Geflüchtete

Warum Hilfsnetzwerke funktionieren

Eine Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Chios.
Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Chios: Hilfe ist dringend nötig © AFP/Louisa Gouliamaki
Von Tabea Grzeszyk mit Catherine Lenoble und Nikolia Apostolou |
Seitdem die Flüchtlinge über das Meer kommen, sind auf den griechischen Inseln erstaunliche Solidaritätsnetzwerke entstanden, oftmals in Form selbst organisierter Direkthilfe. Was treibt die Helfer an? Tabea Grzeszyk hat nachgefragt.
"Ein syrischer Flüchtling stirbt und seine Seele wandert in den Himmel. Als sie dort ankommt, versperrt ihr ein Engel das Tor. Der Flüchtling fragt: Warum stoppst Du mich? Lass mich rein! Ich bin Syrer, ich habe viel gelitten, der Krieg und all das! Der Engel antwortet: Sir, es tut uns leid. Aber Ihre Fingerabdrücke sind in Griechenland. Sie müssen zurück!"
Lachen hilft - zumindest ihm selbst. Rami Qudmany, ein 29-jähriger Flüchtling aus Syrien mit akkurat gestutztem Vollbart und blitzenden Augen. Seit Sommer 2016 steckt er auf der griechischen Insel Lesbos fest und wartet auf seine Papiere, um zu seinen Eltern zu reisen. Sie haben in Deutschland Asyl beantragt. Doch seit dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei sind die Grenzen dicht.

Gestrandet

Rami Qudmany kommt aus Damaskus, er hat als 3D-Designer gearbeitet. Heute wohnt er vorübergehend im kleinen Fischerdorf Skala Sikamineas an der nordöstlichen Küste von Lesbos. An den zerklüfteten Stränden kommen noch immer die meisten Flüchtlinge an Land, die türkische Grenze ist keine 15 Kilometer Luftlinie entfernt. Mittlerweile hat der 29jährige "die Seiten gewechselt" und unterstützt verschiedene Hilfsorganisationen als Volunteer.
"Ich war bei "Waha Doctors", "EU Relief", "Lighthouse", für eine portugiesische Organisation habe ich Fotografie und Designkurse gegeben. Ich helfe bei Übersetzungen oder Weiterbildungen, ich möchte einfach helfen. Ich arbeite für alle möglichen Organisationen - darum bezeichne ich mich als "freiberuflicher Flüchtling. Manche sind von weit her gekommen, nur um Menschen zu helfen - dafür bin ich sehr dankbar. Sie wollten die Wahrheit sehen und nicht auf die Nachrichten hören, die sagen, dass Flüchtlinge gefährlich sind. Sie sind gekommen, um zu helfen, um die Situation selbst zu sehen."
Es geht um nichts weniger als eine Utopie der internationalen Solidarität und Freundschaft. Ausgerechnet auf der griechischen Insel Lesbos, die längst zum Symbol für die Flüchtlingstragödie in Europa geworden ist. Ohne die Unterstützung durch hilfsbereite Inselbewohner, freiwillige Helfer und NGOs wäre die Versorgung der Flüchtlinge kaum möglich. Im Spätsommer 2015 erlebt Europa eine Phase ungeahnter Menschlichkeit. Grenzen werden geöffnet. Zehntausende leisten unbürokratisch Nothilfe. Deutschland erlebt sein "humanitäres Sommermärchen".

