Gefühlswirrwarr und Sozialkritik
Vor 200 Jahren wurde Charles Dickens geboren: der nach Shakespeare wohl wirkungsmächtigste englische Schriftsteller. Zum Jubiläum ist eine Box mit drei Hörspielbearbeitungen seiner berühmtesten Romane erschienen. Zehn Stunden Dickens zum Entdecken oder Wiederentdecken.
"Ich bitte noch um etwas Suppe, Sir"
"Was!???"
"Noch etwas Suppe, bitte!"
"Na, warte, dir werde ich es zeigen – 'noch etwas Suppe ... "
"Au, au ... "
"Holt sofort Mr. Bumble!"
"Meine Herren, Oliver Twist wollte mehr Suppe!"
"Mehr?" – "Mehr?"
"Mehr als seinen vorschriftsmäßigen Anteil?"
"Ja, Sir!"
"Der Bursche endet am Galgen! Denkt an mich, der Bursche endet am Galgen!"
"Sperren Sie ihn ein, Mr. Bumble!"
Kafka liebte Dickens. An solchen Stellen, bei denen der sozialkritische Realismus ins Surreale kippt, weiß man, warum. Das sehr gelungene Hörspiel "Oliver Twist" – Regie Sven Stricker – holt den Roman aus der Kinderbuchecke und begnügt sich bei der legendären "Mehr-Suppe"-Szene nicht mit realistischen Klangkulissen, sondern stellt das Albtraumhafte der Situation heraus.
Tiefschwarze Pädagogik ist immer ein guter Anfang – zumindest romantechnisch gesehen. Dickens ist der Epiker des frühmodernen, von den Exzessen der Industrialisierung gezeichneten London. Oliver entflieht dem Sargschreiner, der ihn als Arbeitssklaven aus dem Kinderheim geholt hat, und bricht auf in die Metropole, die das Hörspiel mit schauerromantischem Grusel vergegenwärtigt:
"Eine armseligere und schmutzigere Gegend hatte er noch nie gesehen. Die Gassen waren eng und voller Kot, die Luft mit ekelhaften Gerüchen erfüllt. Lediglich die Wirtshäuser, in denen sich die niedrigste Klasse der Irländer zankte, schienen in diesem Gifthauch zu gedeihen."
Bei Fagin, dem alten Hehler und skrupellosen Boss einer Bande von Kinderdieben, lernt Oliver das Handwerk des Klauens, und weitere dramatische Verwicklungen nehmen ihren Lauf. Wie Shakespeare hat Dickens unzählige starke Typen und skurrile Charaktere geschaffen, von denen viele, etwa der schmierige Streber Uriah Heep oder der Erzknauser Scrooge in die Populärkultur eingegangen sind.
Diese stark profilierten Charaktere sind Paraderollen für gute Hörspieler. Besonders beeindruckend der entlaufene Zuchthäusler Magwitch im späten Roman "Große Erwartungen", in Valerie Stiegeles Hörspiel dargestellt von Hans Helmut Dickow. In der Eingangsszene beweint der arme, kleine, verwaiste Pip auf dem Friedhof seine Eltern.
"Still! Lass das Heulen du kleiner Satan oder ich schneide dir die Gurgel ab!"
"Schneiden Sie mir nicht die Gurgel ab, Sir! Bitte tun Sie's nicht, Sir!"
Ein fürchterlicher Mann war zwischen den Gräbern aufgesprungen und hatte mich am Kragen gepackt. Er war ganz in groben grauen Stoff gekleidet, mit einem Eisenring am Fuß, durchnässt, mit Schlamm beschmutzt, von Dornen zerkratzt."
Der von einem Sträflingstransport geflohene Magwitch ist völlig ausgehungert. Zum Glück kann ihn Pip mit einem Stück Brot beschwichtigen:
""Was für dicke Backen du hast! Ich will gehenkt sein, wenn ich sie nicht glatt auffressen könnte!"
"Ach bitte, Sir, nicht! Nicht auffressen!"
"Nun heul doch nicht schon wieder, Junge!"
Unter schauerlichen Drohungen bringt Magwitch Pip dazu, ihm zu helfen.
