Geflüchtete im Norden Mosambiks

Die Opfer eines Terrors, über den niemand spricht

22:42 Minuten
Mehrere Frauen stehen mit Eimern und anderen Gefäßen vor dem Camp. Im Hintergrund sind Zelte zu sehen.
Eine halbe Million Menschen müssen versorgt werden, verteilt auf viele Camps, obwohl matschige Pisten und die Sicherheitslage das oft genug unmöglich machen. © Deutschlandradio / Stefan Ehlert
Von Stefan Ehlert |
Audio herunterladen
Die Provinz Cabo Delgado in Mosambik erlebt drei Krisen zur selben Zeit: die Folgen des Zyklons Kenneth, die Corona-Pandemie – und die Überfälle durch militante Islamisten. Mehr als eine halbe Million Menschen sind vor diesem Terror auf der Flucht.
Sanft brechen sich die Wellen am Strand von Paquitequete in Pemba. Im Schatten einer großen Plastikplane sitzen und liegen rund 100 Menschen am Boden. Sie leben hier. Warten, ob Verwandte sie aufnehmen können. Oder ob die Regierung sie in eins der großen Camps verfrachtet, außerhalb der Stadt.
Auf einem Baumstamm im Sand sitzt ein würdevoll wirkender Herr mit Hut und Hemd und deutet zu seinen Füßen. Dort schlafe er. Vor zwei Wochen ist der 71-jährige Mussa Aquim Dos Muabe mit seiner Frau in Pemba angekommen. Die Geschichte seiner Flucht ist typisch für das, was so vielen widerfahren ist: Sie mussten nicht ein oder zwei Mal, sondern oft auch drei Mal aufbrechen ins Ungewisse.
"Erst sind wir von unserm Dorf Mucojo im Distrikt Macomia nach Moçimba geflüchtet. Von dort dann auf eine der Inseln. Und dann hierher, mit dem Boot."
Moçimba steht für Moçimboa da Praia – das ist eine wichtige Küstenstadt, die im Oktober 2017 von den Islamisten als erste angegriffen wurde. Sie bietet niemandem mehr eine sichere Zuflucht. Eine Odyssee wurde es für den alten Bauern über Hunderte Kilometer. Zu Fuß, mit Minibus, per Boot.
Mussa Aquim dos Muabe sitzt vor einem Bambuszaun und schaut in die Kamera
Auf der Flucht: Der 71-jährige Mussa Aquim Dos Muabe muss mit seiner Frau in Pemba am Strand schlafen.© Deutschlandradio / Stefan Ehlert
Herr Dos Muabe sagt auch, er habe in diesem Krieg zwei seiner Kinder verloren und einen Schwiegersohn. Doch bevor wir darüber sprechen können, müssen wir das Interview abbrechen, weil sich die umstehenden Zuhörer aufregen. Auch sie wollen ihre Geschichte erzählen, ein Detail ergänzen oder eine Angabe korrigieren.
Alle wollen reden, erzählen, ihr Leid klagen. Denn kaum jemand unter den Geflüchteten ist je wirklich befragt worden nach dem, was ihr oder ihm widerfahren ist. Niemand ermittelt, niemand nimmt Zeugenaussagen auf, niemand stellt den überlebenden Opfern dieses Bürgerkrieges Wiedergutmachung, Gerechtigkeit oder auch nur die Suche nach der Wahrheit in Aussicht. Mit dem nackten Leben davongekommen zu sein, das muss offenbar reichen.

Hafenstadt Pemba war nicht vorbereitet auf Gefüchete

Noch heute kommt jeden Tag ein Boot an mit Geflüchteten. Im Oktober landeten sogar mehr als 1000 Menschen täglich in Pemba an, 40 bis 50 große Fischerboote, jeden Tag. Drei bis vier Tage waren manche Menschen unterwegs und komplett dehydriert, als sie den Strand erreichten. Sogar Babys wurden an Bord der überfüllten Segelboote geboren. Vasquinho King gehört zu einer Bürgerinitiative in Pemba, die damals Essen und Wasser heranschaffte und sich bis heute in dem überfüllten Viertel von Paquitequete um die Gestrandeten kümmert.
"An den kritischen Tagen waren es sehr viele Menschen, die zur selben Zeit ankamen. Das hatte eine verheerende Auswirkung auf die Bevölkerung von Pemba und vor allem in den armen Vierteln, denn die Stadt war überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass so viele Leute auf einmal ankommen."

