Gefühle hinter dem Blick

In ihrem neuen Kinderbuch versammelt die holländische Illustratorin Ingrid Godon nostalgische Porträts von Menschen jeden Alters. Der Autor Toon Tellegen hat dazu kurze Texte geschrieben - so entstand ein faszinierendes Werk über die Ängste, Hoffnungen und Wünsche der Menschen.
"Bitte lächeln" heißt es normalerweise, kurz bevor der Auslöser gedrückt wird: Das Stichwort für alle Menschen vor dem Fotoapparat, den Bauch einzuziehen und möglichst hübsch in die Kamera zu blicken. Die Gesichter der holländischen Kinderbuchillustratorin Ingrid Godon haben mit solchen Porträtaufnahmen kaum etwas zu tun.

Ihre Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen blicken den Betrachter mit ernsten, ausdrucksstarken Mienen an. Die farbigen Kreidezeichnungen wirken wie Familienfotos aus der Anfangszeit der Fotografie, als die langen Belichtungszeiten nur stocksteife, eingefrorene Posen zuließen. Als man noch nicht "bitte lächeln" sagte und Fotografieren eine feierliche Angelegenheit war.

Ingrid Godon hat sich für ihre Zeichnungen von solchen alten, vergilbten Familienfotos inspirieren lassen; außerdem von der Porträtmalerei der italienischen Renaissance und dem Malstil der sogenannten "Flämischen Primitiven". Dabei haben alle ihre Zeichnungen etwas Irritierendes, denn die Porträtierten blicken den Betrachter unumwunden an: mit einem seltsam starren Blick, in dem man die tiefsten Ängste, Hoffnungen und Wünsche dieser Menschen zu entdecken glaubt.

Ein Blick, der an eine Beschreibung des französischen Philosophen Roland Barthes in seinem Buch "Die helle Kammer" erinnert, in der er über die Fotografie bemerkt: "Sobald ich nun das Objektiv gerichtet fühle, ist alles anders: ich nehme eine `posierende´ Haltung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich bereits im Voraus zum Bild." Der niederländische Autor Toon Tellegen hat für 33 dieser eingefrorenen Porträts kurze Texte geschrieben, in denen er seine Version der hinter dem Blick versteckten Gefühle in Worte fasst.

Fast jeder Text beginnt mit der Wendung "Ich wünschte", die diesem kunstvoll gestalteten Buch seinen Titel gibt. So wünscht sich Carl mit den blassblauen Augen und der strengen, grünen Krawatte um seinen jugendlichen Hals, dass Glück ein Gegenstand wäre, den er finden und mit nach Hause nehmen könnte: "Ich würde es verstecken und nur hervorholen, wenn ich sicher wäre, allein zu sein. Dann würde ich es polieren. Glück muss glänzen, auch im Verborgenen".

Die übergewichtige Emma mit den nachdenklichen, braunen Augen wünscht sich dagegen eine Entscheidung: "Ich habe eine Liste mit all den Bedingungen, die ich erfüllen muss, um mit mir selbst zufrieden zu sein. Wenn ich diese Liste lese, denke ich: Ich kann zwei Dinge tun: entweder eine Liste mit weniger Bedingungen anlegen oder niemals zufrieden mit mir sein. Was soll ich tun?"

Auf den ersten Blick wirkt der Band wie ein Kinderbuch - doch die melancholischen Gesichter werfen große und kleine Fragen auf, wie auch Erwachsene sie kennen: Es geht um die Angst vor dem Tod, die Suche nach Glück, den Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit.

Es sind die großen Themen des Lebens, die hier im sanften Gewand des Kinderbuchs leichtfüßig daherkommen. Die aufwendige Gestaltung mit halbdurchsichtigem Schutzumschlag und ebensolchen Seiten im Buch macht "Ich wünschte" zu einem außergewöhnlichen Geschenkbuch.

Besprochen von Tabea Grzeszyk

Toon Tellegen: Ich wünschte
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Mixtvision Verlag, München 2012
96 Seiten, 29,90 Euro


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