Angst vor Corona
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Mehrbettzimmer, Gemeinschaftsbäder, kaum Infos: Sich vor dem Coronavirus zu schützen, ist für Geflüchtete in Sammelunterkünften schwierig. Die Einrichtungen ganz aufzulösen, fordern Flüchtlingsorganisationen. Länder und Gemeinden sehen das anders.
Mira ist Kurdin und aus Syrien geflohen. Bis vor wenigen Tagen wohnte sie in der Landesflüchtlingsunterkunft in Marl im nördlichen Ruhrgebiet, wo Anfang Mai unter den gut 100 Bewohnern das Coronavirus ausbrach. Mehr als 20 Menschen infizierten sich, wochenlang stand das Flüchtlingsheim unter Quarantäne.
Große Angst, kaum Informationen
Schon vorher seien die Verhältnisse dort schlecht gewesen, erzählt die 34-Jährige, aber danach – ein Alptraum. Es seien plötzlich Menschen in weißen Schutzanzügen da gewesen, die Bewohner mussten Speichelproben für Tests abgeben – aber seien über die Umstände kaum informiert worden. Auch ihr eigenes Testergebnis habe Mira nie erhalten.
Viele hätten große Angst gehabt, dass jemand komme, und sie mitnehme, weil auch sie krank seien. Aus Angst möchte Mira auch anonym bleiben, eigentlich heißt sie anders. Sie wechselt jetzt auf ihren Wunsch hin die Unterkunft und hat sich dadurch – sagt sie – keine Freunde gemacht.
In Nordrhein-Westfalen sind Geflüchtete so lange in Landesunterkünften untergebracht, bis ihr Asylantrag entschieden ist.
Mehrbettzimmer und Gemeinschaftsbäder
Die Landesunterkunft für Flüchtlinge in Marl beherbergt besonders schutzwürdige Flüchtlinge – alleinreisende Frauen, Familien, Menschen mit Traumata. Auf drei Stockwerken leben die Bewohner in Mehrbettzimmern zusammen.
Mira teilte sich ihr Zimmer mit zwei anderen Frauen. Wie in allen Landesunterkünften gibt es Gemeinschaftsbäder, dreimal am Tag wird in einer Kantine Essen serviert. Hygieneregeln sind so schwer einzuhalten, kritisiert die Vorsitzende des Flüchtlingsrats NRW, Birgit Naujoks.
"Alle benutzen die gleiche Kantine mit den Ansteckungsherden, die dann möglicherweise noch vorhanden sind", sagt sie. "Ähnlich ist es mit den sanitären Anlagen, die ja nach wie vor gemeinschaftlich genutzt werden."
Außerdem seien viele Geflüchtete zu Beginn der Pandemie nicht gut über das Coronavirus informiert worden. Es habe Aushänge zum richtigen Händewaschen gegeben.
"Allerdings gab es keine, insbesondere keine mehrsprachigen Informationen darüber, was Corona tatsächlich bedeutet", sagt Birgit Naujoks. "Wie gefährlich eine Infektion ist, dass es bestimmte Risikogruppen gibt und so weiter, sodass viele Bewohner tatsächlich Angst hatten: Wenn das Virus kommt, dann müssen wir sterben."
Allein gelassen und ohne Zugang zur Außenwelt
Hinzu kommt, dass Flüchtlinge in den Landesunterkünften häufig nur in Aufenthaltsräumen Internetzugang haben. Insbesondere unter Quarantäne sollten diese aber gemieden werden.
Ohne Zugang zur Außenwelt und mit den Sorgen alleine – die 34-jährige Syrerin Mira erlebte diese Zeit in Marl als sehr belastend. Wir waren erschöpft, gestresst und voller Angst, sagt sie.
Seit Beginn der Pandemie hat es in NRW in mindestens fünf Landes-Flüchtlingsheimen Coronaausbrüche gegeben. Allein in Sankt Augustin bei Bonn haben sich mehr als 170 Menschen – Bewohner und Personal – infiziert. Auch in Euskirchen, Mettmann und in Essen gibt es Infektionen.
Da die Geflüchteten allerdings qua Gesetz in den Landesunterkünften bleiben müssen, haben sie kaum Möglichkeiten, sich selbst zu schützen.
Vorwürfe an schwarz-gelbe NRW-Landesregierung
In der NRW-Landespolitik ist deshalb ein Streit über den richtigen Umgang mit den neuen Gefahren ausgebrochen. Die Grünen werfen der schwarz-gelben Regierung vor, Flüchtlinge in der Pandemie alleingelassen zu haben.
"Es macht mich wirklich fassungslos, dass Menschen, die der sogenannten Risikogruppe angehören, das heißt Menschen mit Vorerkrankungen, ältere Menschen, immer noch unter katastrophalen Bedingungen in diesen Einrichtungen einer wirklich lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt sind. Die müssen da ganz schnell raus", sagt Berivan Aymaz, Landtagsabgeordnete der Grünen und Fraktionssprecherin für Flüchtlingspolitik.
Auch die SPD wiederholt in einer Landtagsdebatte ihre Kritik an den großen Landesunterkünften, die zum Teil bis zu 1000 Menschen beherbergen können – allerdings bei den aktuell niedrigen Flüchtlingszahlen oft nur zur Hälfte belegt sind.
"Die Coronapandemie hat ja jetzt hier noch einmal sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Massenunterkünfte nicht das richtige sind, um die Geflüchteten unterzubringen", sagt der integrationspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Ibrahim Yetim.
Integrationsminister weist Kritik zurück
Der Integrationsminister und stellvertretende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp, FDP, kann die Kritik nicht verstehen. NRW habe sich 2018 bewusst gegen die vom Bund vorgeschlagenen zentralen Ankerzentren für Flüchtlinge und stattdessen für rund 30 dezentrale Unterbringungen entschieden.
"Wir sollten nicht von Massenunterkünften und Corona-Chaos in den Unterkünften sprechen", erwidert er im Düsseldorfer Landtag.
Sein Ministerium habe außerdem landesweit 5000 neue Plätze geschaffen, um die Wohnsituation der Flüchtlinge zu verbessern und Risikogruppen zu schützen.
"Davon sind fast 4000 umgesetzt, der letzte Rest ist noch in der Umsetzung", sagt Joachim Stamp. "Sie müssen immer überlegen: Das bedeutet, kurzfristig einen entsprechenden Betreiber zu finden, entsprechendes Sicherheitspersonal und auch eine entsprechende Liegenschaft."
Die Angst bleibt - auch in der neuen Unterkunft
Ja, es habe ernsthafte Probleme in den Unterkünften gegeben, räumt Stamp ein. Man sei auch weiterhin mit den zuständigen Bezirksregierungen und Betreibern im Gespräch, um Hygienemaßnahmen, systematische Tests und Quarantäne zu unterstützen.
Aber er stellt klar: "Dass wir hier eine Infektion in Einrichtungen, wo es einfach immer mit vielen Menschen dieses Restrisiko geben wird, nicht völlig ausschließen können."
Für Mira aus Syrien bleibt deshalb die Angst, auch in der neuen Unterkunft. Sie versucht, sich zu schützen, Abstandsregeln einzuhalten. Das ist schwierig in der Sammelunterkunft, in der sie lebt. Aber dort muss sie bleiben, bis ihr Asylantrag entschieden ist.