Kein Dickens-Roman ohne rührende Enthüllungen, wundersame Zufälle und unerhörte Schicksalswendungen. Pip, der bei seiner Schwester in sehr bescheidenen Verhältnissen aufwächst, zieht eines Tages das große Los:
"Ich habe den Auftrag, Ihnen mitzuteilen, dass Sie in den Besitz eines größeren Vermögens kommen werden. Ferner dass der gegenwärtige Besitzer dieses Vermögens wünscht, Sie möchten sofort diesen Ort und diesen Lebenskreis verlassen, um in London wie ein Gentleman, das heißt: wie ein junger Mann mit großen Erwartungen erzogen zu werden ... "
"Ich? Ich soll ... ?"
"Des Weiteren habe ich Ihnen mitzuteilen, dass der Name Ihres großmütigen Wohltäters ein tiefes Geheimnis bleiben muss, bis jene Person selbst es für gut befindet, es Ihnen mitzuteilen."
In London kommt Pip gesellschaftlich und beruflich gut voran – bis eines Tages der unbekannte Wohltäter vor seiner Tür steht. Ein großer Moment des Hörspiels. Denn wider Erwarten ist es der schon fast vergessene Magwitch. In Australien ist er als Schafzüchter reich geworden. Seinen einstigen Retter hat er nie vergessen; als fernwirkender guter Geist wollte er einen Gentleman aus Pip formen. Der ist schockiert, und wie er angesichts des plötzlich aufgedrängten Gangster-Ersatzvaters, der immer noch von der Polizei gesucht wird, in ein Wechselbad der Gefühle und Thriller-hafte Verwicklungen gerät – das ist großes melodramatisches Hörkino, zu dessen Reiz die anschauliche, pointierte Sprache beiträgt.
So heißt es, wenn sich der gute Joe, Ehemann von Pips Schwester, fein macht für den Stadtbesuch:
"In seinen Arbeitskleidern war er ein wohlgewachsener, charakteristischer Schmied. In seinen Sonntagskleidern aber glich er eher einer Vogelscheuche aus guten Verhältnissen."
"Vogelscheuche aus guten Verhältnissen" – mit solch tollen Formulierungen macht Charles Dickens den Hörern zu seinem 200. Geburtstag ein Geschenk. Herzlichen Glückwunsch!
Besprochen von Wolfgang Schneider
Charles Dickens: Die große Hörspiel-Edition. Große Erwartungen, David Copperfield, Oliver Twist.
Der Hörverlag, München 2011
9 CDs, 595 Minuten, 29,99 Euro
Mehr zum Thema auf dradio.de:
Popliteratur aus dem 19. Jahrhundert - Dietmar Dath über den Schriftsteller Charles Dickens
"Was!???"
"Noch etwas Suppe, bitte!"
"Na, warte, dir werde ich es zeigen – 'noch etwas Suppe ... "
"Au, au ... "
"Holt sofort Mr. Bumble!"
"Meine Herren, Oliver Twist wollte mehr Suppe!"
"Mehr?" – "Mehr?"
"Mehr als seinen vorschriftsmäßigen Anteil?"
"Ja, Sir!"
"Der Bursche endet am Galgen! Denkt an mich, der Bursche endet am Galgen!"
"Sperren Sie ihn ein, Mr. Bumble!"
Kafka liebte Dickens. An solchen Stellen, bei denen der sozialkritische Realismus ins Surreale kippt, weiß man, warum. Das sehr gelungene Hörspiel "Oliver Twist" – Regie Sven Stricker – holt den Roman aus der Kinderbuchecke und begnügt sich bei der legendären "Mehr-Suppe"-Szene nicht mit realistischen Klangkulissen, sondern stellt das Albtraumhafte der Situation heraus.
Tiefschwarze Pädagogik ist immer ein guter Anfang – zumindest romantechnisch gesehen. Dickens ist der Epiker des frühmodernen, von den Exzessen der Industrialisierung gezeichneten London. Oliver entflieht dem Sargschreiner, der ihn als Arbeitssklaven aus dem Kinderheim geholt hat, und bricht auf in die Metropole, die das Hörspiel mit schauerromantischem Grusel vergegenwärtigt:
"Eine armseligere und schmutzigere Gegend hatte er noch nie gesehen. Die Gassen waren eng und voller Kot, die Luft mit ekelhaften Gerüchen erfüllt. Lediglich die Wirtshäuser, in denen sich die niedrigste Klasse der Irländer zankte, schienen in diesem Gifthauch zu gedeihen."
