Gute Literatur lässt sich nicht einschränken
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Neue Bücher werden oft danach beurteilt, ob das Thema zu heutigen Debatten passt. Steht der Autor oder die Autorin auch auf der richtigen Seite? Frank Meyer gehen solche Fragen gegen den Strich, er fordert einen anderen Umgang mit Literatur.
Es ist merkwürdig: Ich habe diesen Traumjob als Moderator einer Büchersendung und bin in der letzten Zeit trotzdem oft traurig oder müde oder aufgebracht. Das liegt weniger an den Büchern, mit denen ich es zu tun bekomme, sondern am gegenwärtigen Umgang mit Literatur, an den Fragen, die gerade zuerst und vor allem gestellt werden.
Abgleich mit Twitter
Zum Beispiel: Ist das Thema dieses Romans anschlussfähig an die heutigen Debatten? Wo steht die Autorin in diesen Debatten? Steht sie auf der richtigen Seite? Und: Wo gehört der Autor identitätsmäßig hin? Alt oder jung, weiblich oder männlich, weiß oder schwarz, queer oder hetero?
Das kann man so machen, aber wenn man Romane zuerst abgleicht mit dem, was bei Twitter und in den Zeitungen diskutiert wird, dann bleibt da eben auch sehr vieles - und vielleicht das Wichtigste - auf der Strecke.
So ein didaktischer und parteilicher Umgang mit Literatur - der regt mich wahrscheinlich so auf, weil ich biografisch vorbelastet bin.
Kurz zur Erklärung, wie das losging mit mir und der Literatur: Mit 15, 16 lebe ich in einer Arbeiterfamilie in der DDR und komme an die ersten richtigen Bücher, von Ingeborg Bachmann und James Baldwin, Franz Fühmann und Brigitte Reimann, Simone de Beauvoir, Hermann Melville und so weiter.
Metaphysik, Abenteuer, Glanz und Dreck
Was da alles drinsteckt! Trauer und Sex, Metaphysik, Abenteuer, Glanz und Dreck, die Freiheit des Erzählens!
Eine Welt, viele Welten! Mich hat das rausgesprengt, aus meinem Herkunftsmilieu und aus meinem kleinen Land.
Die Kulturpolitik der DDR hatte sich das ganz anders vorgestellt: Literatur sollte die Menschen erziehen zu sozialen Wesen und sie gewinnen für die gute Sache des Sozialismus.
Dass GUTE Literatur sich nicht einschränken lässt von solchen politischen Einhegungen, das ist eine Grunderfahrung meines Lebens.
Und außerdem: Dass ich mit dem Lesen, mit dem Erfahren anderer Welten selbst ein anderer werden kann, dass ich nicht eingesperrt bleiben muss in meiner zufälligen Identität.
Wenn heute vor allem gefragt wird, ob sich ein Buch auch einsetzt für die richtige Sache, dann erinnert mich das ungut an meine Erfahrungen in der DDR.
Im politischen Raum verhandelt eine Gesellschaft ihr Zusammenleben. Die Literatur nimmt auch andere Dimensionen in den Blick, den einzelnen Menschen, der einsam ist oder verliebt, berauscht und suchend und sehnsüchtig.
James Baldwin hat 1955 geschrieben: "Die Realität des Menschen als soziales Wesen ist nicht seine einzige Realität, und der Künstler wird erwürgt, wenn er gezwungen ist, sich mit den Menschen ausschließlich in sozialen Begriffen zu beschäftigen."
Historische Ironie
Die Bücher von James Baldwin zum Beispiel erzählen von Menschen, die eben mehr sind als nur soziale Wesen. Seine Romane haben mich bestärkt und imprägniert gegen das reduzierte Menschenbild im Sozialismus. So eine Bestärkung können wir heute auch ganz gut vertragen gegen ökonomistische oder identitätspolitische Beschneidungen.
Eine historische Ironie tröstet mich gerade: Um 1968 herum war die bundesdeutsche Literatur auch schwer politisiert, so sehr, dass der "Tod der Literatur" ausgerufen wurde.
Kurz danach, in den 1970ern, begann dann aber die Phase der "Neuen Subjektivität", die Bücher haben dann erzählt davon, was im Rausch der Politisierung alles zu kurz gekommen war. Das lässt doch hoffen!