Impfskepsis und Individualismus

Gegen die Macht der Menge

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Illustration einer Menschenmenge mit drei Personen in der Mitte auf weißem Hintergrund.
Die Rechte des Individuums zu schützen sei keineswegs Egoismus, meint Arnd Pollmann – der und die Einzelne müsse vor der Macht der politisch organisierten Menge geschützt werden. © getty images
Von Arnd Pollmann · 28.11.2021
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Impfunwillige sollten ihre Behandlung selbst bezahlen, so fordern manche – oder gar ganz darauf verzichten. Doch so berechtigt die Kritik am Egoismus, so inhuman ist es, liberale Grundprinzipien preiszugeben, meint Arnd Pollmann.
In Krisenzeiten kommt es oft zu einem Rückstau an Stress, Angst und Wut. Dann wird ein „Sündenbock“ gesucht, auf den man diesen Frust gemeinsam abladen kann, um ihn anschließend in die sprichwörtliche Wüste zu schicken. Schon das Alte Testament empfiehlt diese kollektive Entspannungsübung, und sie wirkt auch heute: Die mental instabile Corona-Gesellschaft geißelt eine schuldige Minderheit, die sie symbolisch ausschließt und bald wohl auch handfest per Triage aussortiert. Mobartig wird Stimmung gegen Impfunwillige gemacht, die mit ihrem trotzigen Egoismus, ihrer selbstsüchtigen Freiheit alle anderen bloß „tyrannisieren“.
Im kollektivistischen Überschwang
Seit jeher sollen diese Schuld-Projektionen von den ursprünglichen Sündern ablenken; zum Beispiel von regierungsamtlichen Unterlassungssünden. Vor allem aber ist der als „Solidarität“ getarnte Furor ein riskanter Kollektivismus. Die derzeitige Kritik am Egoismus ist oft berechtigt. Manche Sicherung scheint durchgeknallt. Egoistisch ist, wer nur die eigenen Interessen sieht und diese auf dem Rücken anderer zu verwirklichen trachtet. Einen „positiven“ Begriff von Egoismus kann es nicht geben; trotz gegenteiliger Euphorie des Neoliberalismus, der im Grunde soziopathisch ist. Doch derzeit kippt die anti-egoistische Kritik in ein anderes Extrem. Im kollektivistischen Überschwang kommt selbst noch der liberale Kerngedanke unter die Räder, und zwar der moderne „Individualismus“.
Arnd Pollmann schaut freundlich in die Kamera.
Die Kritik am Egoismus Impfunwilliger droht, den Individualismus gleich mit zu verdammen, meint Arnd Pollmann. Das Pochen auf Grundrechte aber sei keineswegs egoistisch.© privat
Dieser Individualismus ist ein Versprechen, eine Errungenschaft der Moderne. Es geht um die Befreiung aus kollektiven Zwängen traditioneller Weltbilder, um Selbstbestimmung, Pluralität, um die Freiwilligkeit sozialer Bindungen. Und auch um subjektive Rechte, die das Individuum selbst noch gegenüber jenem Kollektiv hat, das ihm diese Rechte gewährt. Sicher, mit diesem Versprechen geht stets auch die Gefahr einseitigen Anspruchsdenkens einher. Aber diese Gefahr ist eine ungesunde Schlagseite der Individualität, nicht deren ureigenster Wesenszug.
Der Vorrang des Individuums
Genau das verwechseln diejenigen, die den Protest impfunwilliger Sündenböcke als rücksichtsloses „Freiheitsgesäusel“ verwöhnter Individualisten abtun. Das Pochen auf Grundrechte ist keineswegs egoistisch. Die Grundrechte schützen das Individuum, ja. Das Individuum muss gegen die Übermacht der politisch organisierten Menge verteidigt werden. Genau das ist der historische Sinn von Grundrechten.
Aber das Individuum wird eben auch in seinen sozialen Verbindlichkeiten geschützt; etwa durch die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Schutz von Ehe und Familie oder Rechte auf politische und soziale Teilhabe. Das liberale Kollektiv hingegen hat keine Rechte. Und schon gar nicht solche, die wichtiger wären. Wer das bedauert, liebäugelt eher mit dem Freiheitsideal Nordkoreas.
Gemeinsame Rechte
Nur damit kein Missverständnis aufkommt: Selbstredend müssen Grundrechte gelegentlich eingeschränkt werden. Vielleicht auch durch die Ultima Ratio einer Impfpflicht. Aber es sind immer nur andere Individuen, zu deren Gunsten man diese Rechte einschränken darf. Wer hingegen propagiert, das Individuum müsse sich der Gemeinschaft, dem Korpsgeist der Impfwilligen, dem „Krieg gegen das Virus“ oder der „Volksgesundheit“ unterordnen, und zwar folgsam, schickt mit dem Sündenbock gleich auch das moderne Individuum in die Wüste. Bliebe da öffentlicher Lärm aus – es wäre einer liberalen Demokratie unwürdig.
Und noch in einem zweiten Sinn ist das Pochen auf Grundfreiheiten gerade nicht egoistisch: Wer für das eigene individuelle Recht kämpft, kämpft für das Recht im Singular. Auch wenn damit all den Kreuzrittern der Impfsolidarität ein Sündenbock abhandenkommt: Wer grundlegende Freiheiten verteidigt, verteidigt am Ende auch die Grundrechte jener, die den Impfunwilligen diese Rechte am liebsten aberkennen würden.

Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Onlinemagazins Slippery Slopes.

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