Eine syrische Familie findet eine neue Heimat
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Familie Taha-Sayed zog 2015 aus einem Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in den kleinen brandenburgischen Ort Golzow. Der Zuzug von ihren Kindern verhinderte damals die Schließung der Dorfschule. Der Kontrast zur syrischen Heimat war groß. Und heute?
Schäferhund Igo springt schwanzwedelnd hinter dem Zaun auf und ab, fegt dann einmal um den Obstbaum, schnappt sich eine alte schwarze Plastiksandale. Er will spielen. Halima lacht. Nein, das ist nichts für sie. Da muss ihr Sohn ran, Bourhan, der zwölfjährige, oder Hamza, sein jüngerer Bruder.
Bourhan kommt auf die Terrasse, schlüpft in blaue Turnschuhe, steigt über den Zaun. Ein schlaksiger, sportlicher Junge. Vater Fedi steht im Hintergrund, lächelnd. "Hier war keine Terrasse, nichts. Nur das Dach, alles andere gab es nicht. Das habe ich gebaut mit Freunden."
"Wenn wir überleben, darf ich dann einen Hund haben?"
Halima und Fedi Taha-Sayed bitten ins kleine Haus: niedrige Decken, alte Mauern, knarrende Holzböden. "Hier war auch nichts. Das ist alles neu. Wir haben die Leute hier überrascht, weil das ganze Haus kaputt war – und der Umbau hat nur zwei Monate gedauert. Die haben das nicht geglaubt."
Nach acht Wochen Renovierung zieht Familie Taha-Sayed – Mama, Papa und drei Kinder – aus einer Drei-Zimmerwohnung ins benachbarte Örtchen Zechin im brandenburgischen Oderbruch. Endlich Platz!
Hier erinnert der zwölfährige Bourhan seine Eltern an ein altes Versprechen. Aus der Zeit, als sie mit einem maroden Fischtrawler im Mittelmeer trieben und um ihr Leben fürchteten. Halima erinnert sich.
"Auf dem Boot, das war so eine schwere Zeit. Die Sonne brannte. Und er hat gesagt: Mama, wenn wir überleben, dann wünsche ich mir was. Da habe ich gesagt: Was wünschst Du dir? Und da hat er gesagt: Darf ich einen Hund haben?"
Bourhan war damals sieben Jahre alt und er stellte quasi eine Glaubensfrage an seine Eltern Halima und Fedi. "Eigentlich als Muslime dürfen wir keine Hunde zu Hause lassen, drinnen. Also habe ich mit Fedi gesprochen und habe gesagt: Fedi, ich kann nicht nein sagen. Und das war eine richtig harte Nacht für uns. Und dann habe ich ihm gesagt: versprochen."
Ein Garten mit Orangenbäumen bleibt zurück
Rückblende: Vor fünf Jahren, 2015, treffe ich die Familie zum ersten Mal. Da lebt sie seit einigen Monaten in Golzow. Einem kleinen Ort im Oderbruch, den kaum jemand kennen würde, gäbe es nicht die berühmte Langzeitdokumentation über "Die Kinder von Golzow". Im Sommer 2015, als syrische Flüchtlinge Schutz und Unterbringung suchen, stellt die Gemeinde der syrischen Familie eine Wohnung zur Verfügung. Und verspricht Unterstützung beim Neuanfang auf dem Dorf. Nicht ganz uneigennützig, wie sich später herausstellt.
Bei meinem Besuch in der Wohnung schleicht Fino, eine junge Katze, durchs Wohnzimmer, ein Geschenk von der Nachbarin – wie auch der Kratzbaum in der Ecke. Für einen Hund haben sie 2015 in der kleinen Wohnung keinen Platz.
Fino erinnert die Familie an ihre alte Katze, die sie in Syrien zurücklassen musste. Die hieß auch Fino. Das erzählt Fedi, der Hausherr, damals noch auf Englisch. Mit dem Deutschunterricht haben die beiden Eltern gerade erst begonnen. Halima kommt aus der Küche, grünsamtener Hausanzug, Hausschuhe, Kopftuch. Vorsichtig stellt sie Kaffeetassen und Gebäck auf den kleinen Couchtisch.