Cabo Delgado ist eine bitterarme Provinz, in der vor etwa zehn Jahren eines der größten Erdgasfelder der Welt entdeckt wurde. Damit fing alles an, erzählt Jana Genth, ARD-Korrespondentin für das südliche Afrika. Deshalb müsse die Regierung Cabo Delgado zur Chefsache machen. Das ganze Interview im Podcast der Weltzeit.

Bis heute hat die Provinzhauptstadt die Folgen nicht bewältigt, auf die sie sich durchaus hätte vorbereiten können. Denn der Konflikt in Cabo Delgado schwelt schon seit mehr als drei Jahren und ist seit dem Frühjahr eskaliert. Aus einzelnen Attacken wurden systematische Angriffe, aus Hinterhalten wurde ein Eroberungsfeldzug, dem die Armee bislang wenig entgegenzusetzen hatte.

Cabo Delgado von Islamisten terrorisiert

Ein Teil der Provinz ist inzwischen in den Händen der Islamisten. Die Bevölkerung nennt sie Al Shabab, "die Jugend", so wie in Somalia. Aber über Verbindungen der Gruppe bis nach Somalia ist wenig bekannt. Dass sie sich zum sogenannten Islamischen Staat bekennt, heißt nicht, dass sie dazugehört. Und dass der Islamische Staat wiederholt die Verantwortung für Verbrechen der Islamisten in Cabo Delgado übernimmt, ist vor allem Propaganda.
Auszuschließen ist es nicht, dass es einen personellen Austausch, Training, Schulung, Bewaffnung oder Finanzierung geben könnte, aber bislang deutet vieles darauf hin, dass lokale Gruppen und lokale Anführer für die Krise in Cabo Delgado verantwortlich sind.
Die Folgen sind in jedem Fall verheerend, sagt die Landesdirektorin des Welternährungsprogramms WFP, Antonella D’Aprile. Sie geht von rund einer halben Million Geflüchteter aus, die ihre Organisation versorgen müsse, jeder Fünfte in der Provinz – hinzu kommen diejenigen in Cabo Delgado, die im Jahr 2019 durch den Zyklon Kenneth alles verloren.
"Mit das Wichtigste ist wohl, Ihre Zuhörer daran zu erinnern, dass dies ohnehin schon eine reichlich vernachlässigte Region von Mosambik ist, was die sozialen und ökonomischen Herausforderungen für die Entwicklung betrifft", sagt Antonella D’Aprile.
"Wenn wir das kombinieren mit einem Konflikt, der in den letzten Monaten immer intensiver geworden ist, und mit der Covid-19-Pandemie, dann ist hier die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung auf eine echte Probe gestellt worden. Ich würde auch gern auf die Isolation der Gegend hinweisen, weil die Infrastruktur fehlt und auf die drohende Regenzeit, die in normalen Jahren die Provinz vom Rest des Landes abschneidet."
Sprich: Cabo Delgado erlebt drei Krisen zur selben Zeit. 1. Die Provinz hat sich vom Zyklon Kenneth noch nicht erholt. 2. die Corona-Pandemie verschlechtert die Lage – und 3. müssen nun 500.000 Menschen versorgt werden, verteilt auf viele Camps, obwohl matschige Pisten und die Sicherheitslage das oft genug unmöglich machen.
Die Bevölkerung von Pemba allein wuchs zeitweilig um 100.000 Menschen. Oberflächlich betrachtet ist in der hügeligen Hafenstadt von der Krise nicht viel zu bemerken. Das Panorama von tropischen Palmenstränden prägt das Bild; ein erhöhtes Aufgebot an Sicherheitskräften ist zumindest nicht sichtbar. Geländewagen der UN-Organisationen oder anderer Helfer dominieren das Straßenbild.
Vasquinho King steht am Strand und schaut ernst in die Kamera. Im Hintergrund sieht man Menschen unter einem blauen Sonnenschutz sitzen.
Vasquinho King gehört zu einer Bürgerinitiative in Pemba, die sich in dem überfüllten Viertel von Paquitequete um die Gestrandeten kümmert.© Deutschlandradio / Stefan Ehlert
Aber bis an den Strand von Paquitequete dringen die Toyota Landcruiser nicht vor. Die Sandwege dahin sind zu eng geworden, weil die Leute die Zäune ihrer Grundstücke nach außen verschoben haben. Wo früher drei oder sechs Menschen lebten, sind es jetzt 40 oder 50, berichtet der Aktivist Vasquinho King. Er wurde hier geboren und kennt jedes Haus.
"Die hygienischen Bedingungen sind ziemlich armselig und verkraften diese Belastung nicht. Schlafraum, Küche, Bad – sind völlig überfüllt, abseits jeder Normalität. Und so müssen die Leute sogar den Strand benutzen, um ihren menschlichen Bedürfnissen nachzukommen."