Warum wir für andere da sind

Doch - warum eigentlich? Das Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer ist nicht neu, seit Jahrzehnten fliehen Menschen. Was hat sich 2015 verändert, dass so viele Normalbürger über Nacht zu Flüchtlingshelfern geworden sind? Und was verschiebt sich im europäischen Superwahljahr 2017, seitdem freiwillige Helfer zunehmend als "politisch naive Gutmenschen" diffamiert werden?
Der Verhaltensforscher Mehdi Moussaid hat am Berliner Max Planck Institut für Bildungsforschung im September 2016 eine interessante Studie veröffentlicht: "Kooperationsmuster in kollektiven Notsituationen im Flüchten-oder-helfen-Sozialdilemma". Darin geht er der Frage nach, wie sich die Hilfsbereitschaft von Menschen in Notsituationen verändert. Wenn es um Leben oder Tod geht: Helfen wir anderen, oder retten wir uns lieber selbst?
"Wir haben Menschen in einen Raum gebracht und eine Person hatte die Entscheidungsmacht, ob er oder sie sofort flüchten wollte, um große, monetäre Nachteile zu vermeiden - oder sich Zeit nimmt, anderen zu helfen. Es ist eine schwierige Entscheidung, weil die anderen dich einfach anschauen und um Hilfe bitten. Das Dilemma besteht darin, dass du siehst, dass du viel Geld verlieren wirst, wenn du nich schnell abhaust. Also musst du entweder sagen: Okay Leute, der Nachteil ist zu groß!, und du flüchtest und lässt die anderen zurück. Oder du schaust in ihre Augen und sagst: Ich helfe euch, komme, was wolle."

Notsituationen wirken als Verstärker

Um dieses "Flüchten oder helfen" - Dilemma zu erforschen, hat Mehdi Moussaid zwei Szenarien entwickelt, die er von rund hundert Probanden am Computer durchspielen ließ. Szenario 1: Der Proband möchte einen Zug am Bahnhof erwischen und muss entscheiden, ob er auf dem Weg dorthin Mitreisenden hilft. Szenario 2: Der Bahnhof wird evakuiert. Je mehr Menschen der Proband hilft, desto geringer sind seine eigenen Chancen, zu entkommen. Moralisch gesehen ein unlösbarer Konflikt, doch das Experiment führte zu klaren Ergebnissen.
"Wir konnten beobachten, dass Menschen, die pro-sozial eingestellt sind, die von sich aus altruistisch sind, dazu tendieren, anderen in kritischen Situation noch mehr zu helfen. Und umgekehrt tendieren eher eigennützig eingestellte Menschen dazu, anderen in Notsituationen noch weniger zu helfen. Man kann sagen, dass ein Notfall die "wahre Natur" des Menschen zum Vorschein bringt."
Doch was ist die "wahre Natur" eines Menschen? Für sein Experiment hat Mehdi Moussaid alle Probanden zuvor auf ihr "soziales Wertesystem" getestet - beim sogenannten "Social Value Measurement" wird davon ausgegangen, dass Menschen in eines von vier Persönlichkeitsprofilen passen: eher altruistisch, pro-sozial, individualistisch oder egoistisch. Ermittelt wird das Profil anhand der Verteilung einer Ressource, zum Beispiel Geld, für die sich ein Proband entscheidet. Teilt er den Betrag "gerecht" mit seinem Gegenüber, 50:50? Steckt er selbst alles ein und lässt den anderen leer ausgehen? Oder gibt er die gesamte Summe ab und verzichtet?
"Normalerweise liegen Menschen in der Mitte. Pro-sozial eingestellte Menschen versuchen, beide Beträge zu maximieren. Das heißt, wenn ich so viel bekomme, wie möglich, und Du bekommst so viel, wie möglich, bin ich glücklich. Individualisten dagegen sind stärker und ausschließlich auf ihr eigenes Einkommen fokussiert, also versuchen sie, so viel wie möglich zu bekommen, egal wie viel der andere bekommt."
Im "Flüchten oder helfen"-Experiment waren 44 Prozent der eher uneigennützig eingestellten Probanden in der Notsituation noch hilfsbereiter als in der Alltagssituation. Umgekehrt verringerte sich die Hilfsbereitschaft von Probanden mit individualistischem Persönlichkeitsprofil um 52 Prozent. Notsituationen wirken als Verstärker - im Guten, wie im Schlechten.
Wenn sich im Spätsommer 2015 eine signifikante Zahl an Menschen in der Flüchtlingshilfe engagieren, liegt es nahe, dass sie zu diesem Zeitpunkt den Krieg in Syrien und die Flucht hunderttausender Menschen in die EU als "Notsituation" wahrnehmen. Ob und wann man so empfindet, hat oft weniger mit Fakten zu tun - als vielmehr mit Bildern.
"Wenn ich mir das jetzt anschaue, denke ich: Haben wir das wirklich überlebt? Haben wir das wirklich bei uns zuhause erlebt? Du kannst es nicht fassen, es fühlt sich an wie ein Horror-Dokumentarfilm."