Die Glasplatte unter der Tischdecke ist kaputt, sagt Fedi entschuldigend. Der Tisch ist ein Geschenk von den Nachbarn. Halima setzt sich auf das Sofa, auch das ein Geschenk von Golzowern. Dann greift sie zu Stift und Papier.
Sie will jeden Tag fünf neue Vokabeln lernen, das hat sich die damals 29-Jährige vorgenommen. Mindestens. "Ich bin 29 Jahre alt und meine Familie hatte in Syrien einen großen Garten mit Orangenbäumen. Auch Fedis Familie war wohlhabend. Fedi hat als Immobilienmakler gearbeitet. Wir haben sehr schön gewohnt und gelebt."
Sie verkaufen alles und zahlen viel Geld
Halima sucht nach Worten, gestikuliert. 2013, also mehr als zwei Jahre vor ihrer Ankunft in Deutschland, flüchtet die Familie vor dem Krieg in Syrien. Aus Latakia, einer Hafenstadt am Mittelmeer. Sie verkaufen alles und zahlen viel Geld an Schlepper und Schleuser, die versprechen, sie in Sicherheit zu bringen, nach Europa.
Fedi steht auf, holt einen ramponierten Tablet-Computer aus dem Regal, feine Risse ziehen sich über das Display. Er will mir einige Bilder von ihrer Flucht zeigen. Halima schüttelt den Kopf. Auf dem Tablet-Bildschirm baut sich eine Seite der zypriotischen Küstenwache auf. Sie zeigt Videoaufnahmen aus einem Militärhelikopter, unterlegt mit dramatischer Musik.
Halima hält sich die Hand vor die Augen. "Ich kann das nicht mehr sehen", sagt sie. Auf dem Video sieht man einen überladenen Fischkutter, der sich durch die raue See quält. Meterhoch schlagen Wellen gegen die Bordwand. Gischt spritzt über das Deck.
Unten am Video-Bildrand steht: 345 Personen auf einem 25 Meter-Fischerboot. Datum: 25. September 2014. Uhrzeit: 7:17 Uhr. Halima sieht nicht hin, sie blickt ins Leere. Fedi spreizt Daumen und Zeigefinger, zoomt aufs Oberdeck des Fischtrawlers. Eng an eng drängen sich die Menschen.
Zwei Kinder mit weißen Schirmmützen, ein Mann im gelben T-Shirt, eine Frau, die gerade ein Kleinkind wickelt. "Das sind wir", sagt Fedi. "Hamza, Halima, Bourhan, Kamala und ich."
Vier Tage schlingert der Trawler durch schwere See, dann nimmt ein Kreuzfahrtschiff die Flüchtlinge auf und bringt sie nach Zypern. Das nächste Foto auf dem Tablet: der kleine Hamza im Krankenhaus. Dehydriert, eine Kanüle im Arm. Eine Woche lang muss er behandelt werden.
Fedi legt den Tablet-Computer beiseite. Halima nimmt einen Schluck Kaffee. Der Jüngste, Hamza, ist damals zweieinhalb Jahre alt. Die meiste Zeit seines Lebens war er auf der Flucht. Zypern, Türkei, Italien, schließlich Deutschland. Zwei Monate lebt die Familie im brandenburgischen Erstaufnahmelager in Eisenhüttenstadt. Dann fragen Betreuer, ob sie nicht nach Golzow ziehen wollen. Golzow – den Namen haben die beiden noch nie gehört. Ein Ort auf dem Land, sagen die Betreuer. Warum nicht, sagt die Familie und packt die Koffer.
Golzow erweist sich als Glücksfall
Zurück in die Gegenwart, in das kleine Haus in Zechin, einige Kilometer entfernt von Golzow. In Rekordzeit hat die Familie es renoviert. Ruhig ist es hier, unweit der Oder, abgelegen. Das polnische Mobil-Funknetz ist hier meist stärker als das deutsche. Zechin ist mit seinen 700 Einwohnern noch kleiner als Golzow.
