Geflüchtete in der Türkei

Selbst die Jüngsten lässt der Staat allein

Die Syrerin Fatima mit ihren Kindern auf dem staubigen Bürgersteig einer Straße in Istanbul und bettelt, aufgenommen 2014.
Eine geflüchtete Syrerin mit ihren Kindern bettelt auf einem Bürgersteig in Istanbul. © picture alliance / dpa / Mirjam Schmit
Von Sabine Adler · 11.05.2017
Über den Umgang mit den über drei Millionen Flüchtlingen aus Syrien in der Türkei wird kaum diskutiert. Ihre Lage ist schwierig, sie sind bestenfalls geduldet, selbst um die Jüngsten kümmert sich der Staat nicht.
Überall auf den Straßen und Kreuzungen sieht man die ärmlichen Gestalten: Flüchtlinge aus Syrien. In der Fünf-Millionen-Stadt Ankara leben über 60.000, in Istanbul mit seinen fast 15 Millionen Einwohnern sind es sogar rund eine Millionen, nicht einmal die Hälfte ist registriert. 250.000, weniger als jeder zehnte ist in einem der 23 gutausgestatteten Lager untergekommen, der übergroße Rest schlägt sich irgendwie durch, obdachlos, in der Schattenwirtschaft, wie der Politikwissenschaftler Murat Erdogan von der Hacettepe-Universität in Ankara in einer groß angelegten Studie nachgewiesen hat. Selbst um die Jüngsten kümmert sich der Staat nicht.
"Wir haben mehr als 900.000 Kinder, die sind schulpflichtig, zwischen sechs und 17 Jahren alt. Rund die Hälfte von ihnen hat in den letzten fünf Jahren überhaupt keine Möglichkeit gehabt, in die Schule zu gehen."
Nur die Hälfte der Kinder darf lernen und von ihnen nur die wenigsten in einer türkischen Schule, der Rest wird von syrischen Flüchtlingen auf Arabisch unterrichtet, was sie nicht fit macht für ein Leben in der Türkei. Das Kalkül: Die Flüchtlinge gehen ja bald wieder. Laut seiner Studie sagt der Politologe, dass das ein Trugschluss ist.
"Jetzt gerade haben wir 3,2 Millionen. Die werden zu 90 Prozent für immer in der Türkei bleiben."

33 Prozent der syrischen Flüchtlinge sind Analphabeten

Die Master-Studentin Tülin Haji Mohammad ist zur Hälfte Syrerin, ihr Vater ist Türke. Die wohlhabende Familie floh aus Aleppo, Tülin hat neben dem Studium noch einen gut bezahlten Job, eine Seltenheit bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 22 Prozent. In der Türkei lernte sie ihr Heimatland Syrien, seine Menschen erstmals wirklich kennen.
"In Syrien kannte ich nur Menschen aus meiner Klasse. Hier treffe ich ungebildete, sehr konservative Syrer. Das war ein Schock. Ich fühle mich schuldig, weil ich das wirkliche Syrien überhaupt nicht kannte, das Regime hat uns voneinander getrennt."
Tülin Haji Mohamad, syrischer Flüchtling in Ankara
Tülin Haji Mohamad, syrischer Flüchtling in Ankara© Deutschlandradio / Sabine Adler
33 Prozent der syrischen Flüchtlinge sind Analphabeten, sie stammen meist aus dem ländlichen Norden. Mediziner, Ingenieure sind längst im Westen, die syrischen Akademiker in der Türkei sind meist Theologen, die ihren Gaststatus behalten wollen. Denn im Wettbewerb an den türkischen Universitäten könnten sie nicht mithalten. Tülin studiert Politik und internationale Beziehungen und ist mit erst 25 Jahren völlig desillusioniert.
"Ich habe die Hoffnung verloren, in die Revolution, in die Demonstrationen, denn ich habe erlebt, dass unsere Leute aus West-Aleppo zum Demonstrieren nach Ost-Aleppo gegangen sind. Und als Ost-Aleppo bombardiert wurde, haben sie sich in ihren Häusern im Westteil der Stadt in Sicherheit gebracht."

Präsident Erdogan vermeidet das Thema

Eine Debatte wie in Deutschland führen türkische Medien über die Flüchtlinge nicht, selbst das Staatsoberhaupt vermeidet das Thema, sagt Mustafa Erdogan, der mit dem Präsidenten nicht verwandt ist.
"Präsident Erdogan sagt das gegenüber den Europäern, aber er sagt nie in der Türkei so etwas. Weil innenpolitisch ist das gefährlich, aber außenpolitisch ist es gut so."
Mit den Flüchtlingen hoffte Erdogan auf mehr Ansehen in der Region, doch das Land kann sich diese Geste kaum leisten. Der Politikwissenschaftler Huseyin Bagcy findet die Aufnahme der Syrer grundfalsch:
"Das ist eine Miss-Kalkulation der Regierung gewesen, von Davutoglu. Weil Erdogan hat gesagt, dass wir sie alle aufnehmen können. Das ist die politische Aussage. Am Anfang wollte man, dass Baschar al Assad so schnell wie möglich geht und dass die Türkei im Osten mehr das Sagen hat. Aber wir haben jetzt wie an der mexikanischen Grenze die ganze Grenze mit einer Mauer bedeckt. Und die Türkei hat die Kapazitäten denke ich überschritten."
Allein 45.000 Lehrer wären für die syrischen Schulkinder nötig. Tülin Haji Mohammad, die Studentin, fühlt dass sie als Syrer den Türken mehr und mehr zur Last fallen.
"Ich habe gelernt, dass Gast ein wirklich schlechtes Wort ist. Ein Gast ist nach drei Monaten oder einem Jahr nichts Gutes mehr. Bei mir geht es, weil ich Türkisch spreche, aber meine Freunde fühlen sich nicht willkommen hier."
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