Bilder des Grauens und ihre Wirkung

Viele Aufnahmen aus Lesbos stammen von der griechischen Journalistin Nikolia Apostolou. Ich treffe sie in einem Café. Über Nikolia Apostolous aufgeklappten Bildschirm tanzen Momentaufnahmen: Völlig durchnässte Menschen, die in Schlauchbooten die Insel erreichen. Die meisten überglücklich, weil sie es geschafft haben. Andere in tiefer Verzweiflung, weil sie Angehörige verloren haben. Die Bilder gehen unter die Haut.
"Es war wie jeden Tag: Um fünf Uhr morgens, sobald die Sonne rauskam, bist du aufgestanden, der Tag ging vorüber und du hast dich gefragt: Wie viele Menschen sind heute angekommen? Tausend? Fünftausend? Sechstausend?"
Oft war Nikolia Apostolou die erste Person, der die Flüchtlinge begegnen.
"Viele haben mich nach ihrer Ankunft gefragt: Kannst du die Polizei rufen? Anfangs habe ich sie tatsächlich gerufen und sie haben mir gesagt, ruf die Küstenwache an, die sind dafür zuständig. Also habe ich die Küstenwache angerufen und die sagten mir: ruf die Polizei an! Natürlich hatten sie nicht genügend Mitarbeiter, Autos, Busse. Aber die Flüchtlinge, die dich darum bitten, sind Menschen, sie schauen dir in die Augen. Also habe ich gesagt: Sie werden nicht kommen und euch abholen, aber ich werde es versuchen!"
Die Bilder aus Lesbos sind um die Welt gegangen. Welch erschütternde Wirkung ein einziges Bild haben kann, beschreiben amerikanische und schwedische Forscher in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "PNAS". Das Team um den Psychologen Paul Slovic von der Universität Oregon in Eugene hat die globale Reaktion auf das Foto des Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi untersucht.
Das erste Aylan-Kurdi-Graffiti in Frankfurt
Das originäre Aylan-Kurdi-Graffiti in Frankfurt© dpa/picture alliance/Arne Dedert
Der leblose Körper des Dreijährigen wurde am 2. September 2015 an der türkischen Küste an Land gespült. Mehr als 20 Millionen Menschen hat die Aufnahme über soziale Medien erreicht, internationale Zeitungen druckten sie auf ihren Titelseiten. Neben einem dramatischen Anstieg von Suchbegriffen wie "Syrien" oder "Flüchtlinge" beschreiben die Forscher, wie sich die Tragödie auf die weltweite Hilfsbereitschaft ausgewirkt hat:
In der ersten Woche nach Veröffentlichung des Fotos stieg die durchschnittliche Anzahl täglicher Spenden an das Rote Kreuz um mehr als das Hundertfache. Der dabei gespendete Betrag lag im Schnitt 55-mal höher als in der Woche zuvor. Der Effekt hielt jedoch nur vorübergehend an: Nach sechs Wochen lagen alle Spenden wieder auf dem vorherigen Niveau.

