Geflüchtete in Athen

Warten auf dem Viktoriaplatz

04:51 Minuten
Eine Flüchtlingsfamilie warten am Viktoriaplatz in Athen.
Wer als Flüchtling Hilfe braucht, der geht zum Viktoriaplatz im Zentrum von Athen. © picture alliance / NurPhoto / Nikolas Kokovlis
Von Alkyone Karamanolis · 03.08.2020
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Die Aufnahmelager in der Nähe Athens sind voll. Die meisten Flüchtlinge wollen dort nicht bleiben. Sie fahren stattdessen zum Viktoriaplatz ins Zentrum. Dort gibt es alles, was die Gestrandeten suchen.
Niedrige Kiefern, vertrocknete Felder. Es ist eine monotone Landschaft, die vor dem Zugfenster vorbeifliegt. Karim schenkt ihr keine Beachtung. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt der Fahrkartenkontrolle, denn er ist schwarz unterwegs. Seit fast einem Jahr lebt Karim in einem Flüchtlingscamp, etwa 50 Kilometer vor Athen. Er hat eine Technik entwickelt, um dem Kontrolleur aus dem Weg zu gehen.

Am Victoriaplatz laufen alle Informationen zusammen

Manchmal wird er trotzdem erwischt und rausgeschmissen. Doch am Ende kommt er immer an: am Viktoriaplatz in Athen.
"Ich gehe dorthin, um Leute zu treffen und mit den Kindern Fußball zu spielen. Manche sind gerade erst aus Moria angekommen. Sie kennen sich nicht aus in Athen und brauchen Informationen. Weil ich die Vorschriften für Flüchtlinge in Griechenland kenne, kann ich ihnen helfen. Andere bitten mich, dass ich zum Beispiel eine E-Mail für sie schreibe. Je nachdem, was sie brauchen."
Karim, der aus Afghanistan stammt, ist über die türkische Landgrenze nach Griechenland gekommen. Im Lager hat er auch den Rat erhalten, in Athen an den Viktoriaplatz zu gehen – dort würde er weitere Flüchtlinge treffen.
Auch heute ist er noch keine fünf Minuten am Platz, da trifft er schon zwei Bekannte aus dem Camp: "Wir kommen ein-, zweimal die Woche her, meist gegen Mittag. Denn im Camp haben wir nichts zu tun. Hier können wir spazieren gehen, manchmal kaufen wir auch Lebensmittel ein und am Abend fahren wir zurück."
Der Viktoriaplatz hat sich im Sommer 2015 als Anlaufstelle für Flüchtlinge etabliert. Weil er weitläufig ist, weil seine Maulbeerbäume dichten Schatten spenden – und weil er direkt an der U-Bahn-Linie liegt, die den Hafen mit dem Athener Stadtzentrum verbindet. Inzwischen haben sich hier auch zahlreiche Hilfsorganisationen angesiedelt. So auch die Ordensgemeinschaft der Steyler Missionare.

Bunte Luftballons für die Kinder

Die Schwestern betreiben unter anderem eine kleine Schule, Kinderbetreuung und ein Tagescafé. Mindestens einmal am Tag aber kommt Schwester Ewa, die von Beruf Psychologin ist, direkt an den Platz, um mit den Kindern zu spielen. Gerade verteilt sie bunte Luftballons. Die sind billig zu besorgen und kommen gut an.
"Ich fühle mit diesen Kindern. Sie haben keine Identität, sie wissen nicht, wer sie sind. So etwas hinterlässt Spuren. Dabei sind sie unsere Zukunft. Die Zukunft unserer Gesellschaft, die Zukunft unserer Welt. Wenn ich also hierher komme, dann tue ich das, damit sie eine Bezugsperson haben. Denn in ihrem Leben gibt es keinerlei Stabilität. Viele von ihnen wissen nicht einmal, aus welchem Land sie stammen."
Die gesamte Infrastruktur am Platz ist auf die Flüchtlinge ausgerichtet: Die Geschäfte bieten Mobiltelefone, SIM-Karten, billige Kleidung und Koffer an. Sogar ein afghanisches Restaurant gibt es. An den Tischen mit den bunten Synthetik-Tischtüchern sitzt allerdings nur eine Handvoll Gäste.

Ein Flugticket, egal wohin

Er sei seit einem Jahr in Athen und heute angeblich zum ersten Mal hier, erzählt ein junger Mann. Wegen des Essens, setzt er hinzu. Auch der Besitzer des Restaurants schwärmt davon, dass die Gäste die guten Gerichte schätzen. Ein weiterer Gast, Amin, erklärt freimütig, er sei bereits zum dritten Mal hier. Dabei ist er erst vor ein paar Tagen in Athen angekommen. Vor ihm steht nur ein Glas Tee.
"Ich sage es ganz offen. Ich bin hergekommen, um einen Schlepper zu treffen, der mich aus Griechenland rausbringen kann. Egal, auf welchem Weg. Ich bin schon seit zwei Jahren hier, und meine Zukunft ist völlig ungewiss."
Zwischen 6000 und 7000 Euro kostet die Passage nach Mitteleuropa. Der Mann hat in Afghanistan zwar als Grafikdesigner gearbeitet, aber diesen Tarif kann er nicht zahlen. Also hat er die billige Version gewählt. 300 Euro für einen gefälschten Personalausweis. Den ersten Kontakt hat er bereits gemacht. Amin zeigt ein Video auf seinem Mobiltelefon: Jemand präsentiert gefälschte Ausweise und legt sie zum Beweis für ihre professionelle Machart auf einen beleuchteten Untergrund. Sobald er seinen eigenen erhält, möglicherweise noch heute Abend, werde er schauen, wohin es billige Flugtickets gibt. Hauptsache, sagt Amin, weg von hier.
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