Fino, die Katze, räkelt sich auf einem großen Sessel, ihrem Stammplatz. Daneben turnt Ziko, ein Papagei, in seinem Käfig. "Fino ist unser Cheftier", sagt Halima. Die Katze war zuerst da. Als die Familie 2017 aus der Dreizimmerwohnung in Golzow auszieht und das kleine Haus mit Garten renoviert, bekommt Bourhan endlich seinen Hund.
"Fedi hat gesagt: Okay, wir haben das versprochen und wir kaufen das. Und wir haben dann einen kleinen Welpen aus Berlin, einen deutschen Schäferhund, gekauft."
Halima lächelt. Sie und Fedi machen es sich auf dem Sofa bequem – unter den syrischen Wandteppichen, gegenüber vom großen Flachbildfernseher. Daneben steht griffbereit ein vielbändiges Lexikon und ein Weltatlas. Halima wirkt entspannt.
"Vor einem Monat habe wir auch einen unbefristeten Aufenthaltstitel gekriegt und jetzt werden wir versuchen, ein kleines Häuschen zu kaufen. Und die Kinder sind sehr gut integriert, eigentlich. Ich fühle mich hier wohl, auch in unserem kleinen Häuschen hier in Zechin. Wir haben ganz tollen Kontakt mit den Golzowern. Sie sind beste Freunde von uns, wie eine zweite Familie."
Eigentlich wollten sie weiter in Golzow wohnen, erzählen die beiden, da wo ihre Freunde leben, da wo ihr Schrebergarten ist, da wo die Jüngsten zur Schule gehen, da, wo sie jeder kennt. Doch es gibt einfach keine passende Unterkunft.
Halima blickt auf die Uhr. In zwei Stunden muss sie los zur Arbeit nach Frankfurt (Oder). Denn Arbeit gibt es weder in Zechin, noch in Golzow. Viele hier pendeln in die Stadt.
Die syrischen Kinder retten die Dorfschule
Markttag in Golzow, ein kleiner Ort im Oderbruch, 850 Einwohner, zwei Kneipen, ein Eiscafé, ein Dönerladen, ein Bäcker, aber keine weitere Einkaufsmöglichkeit. Also haben die Golzower selbst einen Markt organisiert. Jeden Freitag bauen Händler aus der Umgebung ihre Stände auf. Gemüse und Fleisch gibt es auch am Mittwoch.
Frank Schütz unterhält sich am Gemüsestand. Der ehrenamtliche Bürgermeister hat Schmorgurken gekauft, wie von seiner Frau in Auftrag gegeben. Gemüse, Wein, Marmelade, Käse, Seife, Honig, Wildfleisch – gut ein Dutzend Stände bieten ihre Waren an.
"Sämtliche Supermarktbetreiber haben uns gesagt, Nein, Golzow lohnt sich nicht, Golzow ist zu klein. Und da haben wir uns an die alte Devise erinnert: Wir schaffen das! Dann machen wir das halt alleine."
"Alleine machen", damit haben sie in Golzow Erfahrung. Sich selber kümmern, weil sich sonst keiner kümmert, so wie 2015. Damals fehlen Erstklässler im Dorf. Die Grundschule soll geschlossen werden. Also fährt Bürgermeister Schütz nach Eisenhüttenstadt ins Erstaufnahmelager und sucht eine Flüchtlingsfamilie mit schulpflichtigen Kindern. So kommen Halima, Fedi und die drei Kinder nach Brandenburg. Sie sind die ersten, die nach Golzow ziehen. Später folgen noch zwei weitere Familien.
"Wir haben 2015 die Entscheidung getroffen: Wir brauchen Hilfe. Und hatten das große Glück gehabt, dass Menschen zu uns gekommen sind, die uns geholfen haben, die selber dadurch auch Hilfe erfahren haben. Jetzt auch im Rückblick nach fünf Jahren können wir sagen: Es ist super gelaufen, es ist toll gewesen. Wir haben Golzower, wir haben Menschen dazugewonnen, die ihren Lebensweg hier starten konnten."