Der barmherzige Samariter

Bilder können "anstecken" - wenn auch nur für bestimmte Zeit. Im Mittelalter wurde die Hilfe für Arme und Schwache vor allem religiös begründet. Im christlichen Kulturkreis ist der "barmherzige Samariter" zu einem Vorbild geworden, das bis heute in der säkularisierten Form des "Arbeiter Samariterbunds" fortlebt.
"Das Mitleid, das der barmherzige Samariter verspürt, das ist ganz grundlegend für die christliche Barmherzigkeit", erklärt der Historiker Tillmann Bendikowski. "Ohne dieses Mitleid, es heißt in der Bibel da genauer: "Ihm drehten sich die Eingeweide um", so elend war ihm angesichts der Not, also ohne dieses Mitleiden gibt es keine christliche Barmherzigkeit. Und kein Mitleid ohne Helfen, das heißt, das Christentum akzeptiert kein Mitleid, ohne das daraus resultierende Helfen."
In seinem Buch "Helfen. Warum wir für andere da sind" zeichnet Tillmann Bendikowski die lange europäische Tradition des Helfens nach und betont, in der Geschichte des barmherzigen Samariters steckt auch eine Provokation: Auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho sehen ein Pfarrer und ein Levit einen schwer verletzten Mann am Wegesrand liegen, doch sie helfen ihm nicht. Wer sich erbarmt und die Wunden versorgt, ist ein Mann aus Samarien, ein Andersgläubiger aus der Ferne.
"Das ist völlig unerwartet, die Zuhörer, denen Jesus diese Geschichte erzählt, die staunen natürlich: Was, der Mann hilft? Dieser Samariter hilft? Das wäre heute so, wenn in Amerika ein gut verdienender, weißer Mittelklassemann, nicht gerade der Präsident Trump, aber ein ähnlicher, am Straßenrand liegt, verwundet, überfallen, halbtot. Da kommt auf dem Pferd, oder heute im Auto, der barmherzige Samariter und das wäre heute, wenn Sie so wollen, der schwule, illegale Latino. Das ist die Provokation in dieser Geschichte. Das heißt der, von dem man es als Allerletztem erwartet, der kommt, der bleibt stehen, der wendet sich diesem Mann zu und der hilft."
Während in Europa um eine gemeinsame Flüchtlingspolitik gerungen wird, leisten Inselbewohner und Helfer aus aller Welt humanitäre Soforthilfe. Die ersten, die Menschen aus dem Wasser gerettet und Schlauchboote an Land gezogen haben, waren Fischer des 300-Seelendorfs Skala Sikamineas.
"Wir haben unsere Arbeit unterbrochen, um Flüchtlingsbooten zu helfen, die Probleme hatten oder sanken. Ich habe die Netze von meinem Boot runtergenommen, damit Flüchtlinge dort Platz finden."
Erzählt Costas Pinteris. Um 5 Uhr morgens fährt der Fischer mit seinem hellblauen Fischerboot raus aufs Meer. An einer Holzvorrichtung am Heck baumeln eine abgerissene Jeans und schimmernde Ketten im Wind.