Traumatisierte Flüchtlinge sind sich selbst überlassen

Tatsächlich sind die Grundstücke so überfüllt, dass viele Bewohner auch zum Schlafen an den verdreckten Strand ausweichen und sich dort in den Sand legen, eingewickelt in ein Capulana-Stofftuch, das die Mücken fernhalten soll.
Wie soll jemand unter solchen Umständen mit einem Trauma fertig werden, wie es die 30-jährige Ancha Omar erlebt hat? Hochschwanger mit ihrem sechsten Kind sitzt sie vor einem nicht besonders großen ebenerdigen Bau, zwei Hütten aus rohen Steinen. Die musss sie sich mit 43 Angehörigen teilen. Ancha Omar ist vor circa vier Wochen aus Mucojo weggelaufen, ohne einen Metical in der Tasche. Noch heute steht sie sichtbar unter Schock, fängt dann aber von sich aus an zu erzählen.
"Ich schlafe hier im Hof, ohne Matratze und ohne Moskitonetz. Die Kinder haben keine Kleidung. Was sie anhaben, waschen wir manchmal, und dann müssen sie die Sachen direkt wieder anziehen. Warum wir geflohen sind? Aus Angst vor dem Krieg, der hat auch unser Dorf erreicht. Ich konnte nichts mitnehmen."
Die junge Mutter hat Schlimmes erlebt, doch auch sie wurde noch nie danach befragt, ob sie vielleicht einen Angreifer erkannt hat, und was genau in ihrer Nachbarschaft vorgefallen ist.
"Die Köpfe von einigen der Enthaupteten haben sie in Töpfe gelegt und auf die Straße geworfen."
Portrait von Ancha Omar Paqui, im Hintergrund sind weitere Menschen zu sehen.
Traumatisiert von dem Erlebten: die 30-jährige Ancha Omar.© Deutschlandradio / Stefan Ehlert
Der 25. Juni ist ein wichtiger Tag in Mosambik, der Tag der Unabhängigkeit. Doch ob das Flüchtlingslager mit dem Namen "25. de Junho" dem Stolz der Nation Ehre macht? Immerhin sind hier zwischen den zerrupften Grashütten schon leichte Ansätze wirtschaftlicher Aktivität zu sehen. Und zu hören. Aus dem Lautsprecher eines kleinen Kiosks plärrt Musik. Seife gibt es dort zu kaufen, Zwiebeln, Batterien und Suppenpulver.

Ärzte ohne Grenzen unterstützen lokale Gesundheitsbehörden

Das Lager ist mit 9000 Bewohnern eines der größten derzeit und liegt etwa 60 Kilometer von Pemba entfernt. Bei Regen dürfte die Anfahrt beschwerlich sein, aber die Geländewagen von "Ärzte ohne Grenzen", kurz MSF, erreichen das Camp binnen einer Stunde.
Mit zwei mobilen Behandlungszentren im Distrikt Metuge unterstützen die Medicins sans Frontière die Bemühungen der lokalen Gesundheitsbehörden. Und sie hatten sich auf den Ansturm vorbereitet, berichtet der MSF-Programmkoordiniator Joaquím Guinart in Pemba. 200 Behandlungen pro Klinik am Tag seien keine Ausnahme, sagt er. Er bestätigt, dass in einem Nachbardistrikt die Cholera ausgebrochen sei, aber auch eine hohe HIV-Rate und andere Erkrankungen bedrohten das Leben der völlig erschöpften Flüchtlinge.
"In den ersten Tagen hatten wir einen sehr hohen Prozentsatz von Kindern beispielsweise, die positiv auf Malaria getestet wurden, 80 Prozent von ihnen."
Die Malaria-Gefahr bleibt hoch, denn in den Tausenden Grashütten des Camps gibt es noch keine Moskitonetze – das Camp 25. de Junho steht auch nach drei Monaten noch vor großen Herausforderungen.
Blick auf das Camp mit teilweise zerstörten Hütten, im Vordergrund laufen Kinder.
Das Flüchtlingslager ist nach dem 25. Juni, dem Tag der Unabhängigkeit in Mosambik benannt.© Deutschlandradio / Stefan Ehlert
Joaquím Guinart von MSF und sein Team haben in der Zeit eine Art psychische Betreuung für Trauma-Opfer vorbereitet. Vergangene Woche begann die "Equipa de Saude Mental" – das Team für die psychische Gesundheit – mit der Arbeit. Die zumeist gruppentherapeutischen Sitzungen dürfen natürlich nicht fürs Radio mitgeschnitten werden, sind aber sehr eindrucksvoll.

