Selbstbespiegelung der Millennials
Innenschau und Selbstreflexion: Jeder ist sein eigener Therapeut geworden, kann im Handumdrehen die eigenen Gefühle benennen und deuten, Diagnosen aufstellen. © Getty Images / Boris SV
Die Ära der Gefühle
32:23 Minuten
Die 68er protestierten auch gegen ihre gefühlskalten Eltern. Heute artikulieren junge Menschen vor allem im urbanen Raum unentwegt ihre Gefühle, ihre Traumata. Soziologen sprechen vom neuen "therapeutischen Selbst". Dabei geht es auch um Achtsamkeit.
Wer sich im Internet bewegt, kommt an der neuen Sprache der Gefühligkeit nicht vorbei: aromantisch, lithromantisch, toxisch, Gaslighting, Manipulation, Triggerwarnung, Sidney Gish "Impostor Syndrome" …
Das Alltagsvokabular der Millennials und der jüngeren Generation Z ist prall gefüllt mit psychologischen Fachbegriffen: Mental Overload, Traumabonding, sapiosexuell. Soziologen sprechen deshalb auch vom neuen „therapeutischen Selbst“. Jeder ist sein eigener Therapeut geworden, kann im Handumdrehen die eigenen Gefühle benennen und deuten, Diagnosen aufstellen.
Das neue "therapeutische Selbst"
„Ach, du Scheiße, gleich ist es so weit, gleich fällt allen auf, dass ich überhaupt nichts kann. Was ist, wenn gleich alle sehen werden, dass ich überhaupt nicht moderieren kann. Warum habe ich überhaupt zugesagt, was mache ich überhaupt. Hilfe?! Für dieses Gefühl gibt es tatsächlich einen Namen: Hochstapler-Syndrom oder Impostor-Syndrom.“
Das ist ein Ausschnitt vom SWR-Format „Brust raus“. Ein Youtube-Kanal, der nach eigenen Angaben seine jungen Zuschauer „empowern will“.
Man muss auch an sich arbeiten
Das therapeutische Selbst und seine Sprache, woher kommt es? Für die Emotionssoziologin Elgen Sauerborn hängt es mit der Individualisierung zusammen. Weil der und die Einzelne weniger fremdbestimmt ist, kann er theoretisch das eigene Leben selbst beeinflussen. Dafür muss man aber auch an sich arbeiten.
„Und wenn man jetzt die Therapeutisierung als Teil dessen ansieht, führt das auch dazu, dass Gefühle auch immer mehr als etwas erscheinen, für das man selbst verantwortlich ist und das man sich auch in gewisser Hinsicht aussuchen kann.“
Sich singulär machen
Und dann verweist Sauerborn auf den Soziologen Andreas Reckwitz, der bei den Menschen in der Spätmoderne ein Streben nach Einzigartigkeit beobachtet hat.
„Durch eben dieses differenzierte Reden über die eigenen Gefühle macht man sich ja selbst automatisch auch etwas komplexer - und dadurch auch singulärer. Wenn wir alle nur mit wenig Gefühlsbegriffen über unsere eigenen Emotionen reden könnten, wäre das wahrscheinlich sehr gleichförmig, weil einfach die Voraussetzung für Distinktion fehlt.“
Die Angst vor den Ängsten
Jede Zeit bringt ihren eigenen Wortschatz hervor. Die Kulturwissenschaftlerin Tiffany Watt Smith stellte fest, dass es Ende des 19. Jahrhunderts plötzlich über 100 Begriffe für Ängste gab. Die Ära der Phobien nannte Watt Smith diese Zeit.
Thanatophobie, die Angst vor dem Tod, Triskaidekaphobie, die Angst vor der Zahl 13. Agoraphobie, die Angst vor öffentlichen Plätzen. Philosophen wie Georg Simmel und Walter Benjamin führten insbesondere die Platzangst auf das neue, rastlose Stadtbild zurück, das ein Gefühl der Entfremdung hervorrufen würde.
Yoga und Meditation als Gefühlspraktiken
Nun also die Ära der Gefühle, der Selbstbespiegelung und Achtsamkeit.
"Und deine Gedanken ziehen wie kleine Wolken an dir vorbei. Und du beobachtest alles aus sicherer Entfernung. Erlaube dir loszulassen, körperlich und emotional. Oft müssen alte Dinge gehen, um Platz für Neues zu schaffen. Schaffe dir die Freiräume, die du brauchst.", sagt Yoga-Lehrerin Mady Morrison.
Kritiker nennen die Achtsamkeitsbewegung völlig unpolitisch. Wobei: Emotionssoziologin Elgen Sauerborn untersucht derzeit die Umweltschutzbewegung „Extinction Rebellion“. Die Organisation übt mit ihren Aktivistinnen und Aktivisten Gefühlspraktiken wie Yoga und Meditation, um den Klimakummer zu besiegen. Extinction Rebellion gibt auch Handbücher raus.
"Tyrannei der Intimität"?
„Wo nur drin steht: Was mache ich mit meinen Gefühlen im Protest? Wie rede ich mit meinen Mitaktivistinnen über Gefühle? Welche Wörter kann ich dafür verwenden? Und sie hatten dann auch eigene Konzepte wie zum Beispiel Check-ins, wo man andere fragt, wie es ihnen gerade geht.“
Ist das eine „Tyrannei der Intimität“, die nur darauf abzielt, die Produktivität des Protests zu steigern? Auch das durchdenkt „Extinction Rebellion“ ganz selbstkritisch, sagt Sauerborn. Die Selbstreflexionsspirale dreht sich also weiter, Aussteigen ist nicht mehr vorgesehen.