Selbstorganisierte statt institutionalisierter Hilfe

"Ich habe diese Hose in meinem Netz gefangen. Flüchtlinge haben mir die Gebetsketten geschenkt. Ich hoffe wirklich, dass wir das nicht nochmal durchmachen müssen. So viele Menschen haben ihr Leben verloren. Es sind doch nur Leute, die versuchen, zu überleben. Aber es sieht so aus, als würden unsere europäischen Partner nicht helfen."
Das Fischerdorf Skala Sikamineas auf der griechischen Insel Lesbos
Freiwillige organisieren die Hilfe auf der griechischen Insel Lesbos© Alkyone Karamanolis
Auf Lesbos ist eine erstaunliche Infrastruktur entstanden, die auf dem persönlichen Einsatz von Freiwilligen beruht: Selbstorganisierte Netzwerke, die anfangs chaotisch nebeneinander her, doch allmählich immer besser aufeinander abgestimmt arbeiten. Aber klappt das auf Dauer? Der Historiker Tillmann Bendikowski warnt davor, dass eine der großen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts - die Einführung institutionalisierter Hilfe - zunehmend erodiert.
"Man könnte heute, wenn man die Reformen des Sozialstaates sieht, von einer Rolle rückwärts sprechen. Der Staat zieht sich zunehmend, oder zumindest stellenweise, aus seiner Verantwortung als institutioneller Helfer zurück. Die Frage ist, ob dieses Vakuum, das der Staat hinterlässt, von irgendwem gefüllt werden kann. Diese Bürgergesellschaft, die angerufen wird, und die neue Wertschätzung des Ehrenamts, die wir seit einigen Jahren erleben, geht ja davon aus, dass nun die Ehrenamtlichen, die Zivilgesellschaft, diese Löcher stopft."
Vor allem eine junge Generation zwischen zwanzig und Mitte dreißig scheint die Löcher zu stopfen: Spanische Rettungsschwimmer von "Proactiva", die anfangs nichts als Surferanzüge und Schwimmflossen hatten, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Freiwillige der schwedisch-griechischen Organisation "Lighthouse Relief", die das Mittelmeer mit Nachtsichtgeräten nach Booten absuchen und nach einer Landung die Strände frei räumen. Die von einer Australierin gegründeten "Dirty Girls", die zurückgelassene Rettungswesten, Kleider, Decken und Schuhe waschen und recyceln.
Eine der ersten griechischen Initiativen ist "Pikpa Village", eine nichtstaatliche Flüchtlingsunterkunft, die von der Gemeinschaft "Lesvos Solidarity" betrieben wird.
"Die Menschen, die wirklich am meisten an der Last getragen haben, waren Leute, die keinen Nutzen aus der Situation erwarten konnte, für ihre Karriere oder in politischer Hinsicht. Ich werde Begriffe benutzen, die überstrapaziert wurden und ihre Bedeutung verloren haben, aber es waren Menschen, die ‚aus ihrem Herzen‘ heraus geholfen haben. Aus dem Glauben an tief empfundene Tugenden wie Solidarität und Aktion, viele haben Meetings und Gruppendiskussionen und Beschlüsse auf Papier - aber sie handeln nicht danach."
Lena Altinoglou hat "Pikpa Village" westlich von der Hauptstadt Mytilene mit aufgebaut. "Pikpa" ist eine vorübergehende Unterkunft für rund 100 Flüchtlinge, die auf der Insel festsitzen. Wenn Lena Altinoglou von den Anfängen des selbstorganisierten Flüchtlingslagers erzählt, muss man genau hinsehen, um die Tränen zu entdecken, die sich für Momente in ihren Augenwinkeln sammeln. Bei allem Leid, von dem die Mittsechzigerin mit fester Stimme erzählt: Es bleibt unübersehbar, wie sehr sie die starke Gemeinschaft berührt, die aus der Not heraus entstanden ist.
"Ich lebe hier seit 20 Jahren. Soweit ich weiß, war es die erste Initiative von gewöhnlichen Leuten, Leuten von hier, die helfen wollten. Zum ersten Mal ist es uns gelungen, einen Ort zu bekommen und ihn ohne äußere Einmischungen zu unterhalten. Wir haben alle willkommen geheißen, die uns helfen wollten. Es war eine einmütige und sehr starke Verbindung, die wir mit allen möglichen Leuten hatten, mit unterschiedlichen Hintergründen, politischen Idee und so weiter."