Geflüchtete, die der Enthauptung ihrer Angehörigen zusahen

Der MSF-Psychologe Adamo Armando und zwei Kolleginnen sitzen inmitten einer Gruppe von vielleicht 15 Männern im Schatten unter einem Baum. Die Männer kommen über den Verlust von Angehörigen, ihres Landes und ihres Stolzes nicht hinweg. Und viele mussten Schreckliches mit ansehen.
Armando rät ihnen, zusammenzuhalten, zu reden, sich gegenseitig zu unterstützen und aktiv zu sein, so wie andere im Camp. Fischreusen flechten, einen Verkaufsstand eröffnen, Hütten bauen, Transporte erledigen. Doch viele Menschen, weiß Armando, kann er mit guten Ratschlägen allein nicht retten.
"Also, manche Leute sind extrem traumatisiert, sie mussten die Enthauptung von Angehörigen miterleben. Das sind Patienten, die wollen nicht mehr essen, die sind hochgradig deprimiert und haben an nichts mehr Interesse im Leben, sie ziehen es vor, nicht mehr zu leben. Einige verweisen wir ans Gesundheitszentrum, weil sie nicht nur Psychotherapie benötigen, sondern Psychopharmaka, Tabletten."
Doch Antidepressiva und andere Psychopharmaka, sagt Adamo Armando, gebe es im ganzen Distrikt nicht mehr. Für die Kinder haben er und sein Team nun Gruppenspiele und gemeinsames Singen organisiert, um Vertrauen aufzubauen und die Türen zu den kleinen Herzen wieder zu öffnen.
Eine Gruppe von Kindern steht auf der Straße — sie schauen neugierig in die Kamera.
Große Aggression, große Einsamkeit, das Erlebte hat schwere Folgen auch für die Kinder.© Deutschlandradio / Stefan Ehlert
"Die Aggression und das Auftreten der Kinder zeigen uns, was sie durchgemacht haben. Große Aggression, große Einsamkeit – all das ist mit ihrer Situation verbunden. Aber wenn sie dann mal in einem Moment heiter sind, dann freuen wir uns, dann zeigt das, die Kinder sind dabei, das zu überwinden und widerstandsfähiger zu werden."
Wissen Sie, sagt einer der Geflüchteten, Manuel Geraldo António, wir müssen kuschen wie die Hühner. Wenn jemand sagt, husch, dann müssen wir laufen. Wir leben hier wie die Hühner. António ist 57 Jahre alt. Er war nie auf Hilfe angewiesen. Aber ob er mit seinen kräftigen Armen je wieder die Familie durchbringen kann daheim, auf seinem Acker – das weiß er nicht.
Die Armee hat inzwischen versichert, sie habe zumindest den Distrikt Quissanga zurückerobert und die Leute könnten bald heimkehren. Es lässt sich nur schwer jemand finden, der daran glaubt.

Bischof von Pemba ist Fürsprecher der Opfer

Zu den meistgehörten Fürsprechern der Opfer dieser Krise gehört der Bischof von Pemba, Luiz Fernando Lisboa. In seiner Residenz auf dem Hügel hoch oben über Pemba, gleich neben dem Sitz des Gouverneurs, hat er in der vergangenen Woche besorgte Bischöfe aus Südafrika empfangen. Die ganze Welt bangt, dass aus dem Gemetzel in Cabo Delgado eine regionale Krise erwachsen könnte.
Lisboa lobt die Solidarität der Menschen in Cabo Delgado und in ganz Mosambik mit den Vertriebenen. Aber Mosambik benötige mehr Hilfe von außen, um mit der Krise fertig zu werden.
"Sehen Sie, wir begrüßen, dass unsere Regierung sagt, sie ziele auf Unterstützung von außen ab bei der Ausbildung unseres Militärs, auch auf logistische Hilfe für unsere Verteidigungskräfte und Hilfe für die Menschen. Das ist es, was wir im Moment am meisten benötigen."
Es gibt auch Vorschläge, die Regierung möge mit den Insurgentes verhandeln, mit den Aufständischen, wie sie offiziell heißen. So wie vor 30 Jahren im Bürgerkrieg mit der oppositionellen Renamo. Das Problem: Keiner weiß, mit wem er da reden müsste. Nordmosambiks Islamisten haben zwar eine halbe Million Menschen zur Flucht gezwungen. Aber wer sie anführt, ist unbekannt.
Mehr zum Thema