Die syrischen Kinder haben damals die Dorf-Schule gerettet. Und nebenbei auch noch die Film-Tradition. Denn auf die ist man besonders stolz in Golzow. Hier begannen 1961 die Dreharbeiten zur Filmreihe "Kinder von Golzow". Die Langzeitbeobachtung einer Schulklasse über vier Jahrzehnte. Weil eine solche Doku einmalig ist, kommen immer noch Besucher aus ganz Deutschland in das kleine Filmmuseum. Eine Dokumentation über das Leben der syrischen Familien gibt es auch schon.
"Da haben die Leute hier im Dorf ganz viel sich selber auf die Schultern zu klopfen. Weil, das waren viele Nachbarn, die geholfen haben, die gesagt haben, ich lerne mit dir nochmal Deutsch oder ich fahre mit dir nochmal wohin. Und das aus einer totalen Normalität heraus. Einfach, weil das Nachbar waren."
Kinder lernen schnell, die Erwachsenen quälen sich
Wenige Kilometer weiter in Zechin, im Wohnzimmer der syrischen Familie, schlummert Katze Fino entspannt in ihrem Sessel. Daneben lärmt Ziko in seinem großen Käfig, ein afrikanischer Papagei, mit deutsch-arabischem Sprachschatz zur Begrüßung: "Hallo" und "Salam aleikum".
Der zwölfjährige Bourhan neckt noch ein wenig den Papagei. Verschwindet dann nach oben. Da sind die Kinderzimmer, und dort warten die Hausaufgaben. Halima schenkt arabischen Kaffee ein, jede der kleinen Tassen hat sie mit einer Blüte dekoriert, daneben wartet arabisches Gebäck. Es hat ein wenig gedauert, die Familie zum Interview zu bewegen. Zum einen haben sie in den letzten Jahren einige schlechte Erfahrungen mit Journalisten gemacht, zum anderen wollen sie eigentlich ihre Ruhe haben. Aber dann sagen sie doch zu.
"Eigentlich wollen wir gar nicht. Wir haben viel zu viel Arbeit. Wir kommen nicht einmal zum Kaffeetrinken. Wir haben noch keinen Kaffee getrunken." Zusammen einmal in Ruhe Kaffee trinken, das genießen die beiden. Meist reicht die Zeit dafür nicht. Halima streicht kurz ihr Kopftuch zurecht. Sie ist inzwischen Mitte dreißig und hat einen vollen Tagesplan. "Ich arbeite als Pflegekraft in der Wichern-Diakonie in Frankfurt (Oder). Und Fedi arbeitet in der LTG als Hausmeister, Leitung und Tiefbaugesellschaft."
Der Weg dahin war nicht einfach, erzählen sie, fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland. Die Kinder lernen schnell, die Erwachsenen müssen sich quälen. Halima und Fedi büffeln Deutsch, sie arbeitet nebenbei in einem Minijob, hilft dem Arbeiter-Samariter-Bund bei der Flüchtlingsbetreuung. Zusätzlich macht Halima auch noch einen Pflegekurs an der TÜV-Akademie,.
"Es war anstrengend, auch mit meiner Familie. Aber es war auch schön, weil ich das alles geschafft habe. Aber es war eine schwere Zeit mit drei Kindern. Ich hatte noch den Minijob gehabt und dann habe ich es geschafft, die Fahrerlaubnis zu machen in Deutschland. Das war richtig schwer mit der Prüfung."
Auch heute fragt sie sich manchmal noch, wie sie das alles schaffen konnte. "Wahrscheinlich, weil ich musste", sagt sie. Deutsch und Pflegekurs für den Job, den Führerschein für den Weg zur Arbeit.
"Ich fahre jeden Tag nach Frankfurt (Oder). Manchmal in der Früh, manchmal in der Nacht. Und die 40 bis 45 Minuten im Dunklen sind schwer. Ich habe mein Auto drei Mal gewechselt innerhalb von vier Jahre wegen der Wildtiere."