Willkommenskultur im Bergdorf

Im kleinen Bergdorf Klio, rund acht Kilometer von der Küste entfernt, schließt Alice Kleinschmidt die Eisentür zu einer stillgelegten Käserei auf. Hier betreibt die deutsche Initiative "Borderline Europe" eine Art Wärmestube für neu ankommende Flüchtlinge.
"Mein Logbuch: Acht Uhr morgens, 25 Leute, bis zwölf Uhr waren sie hier. Das schreibe ich immer auf, wo die hier angekommen sind und wer dabei war: Lightouse, Volunteers, Frontex, Küstenwache."
In einem kleinen Notizbuch hält Alice Kleinschmidt die aktuellen Zahlen fest. Durch das Flüchtlingsabkommen vom März 2016 kommen sehr viel weniger Menschen auf den griechischen Inseln an: Statt 10.000 Flüchtlinge am Tag waren es im Frühjahr 2017 rund 40. Dass alle Neuankömmlinge in das völlig überfüllte Lager "Moria" gebracht werden, stellt Helfer wie Alice Kleinschmidt vor ein Dilemma.
"Man gibt hier so einen Schokokeks und sagt dann: Jetzt viel Spaß, fahrt mit Frontex in dieses Lager! Man weiß, dass es dann nicht für alle Versorgung gibt, man weiß, dass Sie da Monate ausharren müssen. Und das Schlimmste finde ich im Moment, dass sie das nicht wissen, wirklich viele das überhaupt nicht wissen! Die denken dann, kann ich laufen nach Athen?, kann ich ein Flugzeug nach Deutschland nehmen?, ich habe einen Onkel da und da? Und dann muss ich mir immer überlegen, ob ich das jetzt in den ersten Stunden der Ankunft sage, oder ob ich sage: Naja, ihr werdet schon sehen, das mache ich mal so, mal so. Und Frontex, da informiert keiner, das ist nicht deren Aufgabe."
Zurzeit sind knapp über 4.000 Menschen hier untergebracht, von Gruppenzelten für 50 Mann bis zu klapprigen Iglu-Zelten, über die Plastikplanen zum Schutz gegen Regen und Schnee gespannt wurde. Journalisten wird der Zugang verwehrt.
"Moria ist ein Hotspot, ein Internierungslager. Die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge und vor allem Kinder und besonders verletzbare Menschen leben, sind unzumutbar. Es ist ein geschlossenes Lager, es gibt nur sehr eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die wenigen Leistungen, die zur Verfügung gestellt werden, ermöglichen kein würdevolles Leben."
Sagt die Kinderschutzbeauftragte Roberta Businaro. Ihre Hilfsorganisation "Save the children" ist eine der offiziell registrierten Hilfsorganisationen, die innerhalb des Lagers aktiv sind. Ein großes Problem ist laut Roberta Businaro, dass minderjährige Flüchtlinge immer wieder als Erwachsene registriert werden. Über 30 Fälle bearbeitet "Save the Children" zur Zeit. Im Gespräch mit Roberta Businaro wird deutlich, wie sehr die katastrophalen Bedingungen im Hotspot die Flüchtlinge, aber auch die Helfer auf eine Zerreißprobe stellen.
"Es ist für mich sehr schwierig. Ich habe in den letzten vier Jahren in Irak, Libanon und Jordanien gearbeitet. Ich bin hierher gekommen, weil ich es als meine Pflicht als Europäerin gesehen habe, auf diese Krise zu reagieren, die in der Verantwortlichkeit sehr unterschiedlicher Akteure liegt. Es ist natürlich extrem frustrierend, weil es sehr viele geschlossene Türen gibt und sehr langsame Entwicklungen. Aber was mich weitermachen lässt, ist der kleine Erfolg, den du jeden Tag hast. Am Ende des Tages denke ich immer an das letztliche Ziel, die Kinder, die wir mit psychologischem Beistand, mit einem Lächeln, mit einer Hand, mit einer Umarmung unterstützen und zu garantieren versuchen, dass ihre Rechte respektiert werden."

Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, aber auch ehrenamtliche Helfer gehen an ihre Grenze, sie verteidigen Menschlichkeit in einem oft unmenschlichen Umfeld. Sie halten durch, auch wenn die Zeit der uneingeschränkten Solidarität mit Flüchtlingen, die von vielen hundert ehrenamtlichen Helfern entlang der Balkanroute ermöglicht wurde, vorbei zu sein scheint.
Blick auf ein Zelt, in dem auf der griechischen Insel Samos Flüchtlinge untergebracht sind.
Griechenland ist mit der Unterbringung und Versorgung der Geflohenen überfordert© Deutschlandfunk / Michael Lehmann

