Geflügelte Kanzlerworte im Rückblick

Blühende Landschaften, die wir schaffen!

Bundeskanzlerin Angela Merkel posiert mit einem Flüchtling in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Berlin für ein Selfie.
Das Foto von Angela Merkel und einem Flüchtling in Berlin ging um die Welt. Wie weitsichtig ihr Ruf "Wir schaffen das!" war, muss sich noch zeigen. © picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka
Von Hans Christoph Buch |
Angela Merkel könnte es ergehen wie ihren Vorgängern im Kanzleramt. Ob ihre Flüchtlingspolitik weitsichtig war, dürfte sich erst nach ihrer Zeit herausstellen, wie der Schriftsteller Hans Christoph Buch mit einer historischen Reise beweist.
Helmut Kohl ging in die Geschichte ein als Kanzler, dem mit Geld und guten Worten, sprich: geduldiger Diplomatie, die Wiedervereinigung des geteilten Deutschland gelang. Sein Verdienst wird nicht dadurch geschmälert, dass die blühenden Landschaften, von denen er allzu euphorisch sprach, noch immer auf sich warten lassen.
Trotzdem ist es beckmesserisch, dem Kanzler der Einheit immer wieder den rhetorischen Ausrutscher vorzuhalten, zu dem er sich im Rausch der Begeisterung hinreißen ließ.
Was blühende Landschaften für Helmut Kohl, war für Gerhard Schröder die Hartz-IV-Reform, die ihm nicht vom politischen Gegner, sondern von der eigenen Partei um die Ohren gehauen wurde. Dabei wiesen fast alle Analysten unisono darauf hin, dass ohne diesen schmerzhaften Einschnitt der Neustart der Wirtschaft nicht gelungen wäre, von dem die Bundesrepublik bis heute profitiert.

Rhetorische Ausrutscher rufen Kopfschütteln hervor

Anders steht es mit Schröders Behauptung, sein Freund Putin sei ein "lupenreiner Demokrat", die zu Recht Kopfschütteln hervorrief, ähnlich wie der Ruf Angela Merkels "Wir schaffen das!", der wie das Pfeifen im dunklen Wald die Angst vor unkalkulierbaren Folgen der neuzeitlichen Völkerwanderung übertönt.
Auch hier sind die Beobachter im In- und Ausland, allen voran die New York Times, sich einig, dass die Kanzlerin eine mutige, ja eine historische Entscheidung traf, die alles andere als populär oder gar populistisch war. Im Gegenteil: Die Öffnung der Grenzen für Kriegsflüchtlinge aus Syrien und anderswo widersprach der Mehrheitsmeinung des Volkes und dem Mainstream des konservativen Establishments.
Sie war und ist das Gegenteil jener Zögerlichkeit, jenes bedächtigen Abwägens und vorsichtigen Taktierens, das zu ihrem Markenzeichen geworden war, so als habe derzeit die Pfarrerstochter die Realpolitikerin verdrängt, vergleichbar dem plötzlichen Vorpreschen Barack Obamas in Fragen des Weltklimas, der Schusswaffenkontrolle und der Schließung von Guantánamo.

Weitsichtige Entscheidungen werden öffentlich abgestraft

Was passiert da? Handelt es sich um Zufall oder um Zwangsläufigkeit, um ein historisches Gesetz, dass Staatsfrauen und Staatsmänner von der öffentlichen Meinung abgestraft werden, sobald sie weitsichtige Entscheidungen treffen, ohne dass abzusehen ist, ob diese sich später als richtig erweisen?
Der Nato-Nachrüstungsbeschluss unter Helmut Schmidt Ende der Siebziger Jahre gehört ebenso hierher wie die Westbindung der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer in den fünfziger Jahren.
Politik ist das Bohren harter Bretter, und Politiker sind gut beraten, wenn sie nicht bloß die nächsten Wahlen, sondern die großen Linien im Auge behalten, einschließlich ihres eigenen Bilds in der Geschichte. Andererseits sollten sie die Ängste, Sorgen und Nöte der Wähler ernst nehmen, ohne deren Vorurteile und Ressentiments zu bedienen – die Quadratur des Kreises, ich weiß!
Doch auch Willy Brandts Ostpolitik war erst dann akzeptiert und unumkehrbar geworden, als die konservativen Parteien sie nicht mehr kritisierten, sondern übernahmen. Vielleicht geht es Angela Merkels Flüchtlingspolitik ja ähnlich – trotz der Fragen, die gerade jetzt noch zu beantworten sind.
Hans Christoph Buch lebt als Schriftsteller in Berlin. Seine Poetikvorlesung "Boat People – Literatur als Geisterschiff" erschien 2014 in der Frankfurter Verlagsanstalt.
Der Schriftsteller Hans Christoph Buch
Hans Christoph Buch© picture alliance / ZB / Marc Tirl
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