssein erzählt von seiner eigenen Verfolgungsgeschichte.
Warten auf die Zweitanhörung
Das Ehepaar hat mehrere Stapel Papiere vor sich ausgebreitet: Formulare, verfasst in Amtsdeutsch, einer Sprache, die sie bislang nicht sprechen, geschweige denn lesen können. Und dennoch hängt ihr Schicksal auch davon ab, ob und wie sie auf die entsprechenden Schreiben reagieren.
"Im Moment haben Sie die Duldung, weil ein Zweitanhörungsverfahren stattfinden wird", resümiert Inken Stern nach einer anstrengenden Stunde Gespräch zwischen Ehepaar Amiri, der Dolmetscherin und ihr. "Im Moment können Sie nicht abgeschoben werden. Aber die Entscheidung darüber kommt, und ist es eine negative Entscheidung, dann muss ein Eilantrag gestellt werden, um die auszusetzen – außer das Bundesamt ordnet an, die Abschiebung ist nicht notwendig. Praktisch habe ich schon gesagt: Eine Familie mit zwei kleinen Kindern, das würde mich sehr wundern, wenn die Ausländerbehörde abschieben würde nach Afghanistan."
Es sieht also vorerst gut aus für Houssein und Sharifa Amiri mit ihren beiden kleinen Töchtern. Die vielen Behördenbriefe haben sie wieder in ihrer Tasche verstaut, sie wirken erleichtert. Es wird ein Verfahren geben, es gibt Hoffnung. Ob sie ähnlich wie Familie Siyahat aus dem Iran ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen? Erst einmal heißt es wieder warten, darauf, dass das Amt sie anschreibt, ihnen einen Aufenthaltsort und eine Wohnung zuweist und sie zur Anhörung vorlädt.
Der Juni geht zu Ende, der Juli auch, der August bricht an. Die Situation in Afghanistan verschärft sich, Deutschland setzt alle Abschiebungen dorthin aus. Die Amiris brauchen nun keine Angst mehr zu haben. Wirklich in Sicherheit fühlen sie sich aber immer noch nicht: "Nein, noch kein Schreiben. Wir warten."
Auch Ende August wartet die Familie noch. So wie sie seit sieben Jahren wartet, seit ihrer Ankunft in Europa: auf einen Sprachkurs, auf eine Wohnung, auf Kita und Schule, auf Arbeit. Kurz: auf ein bisschen ganz normales Leben.
* Wegen der besseren Lesbarkeit wurden die Aussagen der Geflüchteten sprachlich geglättet.