Halima lacht, zuckt mit den Schultern. Was soll sie machen. Hier auf dem Land rennen nachts die Wildschweine über die Straße und die werden bestimmt nicht weniger werden.
Falsche Vorstellungen vom Leben in Syrien
Die Älteste, Kamala, bringt Aschenbecher und Zigaretten. Die 13-Jährige wirft ihren Eltern einen tadelnden Blick zu, verschwindet dann wieder in ihrem Zimmer, da warten die Hausaufgaben.
Fedi und Halima zünden sich eine Zigarette an. Halima greift zum pinkfarbenen Mobiltelefon. Darin hat sie Bilder aus Syrien gespeichert, aus ihrem Leben vor dem Krieg, als sie es gut hatten und es ihnen an nichts fehlte. Das Telefon holt sie immer hervor, wenn sie den Kindern etwas aus ihrer syrischen Vergangenheit zeigen möchte. Einmal kam Kamala niedergeschlagen aus der Schule. Das Thema "Afrika und Armut" stand auf dem Stundenplan. Und die Lehrerin sagte, Kamala hätte doch bestimmt auch Stifte und Feuerzeuge auf der Straße verkauft.
"Sie dachte, bei uns ist es wie in Afrika. Und sie hätte was verkauft auf der Straße oder so. Kamala war kaputt, als sie nach Hause kam. Und ich habe gesagt, okay, ich hole unsere Bilder und zeige die. Das war zum Beispiel unser Kindergarten!"
Auf dem Handy-Display: ein großer Raum, liebevoll dekoriert, viel Spielzeug in den Regalen, Bourhan verkleidet mal als Feuerwehrmann, mal als Arzt: "Und hier als kleiner Doktor. Und hier mit der Gruppe, das war im Kindergarten. Das war nicht nur ein Raum mit einem Teppich und einer Tafel, nein, das ist wie in Deutschland!"
Auf dem nächsten Bild Fedi im eleganten Anzug, zurückhaltend lächelnd, wie immer. "Ich habe als Immobilienmakler in Syrien gearbeitet, aber hier, das klappt nicht. Ich musste einen anderen Job suchen. Und ich wollte nicht mehr lernen, da habe ich gesagt, mache ich das, das ist nicht schlimm. Und der Chef ist toll, sehr in Ordnung, und dann habe ich auch eine unbefristete Stelle."
Noch ein Blick aufs Mobiltelefon, in die Vergangenheit. Ein großes Haus. Urlaub am Meer. Die Taha-Sayeds waren eine wohlhabende Familie. Eine, die in der Nachbarschaft hilft, wo sie kann. Auch als ein junger Mann vorbeigebracht wird, schwer verletzt bei Kämpfen gegen das Assad-Regime. Die Familie hilft, pflegt ihn gesund, besorgt eine Unterkunft. Einige Monate später wird der Mann von den Assad-Truppen festgenommen. Die Familie bekommt einen Anruf: "Ihr müsst das Land verlassen. So schnell, wie möglich." Und damit ist das alte Leben vorbei.
Die Golzower sind zupackend
In Golzow kommt Gabi Thomas über den Dorfplatz, ein Kuchenblech in den Händen. Fröhlich grüßt sie die Verkäuferin am Stand mit der Babykleidung: Die Schuldirektorin bringt den Kuchen in den ehemaligen Dorfladen. Der heißt jetzt "Dorfladen plus" und ist Treffpunkt und Kontaktbörse. Ein heller Raum mit großen Tischen, draußen warten Bänke unter Sonnensegeln.
Hier treffen sich regelmäßig die Golzower, um zu überlegen, wie sie ihren Ort weiter voranbringen können. Dabei helfen Studierende aus Berlin, Cottbus und Darmstadt. Projekt-Titel: "Gemeinsam schaffen". Regionale Strukturen erweitern, gemeinsam wirtschaften, das sind die Ideen. Halima und Fedi haben heute keine Zeit. Gabi Thomas hat sie aber schon getroffen heute.
