Josef Früchtl: "Demokratie der Gefühle. Ein ästhetisches Plädoyer"
Meiner Verlag, Hamburg 2021
183 Seiten, 22,90 Euro
Unverschämtheit als demokratische Tugend
36:31 Minuten
Führt zu viel Gefühl in der Politik zu Populismus? Nicht unbedingt, sagt der Philosoph Josef Früchtl. Er beobachtet, wie Kino und Rockmusik Emotionen formen und dabei Kräfte entfalten, die auch die Demokratie beleben können.
In Krisenzeiten ist ein kühler Kopf gefragt. Politisch Verantwortliche, die unaufgeregt und rational handeln, genießen dann besonders viel Vertrauen. Andererseits gewinnen Charaktere, die es verstehen, Menschen mitzureißen, sie in Wallung zu bringen oder zu polarisieren, oft schnell eine große Gefolgschaft. Populisten wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro konnten so ihren autoritären Politikstil demokratisch legitimieren.
Sind Gefühle also Gift für die Demokratie? Führt ein zu starker Einfluss von Emotionen in der Politik unweigerlich zu Populismus? Josef Früchtl, Professor für Philosophie der Kunst und Kultur an der Universität Amsterdam, widerspricht. Nach seiner Beobachtung ist das entscheidende Problem populistischer Bewegungen nicht ein Zuviel, sondern eine "Verknotung" von Gefühlen.
Dialog im Keim erstickt
Zum Beispiel sogenannte "Querdenker": Sie verliehen ihren politischen Forderungen zwar Nachdruck mit Gefühlen wie Angst, Wut oder Empörung, so Früchtl. Dies münde aber nicht etwa in eine politische Debatte – etwa über Kritik an der Impfpolitik der Bundesregierung –, in der diese Emotionen und damit verbundene Ansprüche aufgegriffen und zu den Gefühlslagen und Einschätzungen anderer Menschen ins Verhältnis gesetzt würden.
Stattdessen werde jeder Dialog im Keim erstickt durch eine starre Frontstellung, die derzeit auch den Bundestagswahlkampf präge: "Was wir beobachten können, ist, dass wir auf der einen Seite einen Block von leidenschaftsloser Politik haben, der auf der anderen Seite eine politikfeindliche Leidenschaft gegenübersteht."
Die Philosophin Hilge Landweer sieht diese Pattsituation dadurch gekennzeichnet, dass eine Gruppe von Menschen, die Hass verbreiten von einer zweiten Gruppe Verachtung erfährt – und so betrachtet wird, als sei sie bereits für jedes demokratische Miteinander verloren.
Ohne Gefühle keine Orientierung
Die Emotionen sogenannter "Wutbürger" auszuklammern und sich auf eine Position rationaler Nüchternheit zurückzuziehen, die moralisch vermeintlich überlegen ist, stellt nach Früchtls Verständnis jedoch keine politische Option dar. Ohne Gefühle, die auch öffentlich zum Ausdruck gebracht und ausgehandelt werden, wären wir orientierungslos, so der Philosoph: "Der Intellekt allein kann uns keine Orientierung geben."
Damit Emotionen in politische Prozesse produktiv hineinwirken können, komme es darauf an, dass sie ästhetisch gestaltet und transformiert werden. Diese These entwickelt Josef Früchtl in seinem Buch "Demokratie der Gefühle". Angelegt sei eine solche Transformation bereits im Schauspiel der griechischen Antike mit dem Prinzip der "Katharsis".
Wohin mit der Wut?
Ziel der kathartischen Erfahrung, die eine Theateraufführung befördern sollte, war nach dem Verständnis des Philosophen Aristoteles eine Reinigung der Gefühle, so Früchtl: "Reinigen heißt, wir halten die Substanz von Gefühlen fest, aber wir geben ihnen eine andere Form – eine Form, die von anderen akzeptierbar ist."
Auf diese Weise werde ermöglicht, dass auch destruktive Emotionen wie Wut und Aggression in einen Dialog eintreten und sich nicht ungebremst mit zerstörerischer Wucht entladen.
In dieser Transformation sieht Josef Früchtl die entscheidende Herausforderung für den politischen Umgang mit Gefühlen: "Wie gelingt es uns als einer demokratischen Gesellschaft, Gefühle, die für eine einzelne Gruppe legitim sind, in ihrer Formulierung so zu verändern, dass sie für oppositionelle Bewegungen immerhin akzeptabel sind als Position?"
Gefühle nicht ausschließen, sondern transformieren
Seit dem 20. Jahrhundert hätten vor allem das Kino und die Rockmusik die Rolle übernommen, heftigen Gefühlen eine Form zu geben, die ästhetisch genossen und gesellschaftlich reflektiert werden kann. Wie sie politischen Forderungen Ausdruck verleihen und eine entsprechende Wirkung entfalten können, das führe zum Beispiel die russische Gruppe "Pussy Riot" eindrucksvoll vor Augen.
"Popmusik, die benutzt wird für politisch-kulturellen Protest, übrigens auch in einem Akt der Unverschämtheit, der zeigt, in welchem Maße Unverschämtheit als demokratische Tugend fungiert: Unverschämte Akte werden nötig, wenn auf legaler Ebene kein Raum mehr ist", erklärt der Philosoph.
"Dann haben Sie, wenn Sie überzeugt sind von dem, was Sie meinen, eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten. Entweder Sie greifen zur puren Gewalt, oder Sie greifen zu Symbolen. Und die Rockmusik ist ein symbolisches Medium, in dem jemand – in diesem Fall eine kleine Gruppe von mutigen Frauen – eine politische Botschaft in die Welt hinaus strahlt."
An diese Art von künstlerisch-politischem Aktivismus knüpft Früchtl die Hoffnung, dass er emotional aufrütteln und Debatten in Gang bringen könnte, bei denen Gefühle nicht außen vor bleiben, sondern einen produktiven Streit befeuern – anstatt, wie so oft, nur Gräben zu vertiefen und ein Klima gegenseitiger Unterstellungen und Anfeindungen anzuheizen.
"Es ist grundlegend für die Demokratie, dass wir diese Gefühle nicht ausschließen können", sagt Josef Früchtl. Von "popkulturellen und ästhetischen Phänomenen" könnten wir seiner Ansicht nach am besten lernen, wie wir sie transformieren.
(fka)
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