Daniel Loick ist Associate Professor für politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Von ihm erschien 2017 das Buch „Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts“ im Suhrkamp Verlag.
Umgang mit Geflüchteten verschiedener Herkunft
Die Hilfsbereitschaft mit den Menschen aus der Ukraine ist groß - aber Geflüchtete aus anderen Ländern verdienen unsere Solidarität gleichermaßen, fordert Daniel Loick. © imago / CHROMORANGE
Solidarität, mit wem?
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Geflüchtete aus der Ukraine werden in der EU mit viel Hilfsbereitschaft empfangen. Diese Willkommenskultur ist sehr erfreulich, steht aber in schmerzhaftem Kontrast zum Umgang mit Schutzsuchenden von anderswo, kommentiert der Philosoph Daniel Loick.
Die Welle der Hilfsbereitschaft gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine ist bewegend und wichtig, weil sie zeigt, dass es noch viele Menschen gibt, für die Solidarität nicht an der eigenen Landesgrenze aufhört.
Sie ist eine Erinnerung an die „Willkommenskultur“ während des „Sommers der Migration“ 2015, von dem noch im letzten Wahlkampf einige Politiker meinten, er dürfe sich „nicht wiederholen“.
Wärme für die einen, Kälte für die anderen
Umso schockierender ist es, die Berichte zu lesen, nach denen afrikanischen Studierenden, die sich zu Kriegsbeginn in der Ukraine aufgehalten hatten, die Flucht deutlich schwerer gemacht wird. Bilder zeigen, wie sie aus Zügen gedrängt, an Grenzen abgewiesen oder rassistisch beleidigt werden.
Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen erwünschten und unerwünschten Geflüchteten, wenn man die Hilfsbereitschaft gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern mit der europäischen Flüchtlingspolitik gegenüber Angehörigen anderer Staaten vergleicht.
Nur wenige Kilometer vom polnisch-ukrainischen Grenzübergang entfernt, an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland, werden Geflüchtete statt mit warmen Decken und einer Suppe mit Tränengas und Wasserwerfern begrüßt, mindestens 21 von ihnen sind seit letztem Jahr im Niemandsland erfroren. Und im Jahr 2021 sind 1700 Menschen bei dem Versuch, in die EU zu fliehen, im Mittelmeer ertrunken.
Dabei haben all diese Menschen ein ganz ähnliches Schicksal erlitten wie die Ukrainerinnen und Ukrainer: Auch sie müssen ihre Heimat aufgrund von Krieg, Hunger oder menschenverachtenden Regimen verlassen.
Wie lassen sich diese gegensätzlichen Reaktionen erklären? Und welche politischen Konsequenzen sollten aus ihnen gezogen werden?
Auf der einen Seite gilt es anzuerkennen, dass hinter jeder Willkommenskultur ein politischer Erfolg steckt: der jahrelangen harten Arbeit von Menschenrechtsgruppen und antirassistischen Initiativen, das gesellschaftliche Klima zu verändern und menschenfeindliche Ideologien zurückzudrängen. Auf der anderen Seite zeigt sich in der selektiven Solidarität aber eben auch der unterschiedliche Wert, der menschlichem Leben beigemessen wird.
Verschiedene Wertigkeiten von Leben
Die Philosophin Judith Butler beschreibt diese differenziellen Wertigkeiten mit dem Begriff der Betrauerbarkeit: Sowohl unsere Politik, als auch unser individuelles Handeln finden innerhalb dessen statt, was Butler „Deutungsrahmen“ nennt, kulturell geprägte Wahrnehmungsmuster, in denen nur bestimmtes Leid als beklagenswert erscheint und anderes Leben nicht zählt.
Der entscheidende Marker dieser Differenz ist häufig der Rassismus, und dabei spezifisch der anti-schwarze Rassismus – der manchmal ganz offen zugegeben und proklamiert wird, noch häufiger aber unbewusst und nicht-intendiert reproduziert wird.
Solidarität kann Brücken bauen
Der Idee der Solidarität wohnt aber ihrem Wesen nach ein entgrenzendes Moment inne. Denn Solidarität ist etwas anderes sowohl als eine strategische Kooperation zwischen Menschen mit gleichen Interessen, als auch als bloße karitative Wohltätigkeit.
Solidarität bedeutet erstens, die anderen als Gleiche anzuerkennen, beinhaltet aber zweitens auch den Willen, von Eigeninteresse und Kalkül abzusehen. Die Idee der Solidarität verbindet daher das Prinzip der Gleichheit mit dem Zulassen von Differenz und Andersheit.
Das ist die Aufgabe, die uns die gegenwärtige Krise stellt – eine Solidarität auch mit denjenigen zu praktizieren, die wir nicht als ähnlich identifizieren – weil wir zum Beispiel nicht eine gemeinsame Herkunft, Religion oder Kultur teilen.
Dass eine solche Öffnung – den Spaltungen der Regierungen und ihrer Grenzschutzagenturen zum Trotz – zumindest potenziell möglich ist, zeigt sich an den spontanen Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger auf das Leid von Menschen in Not.