"Ja, heute Morgen fuhr Fedi nämlich mit dem Fahrrad, und dann habe ich gedacht, na, ist das Auto kaputt? Halima fährt sonst mit seinem. Fedi begegne ich immer, wenn ich zur Arbeit fahre." Und das seit er den kleinen Hamza das erste Mal mit dem Rad zum Kindergarten brachte. Der liegt gleich neben der Grundschule. Heute geht Hamza in die zweite Klasse, die Familien sind befreundet. Die Zeit ist schnell vergangen, sagt Gabi Thomas. Vor fünf Jahren noch zitterte sie um den Fortbestand ihrer Grundschule.
"Das ist gar keine Zeit, die ich mir so gerne ins Gedächtnis zurückrufe. Das war schon sehr nervenaufreibend. Und ich habe mir immer wieder gewünscht, nicht noch einmal in so eine Situation kommen zu müssen."
Vor fünf Jahre treffe ich Gabi Thomas das erste Mal in der Grundschule in Golzow. 2015 ist für die Direktorin ein hartes Jahr. Ihre Schule muss ums Überleben kämpfen.
"Unsere zuständige Schulrätin meldet ihren Besuch an. Da war ich ein bisschen beunruhigt und dachte, na, was ist denn jetzt? Warum kommt die? Für mich war eigentlich alles klar. Ja, und dann bringt sie mir diese schockierende Botschaft!"
Gabi Thomas ist eine resolute Frau: groß, kurze schwarze Haare, auffällige Ohrringe, offener Blick. Als sie damals über den Besuch der Schulrätin vor einigen Monaten erzählt, wirkt sie nicht mehr ganz so selbstsicher.
"Es wurde ein Schreiben vom Schulamtsleiter übergeben, dass es nicht zur Einrichtung einer ersten Klasse kommen sollte." Gerade mal dreizehn neue Schüler zählte die Schulverwaltung damals. Weniger als 15 Anmeldungen. Das reicht nicht für eine erste Klasse. Das ist die Logik der Brandenburger Bildungsbehörden. Keine erste Klasse – kein Dorfleben, das ist die Befürchtung der Golzower.
"Wenn man einem Dorf die Schule nimmt, dann ist das für junge Eltern überhaupt nicht mehr attraktiv, sich hier anzusiedeln. Die wirtschaftliche Situation ist schwierig. Das heißt, viele jüngere Leute, die sich noch entschließen hierzubleiben, die fahren nach auswärts arbeiten. Dann ist für die von absoluter Wichtigkeit, dass die Kinder bei uns zuverlässig betreut werden, in Schule und in Horten, also Kita, Schule und Hort."
"Wir sind heute gestärkt"
Einige Erstklässler drängen vom Pausenhof ins Gebäude, Kamala und Bourhan entdecken die Direktorin, stürmen auf sie zu. Gabi Thomas breitet die Arme aus. Die neuen syrischen Schüler retten 2015 die Schule. Drei fremdsprachige Kinder in einer ersten Klasse, das gab es in Golzow noch nie, sagt Gabi Thomas damals.
"Das ist wahrhaftig eine pädagogische Herausforderung. Bei meinen Kollegen war der Wunsch, auch hier weiterzumachen, so groß, dass ohne Weiteres sofort auch Pläne reiften, lasst uns zusammensetzen, wie können wir das Ding stemmen?" Sie organisieren einen Übersetzer, treffen die Eltern, wollen herausfinden, was sie erwarten oder befürchten. Was ist mit der Ernährung? Was ist mit dem Sportunterricht? Sind die Kinder traumatisiert? Fragen, die so in Golzow noch nie gestellt wurden. "Ich weiß noch, dass Halima zu mir sagte: Weißt du, lass sie Unterricht mitmachen, lass sie glücklich mit anderen Kindern zusammen sein, dann vergessen sie das."
Heute werden rund um den "Dorfladen plus" Bierbänke und Tische aufgebaut. Gleich wollen die Golzower über Zukunftsprojekte diskutieren. Gabi Thomas leitet eine Gesprächsrunde. "Insgesamt sind wir gestärkt, auch ich, gestärkt aus der Situation rausgegangen, weil mir das gezeigt hat, wenn irgendwas im Argen ist, wo ein Wille ist, und man bereit ist, irgendwo einen Weg zu gehen, dann klappt das auch."