Wo staatliche Hilfe versagt

Wie verlässlich also sind die Zahlen, die die Wissenschaft in Sachen Hilfsbereitschaft ermittelt und lassen sich aus ihnen Prognosen ablesen für die Zukunft des Helfens? Der Verhaltensforscher Mehdi Moussaid gibt zu bedenken, dass in der Forschung oft ein "zu positives" Menschenbild gezeichnet wird. Pro-soziales Verhalten unter Laborbedingungen sei kein repräsentatives Abbild für unsere Gesellschaften.
"Es gibt eine Verzerrung in den Wissenschaften, da wir für unsere Experimente normalerweise Studenten anwerben; sie sind jedenfalls die ersten, die zu uns kommen. Universitätsstudenten sind nicht so repräsentativ für die große Mehrheit der Menschen, vor allem aber fallen sie überwiegend in die pro-soziale Kategorie. Diese Tendenz spiegelt sich in den Experimenten. Deshalb ist es wichtig zu messen, welche Person man vor sich hat, bevor man ein Experiment ausführt. Wir haben eine Mehrheit pro-sozialer Probanden, aber ich möchte auch genau hinsehen, wie sich andere Menschen verhalten, dafür müssen sie in gleicher Anzahl berücksichtigt werden."
Am Beispiel der Flüchtlingskrise lassen sich so Rückschlüsse ziehen, wie die Verhältnisse in der Gesellschaft sind. Inzwischen stehen den pro-sozialen Helfern, die bis heute Flüchtlinge nach Kräften unterstützen, eine immer militanter werdende Gruppe Europäer gegenüber, die diese Hilfsbereitschaft ablehnt. Allein in Deutschland gab es im Jahr 2016 laut Bundesinnenministerium zehn Übergriffe gegen Flüchtlinge und Asylunterkünfte am Tag. Für den Verhaltensforscher Mehdi Moussaid ist es wichtig, das komplette Spektrum menschlichen Verhaltens zu verstehen, um zu realistischen Einschätzungen zu kommen. Die Wissenschaft könne beschreiben, was ist - und nicht, ob und wie sich das Verhalten von Menschen ändern ließe.

Als Gutmenschen diffamiert

"Es ist schwer, Menschen zu klassifizieren, diese Person ist jetzt und für alle Zeit pro-sozial. Und diese Person ist jetzt und für alle Zeit der Bösewicht. Es ist sicherlich komplizierter. Wir wissen noch nicht, wie man eingreifen kann, damit Menschen bessere Entscheidungen treffen und bessere Urteile fällen über die Situation, die sie umgibt, vor allem weil soziale Interaktionen persönliche Meinungen stark beeinflussen. Aber wir sind dabei, es zu verstehen."
Zurzeit wird vor allem in sozialen Netzwerken der Kampf der Meinungen ausgetragen. Refugees Welcome? Der Slogan, der einst als Ausdruck für Solidarität und Menschlichkeit in ganz Europa verwendet wurde, wird zunehmend als Vorwurf für politische Naivität genutzt. Für den Historiker Tillmann Bendikowski ist das eine brandgefährliche Entwicklung.
"Also jeder Diffamierungsversuch von Helfern an Flüchtlingen ist letztlich ein Versuch der De-Zivilisierung unserer Gesellschaft. Man darf das gar nicht hoch genug einschätzen. In dem Moment, wo man Helfer diffamiert, beschädigt man die Kultur des Helfens gezielt, und wo die Kultur des Helfens beschädigt wird, wissentlich, ist auch unsere gesamte Zivilisiertheit in Gefahr. Der Firniss der Zivilisation, der uns umgibt - ist hauchdünn."
Während sich die politische Auseinandersetzung in Europa zuspitzt, Flüchtlinge längst die Route geändert und nun über Libyen die lebensgefährliche Überfahrt nach Italien wagen, sitzt Rami Qudmany noch immer auf Lesbos fest. Rami Qudmany, der sich "freelance refugee" nennt und neu ankommenden Flüchtlingen hilft. Der in dem kleinen Café Oji am Fischerhafen seinen unerschütterlichen Optimismus verteidigt.
"Ich bin einfach ein Mensch, der Hoffnung hat. Zum Beispiel habe ich jetzt eine schwierige Zeit, aber sie wird vorüber gehen. Ich hatte schon früher viele harte Zeiten, und sie haben sich immer zum Besten gewendet. Du musst Hoffnung haben, um dein Leben fortzusetzen, du kannst nicht einfach enttäuscht zusammenbrechen. Du musst Hoffnung haben und weitermachen."
Dann geht die Tür auf und 19 völlig durchnässte Menschen kommen zitternd in den Vorraum des Cafés. Zwei kleine Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer. Die Gäste im Café Oji springen auf, die meisten sind freiwillige Helfer. Blitzschnell verteilen sie Kälteschutzdecken, bringen Koffer mit trockenen Kleidern in verschiedenen Größen. Drei Minuten, 21 Sekunden.
Hier sind vier Kinder und fünfzehn Erwachsene, die trockene Kleidung brauchen. Plötzlich ist Helfen ganz einfach.
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