Bei Fagin, dem alten Hehler und skrupellosen Boss einer Bande von Kinderdieben, lernt Oliver das Handwerk des Klauens, und weitere dramatische Verwicklungen nehmen ihren Lauf. Wie Shakespeare hat Dickens unzählige starke Typen und skurrile Charaktere geschaffen, von denen viele, etwa der schmierige Streber Uriah Heep oder der Erzknauser Scrooge in die Populärkultur eingegangen sind.
Diese stark profilierten Charaktere sind Paraderollen für gute Hörspieler. Besonders beeindruckend der entlaufene Zuchthäusler Magwitch im späten Roman "Große Erwartungen", in Valerie Stiegeles Hörspiel dargestellt von Hans Helmut Dickow. In der Eingangsszene beweint der arme, kleine, verwaiste Pip auf dem Friedhof seine Eltern.
"Still! Lass das Heulen du kleiner Satan oder ich schneide dir die Gurgel ab!"
"Schneiden Sie mir nicht die Gurgel ab, Sir! Bitte tun Sie's nicht, Sir!"
Ein fürchterlicher Mann war zwischen den Gräbern aufgesprungen und hatte mich am Kragen gepackt. Er war ganz in groben grauen Stoff gekleidet, mit einem Eisenring am Fuß, durchnässt, mit Schlamm beschmutzt, von Dornen zerkratzt."
Der von einem Sträflingstransport geflohene Magwitch ist völlig ausgehungert. Zum Glück kann ihn Pip mit einem Stück Brot beschwichtigen:
""Was für dicke Backen du hast! Ich will gehenkt sein, wenn ich sie nicht glatt auffressen könnte!"
"Ach bitte, Sir, nicht! Nicht auffressen!"
"Nun heul doch nicht schon wieder, Junge!"
Unter schauerlichen Drohungen bringt Magwitch Pip dazu, ihm zu helfen.
Kein Dickens-Roman ohne rührende Enthüllungen, wundersame Zufälle und unerhörte Schicksalswendungen. Pip, der bei seiner Schwester in sehr bescheidenen Verhältnissen aufwächst, zieht eines Tages das große Los:
"Ich habe den Auftrag, Ihnen mitzuteilen, dass Sie in den Besitz eines größeren Vermögens kommen werden. Ferner dass der gegenwärtige Besitzer dieses Vermögens wünscht, Sie möchten sofort diesen Ort und diesen Lebenskreis verlassen, um in London wie ein Gentleman, das heißt: wie ein junger Mann mit großen Erwartungen erzogen zu werden ... "
"Ich? Ich soll ... ?"
"Des Weiteren habe ich Ihnen mitzuteilen, dass der Name Ihres großmütigen Wohltäters ein tiefes Geheimnis bleiben muss, bis jene Person selbst es für gut befindet, es Ihnen mitzuteilen."
In London kommt Pip gesellschaftlich und beruflich gut voran – bis eines Tages der unbekannte Wohltäter vor seiner Tür steht. Ein großer Moment des Hörspiels. Denn wider Erwarten ist es der schon fast vergessene Magwitch. In Australien ist er als Schafzüchter reich geworden. Seinen einstigen Retter hat er nie vergessen; als fernwirkender guter Geist wollte er einen Gentleman aus Pip formen. Der ist schockiert, und wie er angesichts des plötzlich aufgedrängten Gangster-Ersatzvaters, der immer noch von der Polizei gesucht wird, in ein Wechselbad der Gefühle und Thriller-hafte Verwicklungen gerät – das ist großes melodramatisches Hörkino, zu dessen Reiz die anschauliche, pointierte Sprache beiträgt.
So heißt es, wenn sich der gute Joe, Ehemann von Pips Schwester, fein macht für den Stadtbesuch:
"In seinen Arbeitskleidern war er ein wohlgewachsener, charakteristischer Schmied. In seinen Sonntagskleidern aber glich er eher einer Vogelscheuche aus guten Verhältnissen."
"Vogelscheuche aus guten Verhältnissen" – mit solch tollen Formulierungen macht Charles Dickens den Hörern zu seinem 200. Geburtstag ein Geschenk. Herzlichen Glückwunsch!
Besprochen von Wolfgang Schneider
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