Um ihre Grundschule muss sie sich erstmal keine Sorgen machen. Die feiert dieses Jahr sechzigjähriges Jubiläum. 22 neue Schüler kamen in die erste Klasse. Und ein neues Dach ist auch genehmigt. Sogar Filmteams kommen jetzt wieder öfter nach Golzow. Vor einigen Monaten drehte der arabische Sender Al-Dschasira in der Schule einen Beitrag über das Leben von Syrern nach der Flucht. Gabi Thomas muss schmunzeln, wenn sie daran zurückdenkt.
"Die anderen Kinder fragten halt: Wieso sind denn da Leute mit einer Kamera? Wen filmen die denn? Da habe ich gesagt: Die filmen nochmal unsere Kinder, die aus Syrien gekommen sind. Aber wieso denn Hamza? Ich sage: Ja, Hamza ist auch mal als kleines Kind mit seinen Eltern aus Syrien geflüchtet, weil da Krieg war. Und die Kinder: Hamza ist kein Deutscher?"
Die erste Pflegerin mit Kopftuch
Hamza und Bourhan sieht sie in der Schule fast jeden Tag. Kamala trifft sie nur noch gelegentlich. Sie hat in Golzow zwei Klassen übersprungen und geht nun auf das Gymnasium in Seelow.
"Wir haben auch gemeinsame Freunde. Und da haben wir uns neulich Mal getroffen. Und obwohl sie ja immer noch so zart ist und wirklich zierlich, erschien sie mir sehr viel erwachsener. Sie war ja sonst immer so ein fröhliches und ein bisschen aufgekratztes Mädchen und sprühte das aus. Und da merkte man schon, dass auch so eine Leistungsschule die Kinder verändert."
In Zechin sitzen Fedi und Hamila auf dem Sofa. Papagei Ziko turnt durch seinen Käfig. Oben unter dem Dach büffelt die 13-jährige Kamala an ihrem kleinen Schreibtisch, vor sich Mathebuch und Tablet. Aufgabe a-i stehen auf dem Plan. Im ersten Jahr auf dem Gymnasium war sie oft traurig, erzählt sie, hat manchmal geweint. Neuer Stoff, neue Lehrer, neue Mitschüler.
"Also, jetzt ist es gut. Aber am Anfang war es so, man wusste nicht, wie dieses Schulsystem ist. Dieses Jahr ist jetzt das zweite Jahr auf dem Gymnasium. Jetzt bin ich in der achten Klasse. Am Anfang war es schwer, aber dann wurde es viel einfacher."
Jetzt in der achten Klasse kommt sie gut klar. Nur bei der Freiwilligen Feuerwehr in Golzow musste sie aufhören. Dafür reicht die Zeit nicht mehr. Augenärztin will sie werden. Das hat sie mir damals schon, vor fünf Jahren, erzählt.
Unten im Wohnzimmer greift Halima noch einmal zur Zigarettenschachtel. Gleich muss sie los nach Frankfurt (Oder) zur Arbeit bei der Wichern-Diakonie in einer Demenz-WG. Halima ist dort die erste Pflegerin mit Kopftuch.
"Die erste Frau mit Kopftuch bei der Arbeit. Die Leute fragen ‚ warum hast du das Kopftuch auf dem Kopf getragen die ganze Zeit, wie schaffst du das? Ja, das schaffe ich. Ich habe immer gesagt, ich habe mein Kopftuch hier in Deutschland viel mehr getragen als in meinem Leben in Syrien. Weil: In Syrien gibt es viele Möglichkeiten für Frauen. Im Schwimmbad oder wenn ich bei meinen Freundinnen bin, dann mache ich mein Kopftuch ab, das sind ja alles Frauen. Aber die Leute denken hier, wir tanzen nicht, wir schwimmen nicht."
Ein neues Leben aufbauen und immer wieder die Erste sein. Die erste Syrerin in Golzow. Die erste Kopftuchträgerin bei der Diakonie in Frankfurt (Oder). Halima erklärt ihren Kolleginnen das Kopftuch. Fedi seinen Kollegen den Ramadan. Geduldig und lächelnd.
"Wir haben gekämpft"
Manchmal aber ärgern sie sich, zum Beispiel wenn Nachbarn sich beim Amt über ihren bellenden Hund beschweren, wobei im ganzen Dorf die Hunde bellen. Halima hat mit den Behörden gesprochen, dann war die Sache erledigt. Auch mit einigen Journalisten hat die Familie schlechte Erfahrungen gemacht. Etwa mit einem Reporter-Duo, das die Familie über ein Jahr immer wieder besuchte, mit seiner Filmcrew öfter auf dem Sofa saß und die syrische Gastfreundschaft genoss. Am Ende war der Film für die Familie eine herbe Enttäuschung: Die Situation in Golzow zu düster, ihr Bild zu ärmlich. Bei der Premiere im Filmmuseum verweigerte Halima dann auch den Blumenstrauß: "Fedi sagte‚ na komm, das ist halt kein guter Film. Aber ich habe gesagt: Nein, ich bin jetzt respektlos. Ich war ein ganzes Jahr respektvoll und jetzt möchte ich nicht mehr."
Halima und Fedi wollten nicht mehr mitmachen. Für eine Fortsetzung des Films standen sie nicht zur Verfügung. Und so zeigt der zweite Teil das Leben der anderen syrischen Familie. Wie tief das Zerwürfnis zwischen Filmteam und Familie ist, das erkennt man in einer Szene: Da ist Golzows Jugendfeuerwehr angetreten. Beide syrischen Mädchen, Nour und Kamala, sind dabei. Doch Kamalas Gesicht ist nicht zu erkennen. Die Autoren mussten es verpixeln. Fedi und Halima wollten ihre Kinder nicht mehr in dem Film sehen.
Kamala und Bourhan kommen die Treppe herunter mit ihren Gitarren und spielen was vor. Das haben sie in Golzow gelernt. Die Familie auf dem Sofa swingt mit. Halima lacht und dirigiert. "Vielleicht kriegt ihr Arbeit in meinem zukünftigen Imbiss. Sie können zwischen den Tischen spielen und die Gäste willkommen heißen im arabischen Imbiss!"
Irgendwann will Halima ein arabisches Restaurant aufmachen. Sie liebt es zu kochen. Und viele in der Region lieben ihr Essen. Gerade wurde wieder ein arabisches Buffet für 80 Personen bestellt. Auch das macht Halima noch nebenbei.
"Im Leben muss man kämpfen. Und wir haben gekämpft. Und wir schaffen das, ja wir haben es geschafft und wir schaffen es noch weiter. Wir versuchen immer, wie bei uns in der Heimat zu leben. Wir hatten ein gutes Leben."
Drachensteigen – Symbol der Freiheit
Das alte Leben – manchmal drängt es mit Macht in den Alltag. Die Erinnerung an Syrien, die Flucht. "Dann kann ich nicht schlafen", sagt Halima. "Ich kann die Flucht nicht vergessen, wieviel Geld wir verloren haben, das ist doch ein verrückter Preis. Und jetzt sollen wir kämpfen, jeden Tag."
Und nun muss sie los, zur Arbeit, weiterkämpfen. Zum Abschied zeigt sie noch auf ein Bild, das über dem Esstisch hängt: ein kleiner Junge mit einem weißen Drachen an der Leine. Im Hintergrund Finsternis. Ein Maler aus der Umgebung hat es der Familie geschenkt, nachdem er den Kleinsten, Hamza, beim Drachensteigen beobachtet hatte.
"Er hat einfach nur dieses Bild gesehen, wie leuchtet die Zukunft für die Kinder. Und im Hintergrund der Krieg, hier sieht man, das sind Waffen. Und trotzdem sieht er die Zukunft mit diesem Drachen. Und er sieht die Freiheit in diesem Bild."